Skizzen-Blog

April, April

Die Ampel-Regierung will, dass Unpünktlichkeit in Schulen nicht mehr geahndet wird und plant laut „Cicero“ ein erstes Ergänzungsgesetz zum neuen Selbstbestimmungsgesetz. Nach der Ermöglichung der freien Wahl des Geschlechtes sollen künftig auch weitere gesellschaftliche Normen zur Disposition stehen, um die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern. Durch das neue Zeitfreiheitsgesetz sollen vor allem Kinder und Jugendliche vom Stressfaktor Pünktlichkeit entlastet werden. Der Popanz um die Zeit sei unnötig. „Wir haben mit der Sekundärtugend der Pünktlichkeit ein falsches Ideal propagiert“, heißt es in dem Gesetzentwurf, das der „Cicero“-Redaktion angeblich vorliegt. 

Chapeau, der Aprilscherz-Coup des Magazins ist gelungen! Auch ich habe eine Weile gebraucht, ehe mir der zufällige Blick aufs Datum die Augen öffnete. Aber mal ehrlich: Zuzutrauen wäre es der Ampel, nach den neuen Freiheiten bei der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und dem Cannabis-Konsum mal eben im Handstreich mit einem „Gute-Zeiten-Gesetz“ aus der Tugend Pünktlichkeit eine Untugend zu machen. Wer hält den in jedem Fall eine Stellungnahme der Grünen für unrealistisch, in der es heißt: „Zeit ist etwas Individuelles, wir dürfen nicht zu Sklaven unserer Uhren werden.“ Selbst die Reaktion aus dem anderen politischen Lager spielt sich vor dem geistigen Auge ab: Da echauffiert sich Friedrich Merz in bekannter Manier mit: „Nur weil die kleinen Paschas nach dem Fastenbrechen ausschlafen müssen“.

Gut gemacht, liebe Kollegen. Noch ist es ein Aprilscherz, aber man kann ja nie wissen…

Frank Pröse

Hessen-SPD stolpert ins Bündnis

Die neue schwarz-rote Regierung von Boris Rhein steht. Steht sie auch stabil? Die Frage ist durchaus berechtigt. Die Konstituierung des Landtags folgte im Rahmen der dem Anlass angemessenen Selbstdisziplinierung zwar noch dem CDU-Wahlslogan „Kurs statt Chaos“. Doch dürfte der bei der Verteilung der Ministerämter in der SPD bis in die Fraktion hinein ausgebrochene Machtkampf nicht nur beim Koalitionspartnetr CDU dämpfend auf die Erwartungen an die Stabilität der Regierung mit SPD-Beteiligung gewirkt haben. Nach dem vermasselten Start bei den Sozialdemokraten und einigen unbeglichen gebliebenen Rechnungen ist es nicht ausgeschlossen, dass sich Boris Rhein und seine CDU schon bald nach dem alten Zeiten des geräuschlosen Regierens von Schwarz-Grün sehnen werden. „Noch nicht mal im Amt, aber schon in der Krise“, legten die von Rhein ausgebooteten Grünen als ausgebooteter Ex-Partner den Finger denn auch gerne in diese Wunde. 

Die SPD in Hessen hat abgewirtschaftet, liegt am Boden. Wer gedacht hatte, mit dem Tritt der Wähler in die Hintern einer selbstgefällig, bräsig ohne Programm und ohne personelle Alternative agierenden Wahlkampftruppe sei der Tiefpunkt für die Sozialdemokraten in der Mitte Deutschlands erreicht, den hat die Partei ohne Probleme eines Besseren belehren können. Dabei waren die Vorzeichen für einen Aufschwung doch überraschend gut, nachdem Ministerpräsident Boris Rhein zur Verblüffung aller die Wahlverlierer als künftige Bündnispartner auserkoren hatte. Die in 25 Jahren Opposition ausgehungerte SPD hatte dann aber massive Probleme mit der Besetzung der wenigen Posten, die ihr vom Wahlsieger zugestanden wurden. 

Das Geschacher mit verheerender Außenwirkung lässt sich wie folgt zusammenfassen:  Die Parteichefin Nancy Faeser hat keinen Einfluss mehr. Also streiten sich die nachfolgenden Gliederungen nach alter Sitte um geografischen Proporz, Frauenquote, Beteiligung der Fraktion und Versorgung altgedienter, aber wenig erfolgreicher Führungspersönlichkeiten. Zu allem Überfluss will das linke (Mehrheits-) Lager endlich mal den Kopf rausstrecken, scheitert bei der Besetzung der Fraktionsspitze aber an illoyalen Parteifreunden. 

Die haben sich ihr Vorgehen vielleicht von ihrer Parteivorsitzenden abgeschaut. Auf öffentlicher Bühne empfahl sie der Faktion trotz Kenntnis der dortigen Mehrheitsverhältnisse, den Vorsitzenden Günther Rudolph im Amt zu bestätigen. Mit dem eher lustlos vorgetragenen Appell allein hatte der keine Chance. Als Chefin hätte Nancy Faeser die Wahl Rudolphs sicherstellen müssen, wenn Sie denn von der Personalie überzeugt war. Ob die Vorsitzende hinterhältig vorging oder schon nicht mehr die Personalkompetenz in ihrem Amt vereinigte, ist jetzt nicht mehr von Belang. Faeser ist Geschichte. Und die nicht nur nach Umfragen am Boden liegende SPD-Hessen wird das gleiche Schicksal ereilen, wenn sie nicht lernt, eine in den Schoß gefallene Chance strategisch klug zu nutzen, wo doch die Union darauf hofft, dass die CDU/SPD-Koalition in Wiesbaden ein Modell für den Bund hergibt. Zweifel an der Lernfähigkeit der hessischen Sozialdemokraten sind erlaubt…

Frank Pröse

Faeser hat SPD nicht im Griff

Günther Rudolph hat eine kluge Entscheidung getroffen. Er ist nicht zur Wahl zum Vorsitz der hessischen SPD-Fraktion angetreten, weil ihm als Amtsinhaber seine geringen Chancen gewahr wurden, nachdem ihn Tobias Eckert und Lisa Gnadl herausforderten. Letztlich hat sich Tobias Eckert knapp mit zwölf zu elf Stimmen gegen Lisa Gnadl durchgesetzt. Bemerkenswert an dem Vorgang ist, dass die Landesvorsitzende Nancy Faeser bei der Vorstellung des neuen hessischen Kabinetts ihrer Fraktion empfohlen hatte, Günther Rudolph im Amt des Fraktionsvorsitzenden zu bestätigen, da er einen wesentlichen Beitrag zum Zustandekommen der neuen schwarz-roten Koalition in Hessen geliefert habe. 

Rudolph liefert, Faeser nicht. Sie musste doch wissen, dass nach Informationen von „bloghaus.eu“ Lisa Gnadl und in Folge auch Tobias Eckert in jedem Fall als Kandidaten für den Fraktionsvorsitz antreten würden. Damit war klar, dass Rudolph eher geringe Chancen hatte, erneut als Fraktionsvorsitzender gewählt zu werden. Er hat daraus mit seinem Verzicht auf eine Kandidatur auch die richtigen Schlüsse gezogen. 

All dies zeigt, dass die hessische SPD offenbar kein Wertesystem mehr hat. Solidarität, Anstand und Haltung spielen offenbar keine Rolle mehr; es geht ausschließlich um Macht. Bereits der Umgang mit der Personalie Marius Weiß, der wegen Urkundenfälschung vom Amtsgericht in Wiesbaden zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, trotzdem einen sicheren Listenplatz erhielt und damit erneut über die Liste in den hessischen Landtag einziehen konnte, zeigt, wie weit sich die Partei von ihren Werten entfernt hat. Offenbar geht es in der hessischen SPD im Moment „drunter und drüber“, die Landesvorsitzende scheint die Partei nicht mehr im Griff zu haben.

Gerhard Albrecht

Der Kaiser und der Schwabe

Der „Kaiser“ ist tot, Fußball-Deutschland ist jetzt wieder eine Republik. So viel Sarkasmus ist wohl angebracht angesichts des Umgangs der Medien mit zwei prominenten Todesfällen in den vergangenen Tagen. Hier der Hype um den Fußballer Franz Beckenbauer, ein zur „Lichtgestalt“ erhobenes Talent einer Unterhaltungsbranche, dem der FC Bayern in der Allianz-Arena einen würdevolle Abschiedsfeier organisiert. Dort die doch eher nüchterne Befassung mit dem Staatsmann und gefühlt ewigen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Schäuble, einem „schwäbischen Arbeiter im Maschinenraum der Macht“ („Die Zeit“), nicht zuletzt einem tragischen Helden im üblichen politischen Ränkespiel, für den ein Staatsakt in Berlin ausgerichtet wird. 

Beide prominenten Toten prägten das Land nachhaltig, jeder auf seine Art sogar identitätsstiftend. Beckenbauer als Weltmeistertrainer und Macher des „Sommermärchens“ sowie eloquenter Botschafter Deutschlands, Schäuble als Mitautor der Einigungsverträge und als Innen-, Finanzminister sowie Bundestagspräsident. Beide leisteten sich in ihren arbeitsamen Leben natürlich auch Fehlschläge.Sogar Korruptionsvorwürfe tauchen in beiden Lebensläufen auf:  Bei Schäuble im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre. Bei Beckenbauer in Zusammenhang mit der WM 2006. 

Im Balltreter-Umfeld von Beckenbauer war mehr Glamour, das prägte den Jungen aus Giesing, dem zudem das Glück über viele, viele Jahre hold sein sollte. Das Extravagente, das Idol, der Held lassen sich medial besser „verkaufen“ als die Kernerarbeit eines hochintelligenten und zugleich etwas muffelig auftretenden Schwaben. Das gilt sicher für die Begleitung der jeweiligen Karrieren, aber doch nicht für die Nachrufe, die sich abseits des Entertainments in gebotenem Abstand mit den Lebensleistungen beschäftigen sollten. Und da wurde und wird medial nicht so viel Bohei um Schäuble gemacht wie um den Franz, der als medial gekröntes Haupt in der Sonderberichterstattung schon beinahe in Queen-Kategorien vorstößt.

Ex-Nationaltorwart Sepp Maier hat mal gesagt: „Wenn der Franz aus dem Fenster springt, fällt er nach oben.“ Ja, wenn das so ist, kann man ihn ja im Münchener Stadion heiligsprechen. Schaun mer mal, dann sehn mer scho. Dann ist´s aber auch gut…

Gerhard Albrecht

Impuls für den sozialen Frieden

Arbeitsminister Hubertus Heil hat mit seinem Vorstoß zu einem härteren Vorgehen gegen „Totalverweigerer“ eine neue Debatte um die Spielregeln im Sozialstaat ausgelöst. Sein Gesetzentwurf sieht vor, dass Beziehern von Bürgergeld, die sich „willentlich weigern, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“ die Regelleistungen für zwei Monate ganz gestrichen werden. Eine längst überfällige Korrektur des mit dem Bürgergeldgesetz seit Anfang 2023 eingeschlagenen Kuschelkurses, der das „Fordern“ ganz in den Hintergrund gerückt hat, sagen die einen. Populistische Symbolpolitik, die Bürgergeldbezieher unter den Pauschalverdacht der Arbeitsscheu und sozialen Trittbrettfahrerei stellt, so die Kritiker von Heils Initiative.

Es ist unverkennbar, dass Heil bei dieser Sache Getriebener und kein Gestalter ist. Er muss seinen Beitrag zu Haushaltskonsolidierung leisten. Gleichzeitig schaukelte sich in der Öffentlichkeit der Unmut über allzu großzügige Sozialleistungen hoch, die zum sehr großen Teil Immigranten zu Gute kommen und vermutlich einen gewissen „Pull-Faktor“ in den aktuellen Migrationswellen darstellen. Zudem hat man festgestellt, dass ukrainische Flüchtlinge sich in den meisten europäischen Ländern recht gut und schnell in den Arbeitsmarkt integriert hätten, weil sie motiviert und in großen Teilen auch gut qualifiziert sind. Nur in Deutschland dümpelt der Anteil der Flüchtlinge in Arbeit noch immer bei 19 Prozent. Auch das lastet man dem laschen Regime des Bürgergeldes an. 

Kaum Anfang 2023 mit großem Aplomb als „Unser Schritt nach vorn“ installiert, geriet das Bürgergeld zusehends in Verruf. Politisch war der Wechsel von „Hartz 4“ zum Bürgergeld ja ganz bewusst verbunden auch mit einer Abkehr von dem als hart empfundenen System des Förderns und Forderns mit der Anforderung an Leistungsberechtigte jede, evtl. auch gering entlohnte, Arbeit anzunehmen, um die eigene Notlage zu überwinden. Der Wechsel war zugleich eine Hinwendung zu der Idee des partnerschaftlichen Problemlösens zwischen Verwaltung und Klienten „auf Augenhöhe“ statt mit paternalistischen Vorgaben. Sanktionen sollten zurückgedrängt werden. Es gibt sie zwar auch im Bürgergeld, nun als „Leistungsminderungen“ bezeichnet. Aber sie sind gegenüber vorher deutlich abgeschwächt und mit höheren verfahrensmäßigen Auflagen für die Verwaltung verbunden, was auch dazu beiträgt, dass sie seltener verhängt werden. 

Zugegeben, ein großer Teil der Abschwächung des Sanktionsregimes ist nur die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts von Ende 2019, in dem die seitherigen Sanktionsregelungen teilweise als nicht verfassungskonform abgelehnt worden waren. Aber die Auflagen des Verfassungsgerichts fügten sich hier durchaus in den politischen Willen vor allem von Grünen und SPD-Linken, eine Grundsicherung zu schaffen, die den Einzelnen weniger und den Staat mehr in die Pflicht nimmt. Gleich zu Beginn der Ampel-Koalition hatte man deshalb bis zum Beginn des im Koalitionsvertrag vereinbarten Bürgergeldes ein „Sanktionsmoratorium“ vereinbart, das, in Verlängerung einer Aussetzung von Sanktionen während der Corona-Pandemie, fast alle im Gesetz in der damaligen Fassung vorgesehenen Sanktionen aussetzte, bis das Bürgergeldgesetz dann Anfang 2023 in Kraft trat. 

Dabei waren Sanktionen auch im alten Hartz-4-System, anders als in der Öffentlichkeit oft unterstellt, keineswegs ein Massenphänomen. Mehr als vier bis fünf Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten waren nie von Sanktionen betroffen. Darunter waren es in der Mehrheit kleine Sanktionen wegen Terminversäumnissen, bei denen zehn Prozent des Regelsatzes für ein paar Wochen gestrichen worden waren. 

Dennoch hatten Sanktionen Wirkung im Arbeitsmarkt. Die Arbeitsmarktforschung hat in mehreren Studien zeigen können, dass Sanktionen die Chance auf Integration in Arbeit erhöhen. Schon die Tatsache, dass es Sanktionen gibt, beeinflusst das Verhalten positiv, so die Befunde der Wissenschaftler. Enzo Weber, Forscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hat sich nun das für ein halbes Jahr von Mitte 2022 bis Anfang 2023 geltende Sanktionsmoratorium als eine Art Realexperiment für das Funktionieren einer Grundsicherung ohne Sanktionen vorgenommen. Er kommt zum Ergebnis, dass das Aussetzen der Sanktionen die Jobchancen der Arbeitsuchenden um sieben Prozent gemindert hat. Also auch hier eine klare Bestätigung für die These, dass es ohne „Fordern“ auch mit dem „Fördern“ nicht so recht weitergeht.

Mit seinem aktuellen Gesetzesentwurf greift Heil auf ein Hintertürchen zurück, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. November 2019 unter der Randnummer 209 eingebaut hatte. Nachdem das Gericht zunächst sehr ausführlich darlegt, dass Kürzungen des Existenzminimums nur bis maximal 30 Prozent des Regelsatzes der Leistungen und nur unter Anstrengung sehr strenger Maßstäbe zulässig seien, wird darauf hingewiesen, dass es sich anders verhalte, wenn Leistungsberechtigte es selbst in der Hand hätten, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Werde eine tatsächlich verfügbare Möglichkeit der Existenzsicherung durch eigene Arbeit ausgeschlagen, könne auch der gesamte Regelsatz gestrichen werden. 

Arbeitsminister Heil setzt genau hier an und will damit wieder ein wenig „Fordern“ in das System zurückbringen. Vor allem aber geht es ihm um den Haushalt. Da will er durch die neue Regelung 170 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Bei einem Regelsatz von 563 Euro pro Monat im Jahr 2024 kann man leicht errechnen, dass es über 150 Tausend Kürzungsfälle pro Jahr brauchte, um dieses Sparziel zu erreichen. Wenn man bedenkt, dass es im ganzen Jahr 2023 bis August insgesamt nur rund 147 Tausend Kürzungsfälle gab, erscheint das Einsparziel von Heil denkbar unrealistisch, ganz abgesehen von der Frage, ob es überhaupt in einem nennenswerten Umfang gelingt, die neue Totalsperrung der Leistungen gerichtsfest umzusetzen. Eine Statistik der „Totalverweigerer“ gibt es nicht. Heil selbst sagt, dass es sich um eine kleine Minderheit handele. 

Zweifel sind also berechtigt, wenn es um die quantitativen und fiskalischen Wirkungen der neuen Regelung geht. Grundsätzlich aber ist die Initiative von Heil ein wichtiger Impuls, um der eingeschlafenen Debatte um den aktivierenden Sozialstaat, um eine neue Balance von Fördern und Fordern, um eine Neujustierung der Rechte und Pflichten wieder etwas Leben zu verleihen. 

Ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte heute in der Bevölkerung noch weniger Rückhalt in der Bevölkerung als in Zeiten, wo ein scheinbar nicht endendes Wachstum immer neue Umverteilungsspielräume zu eröffnen schien. Das Niveau der Grundsicherung war schon vor der Einführung des Bürgergeldes eines der höchsten unter den OECD-Ländern. Aktuelle Vergleichszahlen gibt es noch nicht. Aber es steht zu vermuten, dass das deutsche System inzwischen an die Spitze vorgerückt ist. Das kann man durchaus positiv sehen, zeigt es doch zum einen die Stärke der deutschen Wirtschaft, die ein solches System finanziert, zum anderen den hohen Grad von gesellschaftlichem Zusammenhalt, der sich in der damit verbundenen Umverteilung zugunsten der Schutzbedürftigen ausdrückt. 

Man sollte sich aber klar sein, dass die Akzeptanz eines solchen Solidarsystems in der Bevölkerung nur dann gegeben ist, wenn es das Gefühl gibt, dass es nicht ausgenutzt wird, dass nur wirklich Bedürftige Leistungen erhalten, dass es glaubhafte Anstrengungen zur Überwindung ihrer Notlage bei den Betroffenen gibt. Außerdem sollte vermittelt werden, dass der Staat auch Mittel einsetzt, die entsprechende Haltung auch durchzusetzen, dass es also eine gewisse Reziprozität von Leistung und Gegenleistung gibt. Der niederländische Sozialforscher Wim van Oorschot hat sich ein ganzes Forscherleben lang mit der Frage der Akzeptanz von Sozialleistungen in der Gesellschaft befasst. Er fügte als Ergebnis seiner Studien in verschiedenen Ländern zu den genannten Kriterien ein weiteres hinzu: Es muss in der Bevölkerung auch das Gefühl geben, dass die Begünstigten in irgendeiner Weise als zum eigenen Referenzsystem gehörig angesehen werden, also „einer von uns“ ist. 

In einer immer vielfältigeren und zersplitterten Gesellschaft ist dieses Kriterium der jeder gesellschaftlichen Solidarität zugrunde liegenden gemeinschaftlichen Identität sicher am schwersten einzulösen. Migration fordert die Idee der Solidargemeinschaft zusätzlich heraus. Inzwischen sind 42 Prozent aller Leistungsberechtigten in der Grundsicherung Nicht-Deutsche, mit stark steigender Tendenz. 

Einige Ökonomen, etwa Branco Milanovic, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, aber auch der Sachverständigenrat Migration und Integration schlagen deshalb vor, Anrechte auf Sozialleistungen an die Zeit des Aufenthalts im Land zu koppeln – geringe Anrechte für Neuankömmlinge, volle Anrechte für die Alteingesessenen, egal ob deutsch oder nicht-deutsch. Das sind interessante Gedanken. Sie sind aber rechtlich nur sehr schwer umsetzbar. Deshalb braucht man andere Streben, um den Konsens im Sozialstaat zu sichern. 

Klar ist auf jeden Fall, die Zustimmung zu einem umverteilenden Sozialstaat und einem großzügigen und inklusiven Grundsicherungssystem ist fragiler als viele denken. Deshalb ist es wichtig, deutlich zu machen, dass Bedürftigkeit streng geprüft, Eigenaktivitäten eingefordert und die Aufnahme von Arbeit massiv gefördert werden. Nicht um damit den Haushalt sanieren, sondern um den sozialen Frieden zu sichern. Der Vorschlag von Arbeitsminister Heil mag als Beitrag zum verfassungskonformen Bundeshaushalt ein Rohrkrepierer sein, inhaltlich ist er ein wichtiger Impuls, um wieder einmal neu über Sinn und Zweck unseres Grundsicherungssystems nachzudenken.

Matthias Schulze-Böing

Kindergrundsicherung in der Sackgasse

Gerade hat das Bundesverfassungsgericht die Regierung der Ampelkoalition bei der Verschiebung von Finanzmitteln in erheblichen Größenordnungen aus einem Notfallfonds zur Bewältigung der Corona-Krise in den Klimafonds zurückgepfiffen. Dessen Finanzierung hängt nun völlig in der Luft.

Auch bei ihren Reformvorhaben gerät die Bundesregierung in schwere See. So geriet die  Anhörung von Verbänden und Experten im Bundestag zur geplanten Kindergrundsicherung zum Desaster für die Regierungspläne. Kommunale Spitzenverbände und  Bundesagentur für Arbeit wiesen ebenso wie Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler nachdrücklich darauf hin, dass der Gesetzesentwurf der Regierung im vorgesehenen Zeitraum gar nicht umzusetzen ist, dass viele Fragen von Zuständigkeiten und Datenschutz nicht geklärt sind und dass an der Sinnhaftigkeit der Reform im Hinblick auf das politische Ziel, Leistungen zu bündeln, den Zugang zu Leistungen zu erleichtern und Kinderarmut zu bekämpfen erhebliche Zweifel angebracht sind. Statt Leistungen zu vereinfachen, wird alles nur komplizierter und verwaltungsintensiver. Sozialverbände wiesen darauf hin, dass die geplanten Leistungen in der Höhe kaum geeignet seien, die finanzielle Situation einkommensschwacher Familien mit Kindern wesentlich zu verbessern. Die Kindergrundsicherung würde zudem funktionierende Strukturen, zum Beispiel in den Jobcentern, massiv beeinträchtigen, ohne etwas Besseres an anderer Stelle zu schaffen. 

Die Lebenssituation von Kindern und ihre Chancen lassen sich nicht von der Situation ihrer Familien trennen. Kinderarmut als solche gibt es, genau betrachtet, eigentlich nicht. Kinder sind arm, weil ihre Familien arm sind. Wenn man das ändern will, muss man überlegen, wie man die Situation der Familien verbessert. Da spielt Geld eine Rolle, aber auch und nicht zuletzt, der Zugang der Familie zum Arbeitsmarkt, die Infrastruktur für Bildung und Erziehung und die Unterstützung, die Familien zur Bewältigung ihrer Lebensprobleme bekommen. Das ist in der Forschung hinreichend belegt. Nur bei der Regierung scheint diese Erkenntnis noch nicht angekommen zu sein. 

Bei der nach dem Urteil des Verfassungsgerichts weiter zugespitzten Haushaltslage des Bundes bleibt die Frage, ob die erheblichen Kosten der Kindergrundsicherung, allein für den notwendigen Umbau der Verwaltung werden 500 Millionen Euro angesetzt, überhaupt noch zu stemmen sind. Auf jeden Fall müsste viel Geld für eine Reform in die Hand genommen werden, von der man schon jetzt weiß, dass sie ihr Ziel verfehlen wird. 

Deshalb sollte das Projekt gestoppt werden. Besser wäre, die Mittel einzusetzen, um Leistungen für Bildung und Teilhabe zu verbessern, den Zugang von Familien zu den vorhandenen Leistungen durch bessere Beratung und einfachere Verfahren zu erleichtern und die Infrastruktur für Familien und Kinder nachhaltig zu stärken, durch bessere Betreuungsschlüssel in Kitas, durch Stärkung von Schulen in sozialen Problemgebieten, durch Familienzentren und schnellere Integration von Immigranten in Arbeitsmarkt und Gesellschaft. 

Matthias Schulze-Böing

In der Migrationsfalle

Mal ehrlich, wer hatte etwas anderes als diesen Minimalkompromiss nach der Ministerpräsidentenkonferenz zur Migration erwartet? Bei der Finanzierung der Administration rund um die Flüchtlinge bringt sich der Bund jetzt gemäß seiner Verantwortung endlich etwas mehr ein. Ansonsten wird beispielsweise mit schnelleren Asylverfahren und Bezahlkarten statt Bargeld für Flüchtlinge ein wenig an verschiedensten Stellschrauben in der vagen Hoffnung gedreht, dass damit die Attraktivität Deutschlands für Asylzuwanderer abnimmt. 

Vom „Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik“, den die Ampel zum Start formuliert hat, will heute niemand mehr etwas wissen. Die Debatte läuft heute auf allen Ebenen ziemlich einseitig auf die Themen Überlastung und Abschottung hinaus. Zurecht ruft die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus die demokratischen Parteien zu einem gemäßigteren Ton in Flüchtlingsfragen auf. Es werde von „Zahlen“ gesprochen, die „runter müssen“, als ginge es „um eine mittelschwere Matheaufgabe“. „Wer von Migration redet, redet von Menschen. In perfider sprachlicher Verdrehung wird aus den Ertrinkenden die Flut gemacht und aus den Schiffbrüchigen die Welle, die angeblich uns überschwemme.“ Das Wort Migranten werde „beinahe unisono“ mit den Adjektiven „illegal“ oder „irregulär“ verbunden, obwohl die Mehrheit von ihnen einen Schutzstatus erhalte. Die Ratsvorsitzende betont erneut, sie lasse sich „Barmherzigkeit nicht ausreden“ und wehrt sich vorsorglich gegen den Vorwurf, die Kirche vertrete in der Flüchtlingspolitik einen naiven Idealismus. 

Von jeglichem Idealismus befreit stuft der Kanzler unterdessen die jetzt beschlossene Verschärfung des Asylrechts als „sehr historisch“ ein. Den so geadelten Beschluss zieren aufgrund eines aktuell fehlenden Wagemuts Freiraum schaffende Prüfaufträge für Maßnahmen, die mit Blick auf juristische Zwänge, Durchsetzbarkeit und Wirkung schon jetzt kaum noch Fragen offen lassen. Die Ampel verabreicht mit großem Tamtam Placebos und setzt auf Zeitgewinn, weshalb ihr auch die Partnerschaft der CDU beim angestrebten Deutschlandpakt versagt bleibt, was der „Spiegel“  in Anspielung auf Olaf Scholz als „historisches Versagen“ beider Seiten geißelt. 

Jenseits aller taktischer Spielchen auf beiden Seiten dürfte die Opposition jedoch richtig liegen, wenn sie bemängelt, dass der Zustrom von Migranten auf dem bisher eingeschlagenen  Weg wohl nicht nennenswert eingedämmt werden kann. Dabei war es doch gerade erklärtes Ziel des Gipfels, Maßnahmen zur raschen und deutlichen Reduzierung von Zuzugszahlen zu ergreifen. Dieses Ziel einer spürbar neuen Asylpolitik als Antwort auf den AfD-Höhenflug und die zunehmende Überforderung des deutschen Sozialstaats durch Massenmigration war aber nicht erreichbar. Einmal sind SPD und Grüne beim Thema Asyl  noch zu sehr in alten ideologischen Traditionen verhaftet. Und dann agiert die CDU-Opposition recht kopflos und aktionistisch, macht sie doch teils Vorschläge, die eine Verfassungsänderung bedingen und dann bei Umsetzung zwingend den EU-Austritt zur Folge hätten. 

Wer kann da ernsthaft erwarten, dass SPD und Grüne unterm selbst gewählten Rubrum „Voraussicht und Verantwortungsbewusstsein“ mitspielen?  Beides dürfen allerdings alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Tradition nicht für sich in Anspruch nehmen. Denn sie agieren ohne Plan und mit Panikattacken auf immer neue Umfragehöhen der Rechtsextremen. 

Der Erfolgsdruck ist groß, die Asylzahlen müssen irgendwie sinken, weil sonst die Stimmung im Lande zu kippen droht. Damit hat sich die Regierung aber in eine Falle manövriert. Denn was passiert, wenn der Flüchtlingsstrom auch mit den jetzt eingeleiteten Maßnahmen nicht signifikant eingedämmt werden kann? Dann wird jenen ein weiterer Grund dafür geliefert, AfD zu wählen, die in einfachen, zupackenden, zur Not auch völkischen Lösungen den Ausweg aus der aktuellen Zuwanderungskrise sehen. 

CDU/CSU haben sich via Friedrich Merz und Markus Söder nur vermeintlich strategisch klug von der Verantwortlichkeit für Flüchtlingszahlen abgekoppelt. Denn für diese Hardcore-Klientel bleibt die Union nicht wählbar, sieht diese die Lösung der Problematik doch in einer Militarisierung der EU-Außengrenzen und dem Schleifen von Menschenrechten für Geflüchtete. Das geht auch der Union (noch) zu weit.

Frank Pröse

Finstere Mächte

Haben Sie zuletzt noch etwas von den Bedrohungslagen führender AfD-Politiker gehört? Letzter Stand am 7. Oktober: Tino Chrupalla wurde angeblich bei einem Wahlkampfauftritt angegriffen und verletzt. So zumindest die AfD. Die Polizei weiß nichts von einem Angriff. Der Einsatz einer Giftspritze, wie in AfD-Kreisen kolportiert, hat sich als Mär erwiesen. Alle bekannten Fakten deuten eher auf einen Kreislaufkollaps hin. 

Nicht auf Wahlkampftour, sondern auf Mallorca im Urlaub, war hingegen Alice Weidel. Offizieller Grund für ihre abgesagten Auftritte: Bedrohungen gegen sie und ihre Angehörigen. Sie mussten nach eigener Aussage vor linker Gewalt vom Schweizer Wohnort flüchten. Die AfD-Freunde in Deutschland strickten derweil die Legende vom Safe House, in die die Schweizer Behörden Weidel & Co. verbracht hätten. 

Nun mag es an den Vorgängen im Nachbarland liegen, dass dem BKA dergleichen nicht bekannt ist. Gleichwohl sind allein aufgrund der allzu fantasievoll gestrickten Geschichten um beide Bedrohungslagen bis zum Beweis des Gegenteils erhebliche Zweifel an den AfD-Erzählungen erlaubt. Der Partei geht es doch einzig um die Aufmerksamkeit, nicht um die Ermittlungsergebnisse. Das beweist doch auch das abebbende Interesse an weiterer Aufklärung, was den Schluss zulässt, dass AfD-nahe Wähler die Märchen von bösen Antifa-Terroristen glauben sollen. Die AfD weiß: Ist die Botschaft erst einmal in der Welt, gibt das der rechten Blase Auftrieb, zumal neue Erkenntnisse ignoriert werden, um den Plot aus dem Hollywood-Blockbuster nicht zu zerstören.  So halten rechte Blätter wie „Compact“ weiter am Giftanschlag auf Chrupalla fest, unterstützt von Foristen , die unverdrossen an ein systemisches Interesse glauben, die tapferen Kämpfer gegen den Untergang des Abendlandes mit allen Mitteln zu verhindern.  

Man mag die hier geäußerten Spekulationen verurteilen. Doch gilt nicht gleiches Recht für alle? Die AfD spekuliert im Netz, muss dann aber auch Mutmaßungen zu ihren Geschichten akzeptieren. Wir lassen uns deshalb mal auf diese AfD-Szenarien ein. Danach hat es jemand aus unbekannten Gründen auf Tino Chrupalla abgesehen. Der Attentäter ist so geschickt, dass er dem Mann selbst von den Personenschützern unbemerkt eine Nadel oder Spritze in den Arm rammen kann. Der Angreifer kennt sich zudem offenbar mit Giftstoffen aus, die sich nach wenigen Stunden nicht nachweisen lassen. Diese Expertise würde einem James Bond zur Ehre gereichen. Letztlich stimmt die Erzählung nicht oder es war doch kein Profi im Auftrag finsterer Mächte am Werk, sonst hätte sich Chrupalla nicht nur ein paar Stunden schlecht fühlt und am nächsten Tag schon wieder das Krankenhaus verlassen.

Merkwürdig, dass es von der Attacke angeblich keine Videos oder Bilder gibt. Denn üblicherweise filmen AfD oder deren Fans jede Katzenkirmes der Partei. Wenn es ein Angriff gegeben hätte, dann gäbe es auch Aufnahmen im Netz. Von verprügelten Migranten kursieren sofort Handy-Videos, von dieser Wahlkampfveranstaltung nicht. Seltsam. 

Der Fall Chrupalla erinnert an die Attacke mit einem „Kantholz“ auf den AfD-Politiker Frank Magnitz in Bremen und angebliche Tritte gegen den Kopf. Das Kantholz hat es nicht gegeben, die Tritte gegen den Kopf auch nicht. Das Zurückrudern der AfD las sich dann so: „Mit dem jetzigen Wissen würden wir die Mitteilung etwas anders formulieren, aber sie entsprach dem Kenntnisstand kurz nach der Tat.“ Der Begriff „Kantholz” sei „von einem der Bauarbeiter genannt worden, der Mann ist aber bisher nicht wieder aufgetaucht.” Die Tat hatte aber zunächst international für Schlagzeilen gesorgt. Die AfD hatte auch Medien und politischen Gegnern eine Mitschuld an dem Vorfall gegeben.

Und die Geschichte um Weidel erinnert doch sehr an das berüchtigte „Kippelgate“ von Vorgängerin Frauke Petry. Damals hat die AfDler ein umgekipptes Saftglas zu einem Säureanschlag aufgebauscht.

Noch Fragen?

„Gefährdungslage“ bei Weidel, „tätlicher Angriff“ auf Chrupalla. Alles am selben Tag und kurz vor den Wahlen in Bayern und Hessen. Nachtigall, ick hör´dir trapsen. Was für eine billig orchestrierte Schmierenkomödie zur Stärkung des Opfermythos beim geneigten Publikum!

Frank Pröse

Nur Frauen im Boot

Im hessischen Landtagswahlkampf hat die SPD mit einer unkonventionellen Bitte überrascht. Nach Vorstellung der Partei sollten an der Pressekonferenz nach einer gemeinsamen Main-Schifffahrt der drei Ministerpräsidentinnen Malu Dreyer, Anke Rehlinger und Manuela Schwesig (alle SPD) mit der hessischen Spitzenkandidatin der Partei, Bundesinnenministerin Nancy Faeser, und weiteren geladenen weiblichen Gästen, möglichst keine Männer teilnehmen. Die hessische Landespressekonferenz (LPK) spricht von einem „Anschlag auf die Pressefreiheit“ und schießt damit über das Ziel hinaus.

Eine Prise Heuchelei, ein bisschen Scheinheiligkeit, dazu ein Touch Pharisäertum plus Theaterdonner: der Blätterwald – gleich ob Boulevard oder Leitmedium – ergötzt sich gerne an Skandalen und Affären, freilich ohne selbst in den Spiegel schauen zu wollen. Finden die Schreiber dann noch ein Opfer, das seine eigene Rutschbahn zentimeterdick mit Schmierseife fettet, nutzen weder Lawinen-Fangzäune noch Bernhardiner. Allenfalls das Fässchen Rum, um den Hals der Hunde verspricht noch Linderung.

Die Absicht der Hessen-SPD, nur Journalistinnen auf das Frauenboot der drei Ministerpräsidentinnen und der SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser lenken zu wollen, war naiv und dumm. Naiv, weil die Organisatorinnen glaubten, die Medien werden Folge leisten; dumm, weil es unmöglich ist, in der heißen Phase eines Wahlkampfs Sinn und Zweck dieses Wunsches, selbst wenn er ehrenhaft wäre, glaubhaft zu kommunizieren. Der Geschmack der Ausgrenzung, vom Mainstream Cancel Culture genannt, bleibt. Dazu offenbart die nett vorgetragene Idee, nur Journalistinnen könnten besonders gut und adäquat über die femininen Konzepte berichten, ein tiefes Missverständnis der SPD über die Aufgabe der Presse. Medien berichten, ordnen ein, kommentieren, kontrollieren: manchmal mehr, manchmal weniger gut. Aber immer für alle Menschen im Land. Noch haben „Frankfurter Rundschau“, „Bild“ oder der „Hessische Rundfunk“ keine eigenen Ausgaben für m/f/d.

Soweit so schlecht. Aber: Sind Bevorzugung und Auswahl von Redakteuren und Berichterstattern für bestimmte Themen im Alltag nicht längst Praxis in der Medienlandschaft von links bis rechts, auch in den Qualitätsmedien, die sich besonders lautstark über dieses Fettnäpfchen der SPD-Kandidatin empören? Es kommt nicht oft vor, dass eine Zeitung einen Feuilleton-Redakteur mit innerem Hang zur Klimaneutralität zum Test des neuen Audi Quattro nach Schweden schickt. Nicht weil der arme Schreiberling überfordert wäre, sondern weil sein Verleger anschließend um einen Anzeigenkunden fürchtet. Reiseveranstalter bauen natürlich langfristige Beziehungen auf, damit ihre Spezies in den Redaktionen nach der nächsten Tour über die glamourösen Highlights auf den Malediven schreiben. Die bevorzugten Pressebänke auf den Bilanzpressekonferenzen der DAX-Unternehmen werden auch nicht per Einladung an die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ verteilt. 

Berichterstattung gegen Anzeigen oder Produktionskostenzuschuss: auch die Beilagen der Qualitätszeitungen funktionieren so, und nur so. In meinem Leben vor der Rente als Leiter des Amtes für Öffentlichkeitsarbeit habe ich natürlich im Konvoi mit den Großstädten der Region solche kaum verdeckten Zahlungen für Stadtporträts quer über die Zeitungslandschaft geleistet. Ohne die Gewissensbisse, wenn beispielsweise ein Magazin, das Aushängeschild eines großen Öffentlich-rechtlichen Senders ist, Offenbach als Quasi-Kurort adelte. 

Ja. Es geziemt sich nicht, Medien belehren zu wollen, wer eine gemeinsame Bootstour von Frauen als Redakteur oder Redakteurin besser bewerten kann. Auch aus Respekt vor der Aufgabe der Medien. Aber: Nicht jede Dummheit ist ein Anschlag auf die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit von Medien. Ein Blick in den Spiegel hilft. Manchmal wenigstens.

Matthias Müller

Warten auf Sahra

Messias Rudi hat geliefert: 2:1 gegen Frankreich! Sein weibliches Pendant Sahra, auf das sich ob unklarer organisatorischer, inhaltlicher und personeller Vorlagen für ihre neue Partei erstaunlich viele große Hoffnungen vereinen, ist noch in der Bringschuld. Der Fragezeichen gibt es ähnlich viele, wie dereinst beim ersten Versuch, Gleichgesinnte über die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zu organisieren. Das war 2018. Heute fragt sich die Nation: Gründet nun Sahra eine Wagenknecht-Partei oder nicht? Und wenn, dann wann? Sie macht Andeutungen, will oder kann sich aber noch nicht entscheiden. Sie, die doch so taff und unbeirrbar auftritt. Sie, die auf ihrem ausgeprägten Ego-Trip mit ihren Büchern geschäftlich erfolgreich ist, zugleich aber die Parteiarbeit vernachlässigt und ihre langjährigen Mitstreiter auch durch Pauschalkritik an Linken-Themen verärgert hat. Ausgerechnet sie, der akribische Organisation nicht liegt, will fast aus dem Nichts eine weitere Anti-Mainstream-Partei gründen. 

Die Partei „Die Linke“, der sie noch angehört, hat die Wahl-Saarländerin gewieft in eine scheinbar ausweglose Situation zu ihren Gunsten getrieben. Nun kämpft die Linke ums Überleben, beschäftigt sich dabei naturgemäß viel mit sich selbst und weiß nicht einmal, wer letztlich an Bord bleibt, wenn Sahra rufen sollte. Das würde „Die Linke“ auf alle Fälle schwächen. Ob eine Wagenknecht-Partei der AfD ein paar Prozente abnehmen könnte, wie viele hoffen, sei dahingestellt. Die euphorische Interpretation auf die Umfragefrage „Würden Sie eine Partei wählen, die es vielleicht mal geben wird und deren Programm niemand kennt?“, ist jedenfalls unangebracht. 

Gleichwohl hat die Populistin bei der Rekrutierung von Stimmen eben die AfD-Wählerinnen und –wähler im Sinn, decken sich doch einige ihrer Ziele mit denen der Rechtspopulisten. Dem „Tagesspiegel“  sagte Wagenknecht, dass sie AfD-Wählern eine neue politische Heimat bieten wolle. Sie sehe eine „Leerstelle im politischen System“. Viele fühlten sich von keiner Partei mehr vertreten und wählten „aus Verzweiflung“ die AfD. „Ich fände es gut, wenn diese Menschen wieder eine seriöse Adresse hätten“, so Wagenknecht. Mit „Linkskonservatismus“ überschreibt sie ihr Angebot, das AfD-Chefin Alice Weidel einige Sorgen bereitet: Dies werde das „regierungskritische Lager“ spalten, sagte sie im ARD-„Sommerinterview“. Damit solle die AfD von einer Regierungsbeteiligung abgehalten werden. Wagenknecht sei damit „eine willige Erfüllungsgehilfin für die Ampel“ und auch für die CDU. 

Vorerst aber bleibt abzuwarten, ob Wagenknechts Kritik an angeblichen woken „Lifestyle-Linken“, ihr relativierendes Verständnis für das Handeln von Kriegstreiber Wladimir Putin und ihre plakativen, aber wenig originellen Sozialforderungen als Basis für die Gründung einer weiteren Partei ausreicht. Bis dahin hat die „Lordsiegelbewahrerin des gestärkten Bügelblusenmarxismus“ (Wiglaf Droste, taz) noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Frank Pröse

Offenbach muss Dampf machen

Die Zeit rennt. In knapp 16 Jahre soll der erste ICE im neuen Frankfurter Fernbahnhof halten. Kommt dieser Zug aus dem Norden, rauscht er kaum fünf Minuten zuvor ohne Halt durch Offenbach. In diesem Winter, spätestens im Frühjahr, wird eine Entscheidung über die möglichen Trassen vor und hinter der Röhre erwartet. Das Gerippe für den Deutschlandtakt soll im Sommer 2024 vorgelegt werden. Beide Planungen sind eng verzahnt. Spätere Änderungswünsche haben kaum eine Chance, weil mit ihnen unzählige Stellschrauben und Weichen quer über die Republik geändert werden müssen.

In Offenbach stand der Umbau des Bahnhofsgebäudes in ein Stadtteilzentrum in den vergangenen Jahren im Fokus. Wünschenswert. Sicher. Bei all ihren Debatten um Kultur und Nachbarschaft an diesem Ort hat die Politik aber die eigentliche strategische Bedeutung und Chancen eines Bahnhofs für die Entwicklung einer Großstadt aus den Augen verloren. 

Die Wirtschaft, vor allem ihre Beschäftigten, sind in Zeiten steigender Mieten in den Zentren auf schnelle Verbindungen angewiesen. Eine Stadt via Fernbahntunnel eng mit dem ICE-Kreuz Frankfurt vernetzt, sie hätte einen einzigartigen Standortvorteil in Rhein-Main. Schnelle Übergänge zwischen Bussen und Bahnen machen das Leben für Menschen in der Region, in der man zwischen Wiesbaden und Aschaffenburg arbeitet, einkauft oder Konzerte besucht, angenehmer. 

Aber der Bau des Fernbahntunnels weckt auch Befürchtungen: Wie stark ist der nächtliche Güterverkehr? Werden Schallschutzwände die Trennwirkung des Bahndamms weiter verstärken? Wo entsteht vor der Stadt ein massives Kreuzungsbauwerk?

Um alle diese Fragen in einem Konzept für Offenbach zu bündeln, bleibt wenig Zeit. Zu lange hat man gezögert, verdrängt. Aber noch ist eine positive Vision möglich, beispielsweise die einer engen Verknüpfung mit dem Frankfurter Hauptbahnhof. Dazu muss die Politik vor Ort handeln: Sofort, schnell, entschieden und kompetent. Es ist fahrlässig, wenn die zuständige Bürgermeisterin und Verkehrsdezernentin mit der Arbeit warten möchte, bis eine neue Stelle für diese Aufgaben in ihrem Bereich besetzt wird. Offenbach darf keine Zeit verlieren, sondern muss heute beginnen, Dampf zu machen. 

Gefragt ist aber auch der Offenbacher Tarek Al-Wazir als Hessischer Verkehrsminister. Er muss seine Loyalitäten klären zwischen einer zentralistisch ausgerichteten Bahnstrategie und der Lebensqualität in seinem Wahlkreis. Eine Win-win-Situation für ihn wie für die Stadt wäre möglich. Dafür muss Al-Wazir aber den bequemen Weg des Abnickens verlassen und muss sich in dieser Frage, die entscheidend für die Entwicklung der Stadt in den nächsten Jahrzehnten ist, stärker für die Offenbacher Interessen positionieren.

Frank Pröse

Merz ist Wackelkandidat

Mannomann, da hat Friedrich Merz seinen Kürlauf zur CDU-Kanzlerkanditur aber mächtig verpatzt. Von Woche zu Woche verkrampft der Dritte-Wahl-Vorsitzende immer mehr, versucht mit AfD-nahen Themen die politische Debatte zu dominieren. Als Resultat Merz´scher strategischer Planlosigkeit wird die CDU mal schnell zur „Alternative für Deutschlands – mit  Substanz“, gerade als ob es dem AfD-Programm nur an Inhalten mangeln würde. Die Partei ist nachgewiesen demokratiefeindlich, rechtsextrem und spaltet die Gesellschaft. Was will die Merz-CDU da in ihrer selbstgewählten Selbstverzwergung substanziell verbessern? Ebenso unsinnig ist die vom Sauerländer jetzt angekündigte mögliche Kooperation der CDU mit der AfD auf kommunaler Ebene.

Natürlich müssen alle die Ergebnisse demokratischer Wahlen akzeptieren, das ist eine Binse. Kooperation heißt aber mehr als Zustimmung in Sachfragen im Sinne der Bürger, heißt nämlich Zusammenarbeit, heißt strategisch-planerische Absprache mit einer Partei, deren Werte die CDU doch rundweg ablehnt. Da geht Merz einen Schritt zu weit, weil er die Gewissheit vermittelt, dass sich die CDU mehr als nötig gegenüber der AfD öffnet. Meinte Merz es anders, wäre noch die Abgrenzung von gemeinsamer Sacharbeit in Landtagen und Bundestag zu begründen, wiewohl sich alle Parteien auch auf diesen Ebenen darin gefallen, selbst im Grunde akzeptable Anträge der anderen zu torpedieren.

Die im Interview vorgenommene Abgrenzung der kommunalen Ebene ist aber nur ein kleiner Nebenaspekt, den Merz ohnehin noch erläutern müsste und den dennoch niemand verstehen dürfte. Die so nebenbei im Plauderton skizzierte Hinwendung zu Rechtsradikalen stellt neben einigen anderen schlagzeilenträchtigen Ungeschicklichkeiten vielmehr die Führungsqualität des CDU-Vorsitzenden infrage und an seinem Umgang mit dem Dauerthema AfD wird sich seine Zukunft entscheiden. Wie irritiert die CDU-Spitze ist, lässt sich daran ablesen, dass niemand aus dem erlesenen Kreis sogenannter Parteifreunde Merz den Rücken gestärkt hat. Der Saarländer hält sich nur noch auf dem Vorsitz, weil in der sonst so gut geölten Machtmaschine CDU keiner seiner Widersacher in der Lage ist, die Schwäche der Nummer eins auszunutzen. Aber eine Brandmauer zu Merz dürfte schon in der Planungsphase sein. Schließlich droht man in der Nähe des planlos agierenden Vorsitzenden in den Sog miserabler Sympathiewerte zu geraten. 

Und Merz hat wirklich keinen Plan, weiß angesichts stabil guter Umfrageergebnisse für die Alternativen nicht mehr ein noch aus, biedert sich in seiner Verzweiflung erneut bei AfD-Sympathisanten an, bricht dabei dieses Mal auch nach dem Geschmack vieler Parteifreunde zu viele Steine aus der „Mauer gegen rechts“. Das war nicht intern abgestimmt und daher nicht kommunikativ vorbereitet und dürfte ihm bei der Wahl des Kanzlerkandidaten noch auf die Füße fallen. Der Nachklapp auf Twitter macht es für den Vorsitzenden nicht besser: „Um es noch einmal klarzustellen, und ich habe es nie anders gesagt: Die Beschlusslage der @CDU gilt. Es wird auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit der #CDU mit der AfD geben.“ Das ist etwas anderes als: So war das nicht gemeint – und wird von den Fernsehaufnahmen Lügen gestraft. 

Die AfD kann sich unterdessen wieder vor Freude auf die Schenkel klopfen, denn Merz treibt den Urhebern der Stichworte für einen Teil des CDU-Programms die Wähler direkt in die Arme. Vom bei der letzten Wahl in Bayern auf diese Art gebeutelten Markus Söder dürfte Merz diese Hinwendung der Wählerinnen und Wähler zum Original längst erfahren haben. Doch Merz hat seinen eigenen Kopf, glaubt, auch bei einer leicht relativierten Annäherung an die AfD die Gefahren für Demokratie und staatliche Grundordnung beherrschen zu können. Das ist schon einmal schief gegangen…

Frank Pröse

Nur Mut, Kevin!

Der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert äußert sich gegenüber der „Welt“ mit einer bemerkenswerten Erkenntnis zur AFD. Er fordert zu Recht mehr Rückendeckung von der demokratischen Mehrheit für diejenigen, die sich gegen rechte Anfeindungen klar positionieren. Es geht ihm um die Deutungshoheit in den Nachbarschaften und den demokratischen Kräften vor Ort. Das er diese Position am Beispiel von zwei Lehrern an einer Brandenburger Schule festmacht, ist absolut richtig. Auf den Punkt bringt es die Überschrift zu dieser Positionierung „Wut der Minderheit darf nicht zum Ohrwurm der Mehrheit werden“. Diese grundsätzliche Positionierung bezüglich rechter Anfeindungen ist in ihrer Eindeutigkeit wichtig und richtig. Es wäre aber wünschenswert, dass sich Kühnert diese Haltung auch in anderen Politikfeldern zu eigen macht.

Da böte sich zum Beispiel das Thema Gendern, über das eine heftige und emotionale Debatte entbrannt ist. Ob und in welcher Form Sprache geschlechtersensibel sein soll, darüber scheiden sich die Geister. Für die einen ist es Ausdruck der Gleichstellung, für die anderen ist es Bevormundung. Nach der jüngsten Forsa-Umfrage finden lediglich 22 Prozent der Bundesbürger das Gendern gut, aber 73 der Bundesbürger stört es, wenn mit Stolperern gesprochen oder mit Gendersternchen oder Doppelpunkt geschrieben wird. „Abgelehnt wird das „Gendern“ von einer Mehrheit in allen Bevölkerungs- und Wählergruppen mit Ausnahme der Grünen-Anhänger, die das „Gendern“ mehrheitlich gut finden“, stellt Forsa fest. Es wird also sehr deutlich, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung die Verwendung dieser Sprache in der öffentlichen Verwaltung und in deren Veröffentlichungen ablehnt, was die Politik und auch die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten freilich nicht stört, Fakten zum „Gendern“ zu schaffen. 

Wenn Kühnert dafür plädiert, dass die Wut der Minderheit nicht zum Ohrwurm der Mehrheit werden darf, gibt es ihm bei diesem Thema die Möglichkeit, sich ohne programmatische Rückwärtssalti einer Mehrheitsmeinung anzuschließen, was angesichts der miserablen Umfrageergebnisse seiner Partei mal eine erfolgversprechende Strategie wäre. Beim Gendern sollte sich der Generalsekretär stärker auf von der Bevölkerung mitgetragenen Positionen orientieren. Das täte nicht weh, würde der AFD-Stimmen abgraben und gäbe der SPD die Chance, ihr Gewicht im Parteienspektrums zu erhöhen.

Gerhard Grandke

Der Coup der Banken

Wie Lobby-Arbeit perfekt funktioniert, das lässt sich an den jüngsten Planungen der EU für ein Verbot (was sonst?)  des Erlösmodells von Neobrokern ablesen. Man wolle Verbraucher vor suboptimalen Entscheidungen schützen, gab das Europäische Parlament Ende Juni als Begründung für das Verbot an. Die Verbraucher wollen aber gar keinen Schutzschirm über sich aufgespannt sehen. 

Die Online-Händler sind der etablierten Finanzbranche vor allem deshalb ein Dorn im Auge, weil sie ein Modell entwickelt haben, mit dem sich Geld verdienen lässt, obwohl die Anleger nur mit geringen oder gar keinen Transaktions- und Depotkosten belastet werden. Das bedroht das Geschäftsmodell von Börsen, Banken, Sparkassen und Finanzmaklern, die zuletzt im Wettbewerb mit Neobrokern immer mehr Probleme damit hatten, teure aktive Fonds an den Kunden zu bringen. Deshalb haben sie ein Ende des „Wilden Westens“ am Finanzmarkt herbeigesehnt und dementsprechend in Brüssel vorgesprochen. 

Von Wildwest kann dabei aber keine Rede sein. Aus der Schar von Millionen Kleinanlegern bei den Online-Brokern gibt es auch keine Klagen über unfaire Behandlung geschweige denn über finanzielle Benachteiligung. Sie haben sich aus Kostengründen auch damit arrangiert, dass Neobroker ihre Provisionen damit verdienen, dass sie die Aufträge ihrer Kunden an vertraglich gebundene Börsen weiterleiten (Payment for Orderflow, PFOF), die Kunden also zumeist gar keinen Einfluss darauf nehmen und so mögliche Vorteile beim Kaufpreis der Aktie wahrnehmen können. 

Warum aber lassen sich Kleinanleger auf derlei intransparente Bevormundung ein? Weil sich der Preisnachteil des Wertpapierkaufs bei fixierten Börsenplätze in kaum spürbaren Dimensionen bewegt und lange nicht an die recht ordentlichen Orderprovisionen der Banken heranreicht. Eine Studie der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hat 2022 dagegen ergeben, dass für Kundenaufträge mit geringerem Umfang „die Ausführung über PFOF-gewährende Handelsplätze überwiegend vorteilhaft“ ist. Gehe es um höhere Beträge und seien nur wenige Aktien handelbar, gingen Vorteile verloren. Das ist ja vor allem für Kleinanleger, die mit kleinen Beträgen operieren (müssen) wohl eher ein Argument für das System. 

Viel gewichtiger, als diese minimalen Unterschiede der im Preis des Wertpapiers versteckten Kaufkosten sind doch die Gebühren der Banken bei ETF und Fonds. Da werden risikoscheue Kleinanleger im Vergleich zu Neobrokern richtig zur Kasse gebeten. Stiftung Warentest“-Redakteur Roland Aulitzky sagt denn auch gegenüber „Bild“: „Es gibt keine Belege dafür, dass Anleger bei Neobrokern durch Exklusivverträge höhere Preise zahlen als an anderen Handelsplätzen“. Er befürchtet große Nachteile für die Verbraucher, sollte das Verbot wie geplant das EU-Parlament passieren. 

Die Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) hatte einen Interessenskonflikt bemängelt: Payment for Orderflow (PFOF) motiviere Broker, Kunden nicht die günstigste Börse anzubieten, sondern die, für die sie Geld bekommen. Na, sowas aber auch! Die Aufsicht tut gerade so, als ob die Banken bei der Beratung ihrer Kunden nur deren Vorteil im Auge hätten. Die Berater haben vielmehr klare Vorgaben, welche Papiere an den Mann/die Frau gebracht werden müssen. Das PFOF-Verbot soll eine faire Behandlung der Kunden garantieren, heißt es. Dann muss aber auch das Geschäftsgebaren der Banken auf den Prüfstand. 

Die Verlierer der Neuerungen sind ausgemacht: Kleinanleger und Neobroker, deren beider Geschäftsmodell kassiert wird. Die Gewinner sind Börse, Banken und Anlageberater, die sich unangenehmen Wettbewerb vom Hals geschafft haben. Darunter wird die Aktienkultur in Deutschland leiden – und das gerade in einer Zeit, in der die Bundesregierung mit dem Gedanken spielt, die Bevölkerung auf eine „Aktienrente“ einzuschwören. Die Entscheidung steht auch nicht im Einklang mit den Zielen der EU-Kommission, neue Möglichkeiten zur Kapitalbildung zu schaffen. Sie dient allein jenen Akteuren, die über die Ausschaltung von Wettbewerbern mit hohen Provisionen und Gebühren ihr Bestehen sichern wollen. 

Im Sinne der Kleinanleger bleibt zu hoffen, dass die Neobroker ein Geschäftsmodell entwickeln können, mit dem der Wettbewerb doch aufrechterhalten werden kann. So ist in der digitalen Welt die Flatrate weit verbreitet, mit der sich ein Gebührenmodell für die Klientel lässt. Auch könnten sie beispielsweise neben ihrem bisherigen festen Handelsplatz mehrere Börsen anbieten und die Kosten je nach Börse staffeln. Man kann erahnen, wo Kleinanleger ordern werden. Teurer wird´s für sie auf alle Fälle. Ein kleiner Trost: Bei Xetra können sie nur bis 17.30 Uhr handeln, bei Neobrokern von 8 bis 22 Uhr und damit auch nach Feierabend. Noch hat die EU die längeren Handelszeiten ja nicht verboten…

Frank Pröse

Söders Umarmung

Schon wieder dieser Söder. Wenn jedoch einer, der immer wieder als Kanzlerkandidat der Union gehandelt wird, Stuss fabriziert, dann hat das durchaus politisches Gewicht und gehört aufgespießt. Was ist passiert:  Während der Sendung von Sandra Maischberger klettert der fürs Green-Washing seines Amtes engagierte Baumumarmer in ungeahnte Gipfelhöhen: Als bayerischer Regionalfürst verspricht er der vorm Fernseher versammelten Nation in Kanzlermanier, dass die Union, sollte sie ab 2025 wieder regieren, das als Heizungsgesetz bekannte Gebäudeenergiegesetz (GEG) wieder kassieren wird. All´ jenen, die dem Alphamännchen im Freistaat auf den Leim gehen und schon frohlocken ins Stammbuch: Die Halbwertzeiten von Söders Ankündigungen sind unterirdisch! By the way: Was ist aus seinem wenige Wochen alten Vorstoß geworden, die bayerischen Kernkraftwerke in Landesregie weiter betreiben zu wollen? 

Ungeachtet dessen, dass die CSU aufgrund des veränderten Gewichts von Direktmandaten im neuen Wahlgesetz gerade um den Wiedereinzug in den nächsten Bundestag bangt, auch nach dem Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde gibt´s da noch einen wichtigen politischen Partner, der zwar auch mit der Ampellösung hadert, aber vielleicht auch wegen noch fehlender Alternativen zögert, große Versprechungen zu machen. Zudem hat die Groko das GEG beschlossen, nur eben nicht mit Leben erfüllt. Und dann bräuchte die Union nach Lage der Dinge einen weiteren Regierungspartner. Auch den nimmt der großmäulige Söder wieder einmal mit der entfernten Zukunft kokettierend schon heute in die Pflicht. Da verwechselt einer das Fernsehstudio mit dem Bierzelt. 

Die Klappe allzu weit aufzureißen, ziemt sich außerdem nicht, weil CDU und CSU zusammen mit der SPD den Klimawandel jahrelang verschlafen haben.  Die Ampel hat bei aller berechtigten Kritik am Gesetz die richtige Richtung eingeschlagen, Söder & Co. haben in dieser Hinsicht gar nichts Substanzielles anzubieten, spielen dafür aber die populistische Karte. Mal sehen, was der begnadede Selbstdarsteller Söder, der ohne Rückgrat aufrecht gehen kann, für eine Nummer bringt, wenn die EU ihre Gebäudesanierungspflicht präsentiert, die um einiges schärfer ausfallen soll als die Vorlage der Ampel in Berlin. 

Frank Pröse

Fragen über Fragen zu Nordstream

Alle Welt fragt sich: Wer ist für den Anschlag auf die Nord-Stream-2-Gaspipeline verantwortlich? Eine heiße Spur führt jetzt nach Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung zu einem Ukrainer. Warum das in den Medien von Spiegel über Focus und ntv bis zur Tagesschau nicht an prominenter Stelle präsentiert wird, bleibt das Geheimnis der verantwortlichen Redakteure. Es ist zumal irritierend, weil die Washington Post zuvor berichtete, dass die CIA bereits im Juni 2022, also mehrere Monate vor dem Anschlag, vom ukrainischen Plan erfahren haben soll. Demnach sollten Angehörige einer der ukrainischen Militärführung direkt unterstellten Eliteeinheit mit einem verdeckten Taucheinsatz die Pipeline sprengen. Die USA sollen diese Informationen mit Deutschland und anderen Europäern geteilt haben. Laut ntv sind deutsche Ermittler sicher, dass die Angreifer nach genau diesem Plan vorgegangen sind. Die Akteure sollen nach Informationen der Washington Post direkt an den ukrainischen Armeechef berichtet haben, der diese Aktion bewusst nicht an den ukrainischen Präsidenten weiter gemeldet habe, um ihn aus dem Konflikt herauszuhalten. 

Sollte sich diese Version über den Anschlag auf die Pipeline bestätigen, ergeben sich daraus nachhaltige Fragen, deren Beantwortung den weiteren Fortgang der Haltungen in diesem Konflikt beeinflussen könnten. Zunächst erst einmal auf der ukrainischen Seite. Wie verhält sich der ukrainische Präsident, wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass sein Armeechef ihn in einer solch wichtigen Frage hintergangen hat. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Ukraine von Deutschland immer stärkere Unterstützung mit militärischen Gütern forderte. Eigentlich müsste er ihn dann sofort entlassen.

Der nächste Fragenkomplex betrifft die deutsche Seite: Wenn es zutrifft, dass der amerikanische Dienst Deutschland und andere europäische Staaten informiert hat, wer hat dann zu welchem Zeitpunkt diese Information erhalten, und an welchen Entscheider ist diese Information weitergeleitet worden? Sollte die Information weitergeleitet worden sein, so ist zu fragen , was ist unternommen worden? Wer hat Kontakt zur ukrainischen Führung aufgenommen, um diesen Anschlag zu verhindern? Was ist unternommen worden, um die Pipeline zu schützen?

Sollte sich herausstellen, dass diese Version zutrifft, ist natürlich über die Konsequenzen gegenüber der Ukraine zu diskutieren. Wie gehen wir mit einem, solchen – dann ja ukrainischen – Angriff auf die Infrastruktur um, die zu diesem Zeitpunkt noch im Fokus deutscher Interessen stand? In anderen Fällen hätte ein solcher Vorfall eine robuste Antwort nach sich gezogen…

In der weiteren Recherche der Medien, die bestimmt auch diese Fragen adressieren werden, darf gespannt auf politischen Reaktionen gewartet werden, die ja bisher aus unerklärlichen Gründen ausgeblieben sind. 

Gerhard Grandke

Mehr Patriotismus wagen?

Ab und an wird auf dem Reichstagsgebäude die „Regenbogenfahne“ als Zeichen von Toleranz und Vielfalt anstelle der Deutschlandfahne gehisst. Regenbogenfarben scheinen jedoch aus der Mode zu kommen. Zumindest für die Union. Denn CDU und CSU möchten mehr Schwarz-Rot-Gold im öffentlichen Raum: Offiziell als Ergebnis ihrer Suche nach Innovationen, aber wohl eher als Antwort auf die guten Umfrageergebnisse der AfD strebt die Union ein Patriotismus-Programm an, um nationale Symbole zu fördern. Das solle auch helfen, in Ostdeutschland eine „Schwachstelle der Wiedervereinigung“ zu beheben, heißt es. 

Auf solch einen Unsinn muss man erst einmal kommen. Der Diktion nach ist diese aufgrund von Wahrnehmungsstörungen fortgesetzte Arroganz der Besserwisserei Wasser auf die Mühlen der AfD. Dass dieses Land weiter zusammenwachsen kann und muss, zeigt die Ungleichbehandlung zwischen den neuen und den alten Ländern. Deutschland wird künstlich auseinanderdividiert. Gleiche Tarifverträge, gleiche Renten, gleiche Erhöhungen wären darauf eine Antwort, nicht das Wedeln mit der Deutschlandfahne in Bundesländern, in denen immer weniger Bürger daran Anstoß nehmen, dass öffentliche Veranstaltungen mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen ausgestattet werden.

Der Unionsantrag trägt die Überschrift „Verfassung und Patriotismus als verbindendes Band stärken – Tag des Grundgesetzes am 23. Mai als Gedenktag aufwerten“. So soll „die ganzjährige Sichtbarkeit nationaler Symbole – insbesondere der Bundesflagge – im öffentlichen Raum“ erhöht und dafür gesorgt werden, „dass die Nationalhymne häufiger bei öffentlichen Anlässen gesungen und weiter als fester Bestandteil des deutschen Liedguts gepflegt wird“. Die Patriotismus-Initiative soll Teil der konservativen Neuausrichtung der Partei weg vom merkelschen Linksruck sein, was jedoch wenig glaubhaft ist, wenn die Altkanzlerin für ihr Wirken zugleich mit Auszeichnungen im Dutzend geehrt wird.

Als Initiator dieses Patriotismus-Programms „Kostet nichts und bringt nichts“ schiebt die Unionsspitze ausgerechnet Philipp Amthor vor, der auch schon angesichts bisheriger mit seinem Namen verbundener Initiativen konsequent am realen Leben vorbeigeschrammt sein muss. Nun schwingt er also die Fähnchen in vaterländischer Gesinnung gegen die innere Fahnenflucht der Deutschen vor Gemeinschaft und Solidarität. 

Frei nach Willy Brandt will die Union nun also mehr Patriotismus wagen. Doch Willy musste die Demokratie nicht verordnen… Zu einer solchen Schwarz-Rot-Gold-Vorgabe entschließt man sich nur, wenn man sonst keine Lösungsansätze hat auf die Fragen unserer Zeit. Antworten auf globale Herausforderungen hat die Union nicht, dann spielt sie eben die nationale Karte. Erbärmlich. Und: Mit verordnetem Patriotismus hat Deutschland doch wohl keine gute Erfahrungen gemacht. 

Außerdem: Welche Partei hat während der von ihr initiierten Leitkulturdebatten betont, „Verfassungspatriotismus“ sei nicht ausreichend – Stichwort „Wir sind nicht Burka“… Die CDU redet über „Symbole und Rituale“ um gerade nicht über kulturelle, historische und sprachliche Identität reden zu müssen. Gerade die letztere macht eine Nation aber aus. „Symbole und Rituale“ sind dagegen nur äußerlich. Wäre es nicht identitätsstiftender, wenn Deutschland bei erneuerbarer Technologie und Energiewende, Mobilität und mit modernem Einwanderungsrecht und einem zeitgemäßen Bildungswesen vorangehen würde? Und was kommt von der CDU? Ein Stück Stoff und die Rückbesinnung auf deutsches Liedgut!

Frank Pröse

Im Abklingbecken

Ihr schlecht performendes, lästig oder überflüssig gewordenes Personal sortieren die Parteien gerne nach Europa aus. Parteifreunde aus der zweiten oder dritten Reihe werden dann via Brüssel/Straßburg zur Überwindung des Trennungsschmerzes im Abklingbecken für Abgehalfterte über Gebühr grundversorgt, reißen dann aber natürlich auch auf europäischer Ebene nichts, was schließlich dazu führt, dass nationale Interessen bei ihnen zumeist nicht gut aufgehoben sind. Dabei bräuchte dieses Europa die besten Köpfe. Auf Beamtenebene und an der Spitze vieler Institutionen funktioniert das auch. Politisch aber wird das Schicksal von Europa nicht ausschließlich von den Besten bestimmt, sondern von Zufällen und politischen Gemengelagen in den Mitgliedsländern. 

Selten kommt es vor, dass politische Schwergewichte aus den Führungsgremien der Parteien nach Europa weggelobt werden, wenn sie also nicht wegen schwächelnder Performance an der Heimatfront zu Auslaufmodellen à la Edmund Stoiber, Martin Schulz, Günther Oettinger gehören. Das trifft aktuell auf Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann zu, für markige Sprüche bekannte Beisitzerin im Bundesvorstand der FDP und lange Zeit als selbstbewusste Vorsitzende des Verteidigungsausschusses über ihre Omnipräsenz in Talkshows gefühlte Verteidigungsministerin und Expertin für Militärführung. @MAStrackZi, so ihre Twitter-Kennung, hat unverdrossen für deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine geworben und so in der ersten Phase des russischen Angriffskrieges ihren Bekanntheitsgrad erhöht. 

Dass dieses TV-Starlet bei den mit markanten und bekannten Köpfen ja nicht gerade gesegneten Liberalen nach dem Willen der Parteiführung künftig im Europaparlament wirken soll, irritiert nur auf den ersten Blick. Sie wird von der FDP-Spitze aussortiert (offiziell als Spitzenkandidatin der Partei für die Europawahl weggelobt), weil sie nicht nur zur besten Sendezeit mit schweren Waffen für ihre Überzeugungen kämpfte, sondern auch als Ordensritterin in Aachen im Narrenkäfig nicht das Florett, sondern den schweren Säbel für ihre Attacken vor allem gegen Friedrich Merz (CDU) führte. Dem Oppositionsführer und „Flugzwerg aus dem Mittelstand“ hielt sie seine umstrittenen Äußerungen wie „Sozialtourismus“ und „kleine Paschas“ vor und warf ihn kurzerhand in einen Topf mit dem Kriegsverbrecher Putin. Diesem „Wodka-Zwerg“ empfahl sie kurzerhand Selbstmord. Das alles fanden viele in der CDU, aber auch bei den Liberalen als unterste Schublade, passend zu einem insgesamt niveaulosen Auftritt. 

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke prophezeite damals schon, dass sich Strack-Zimmermann mit der Rede keinen Gefallen getan hat. Die Rede sei „weder der ernsten Situation der Kriegszeit“ noch ihr als Verteidigungspolitikerin gerecht geworden. Und von Lucke sollte Recht behalten. Das Wahldesaster der FDP in Berlin wurde intern auch auf Strack-Zimmermanns ohne Rücksicht auf Kollateralschäden geführten Angriff auf die CDU zurückgeführt. Die Begründung: Bürgerlichen Wählern, die mal der CDU, mal der FDP ihre Stimme geben und immer noch auf Schwarz-Gelb hoffen, dürfte der Auftritt kaum gefallen haben. Schließlich machen bei der FDP-Chef Christian Lindner, der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr und Generalsekretär Bijan Djir-Sarai keinen Hehl aus ihrer heimlichen Sehnsucht nach „Jamaika“. 

Auf Twittert präsentiert sich @MAStrackZi anlässlich des „Europe Day“ schon mit der Europaflagge und sagt im Interview der „Zeit“: „Wenn die Partei denkt, ich bin die Richtige (für Europa), dann mache ich das auch.“ Um einen Karriereknick zu vermeiden, muss die Partei der Dame mit dem ausgeprägten Ego eine Perspektive eröffnet haben. Aber mit welchem Posten kann sie rechnen? Die nächste mögliche Kommissarinnen-Stelle fällt absprachegemäß an die Grünen. Also bleibt nur eine herausragende Position im Parlament. Wie gut, dass Nicola Beer, Spitzenkandidatin der Liberalen für die Europawahl 2019, in Fortführung ihrer wenig überzeugenden Rolle als FDP-Generalsekretärin auch als Vizepräsidentin im Europaparlament eine schwache Figur abgibt und der in den Ruhestand wechselnde Werner Hoyer eine von der FDP besetzte Präsidentenstelle bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) frei macht. 

Bei dem so ausgetüftelten Postenschacher schert sich die FDP-Spitze natürlich nicht um die Frage der Eignung der Kandidatinnen. Denn präsidial war das Auftreten der selbst in der FDP wegen ihrer nervenden Art nicht als ministrabel geltenden Strack-Zimmermann bisher gerade nicht, lebte sie bisher doch eher vom krawalligen Unterton und hat in entscheidenden Momenten wie dem Raketeneinschlag in Polen ihre Impulse nicht unter Kontrolle. Und Rechtsanwältin Nicola Beer, in Hessen einst Justiz- und Kultusministerin bringt so gar keine Voraussetzungen für den Spitzenposten bei einer EU-Bank mit. Ämterpatronage dieser Art ist eine besondere Form von Korruption. Mehr Worte muss man darüber nicht verlieren.

Frank Pröse

Durchbrüche, die keine sind

Die Erleichterung war den politischen Protagonisten im Gesicht abzulesen: Auf zwei heftig diskutierten Feldern durften sie endlich Durchbrüche verkünden. Angeblich zieht Europa beim Schutz der Außengrenzen gegen illegale Migration jetzt an einem Strang und angeblich bringt der Heizungskompromiss Deutschland seinem Klimaziel näher. Nun ja, in beiden Fällen zeigt der jeweilige Minimalkonsens, dass die mit den verknüpften Problemen befassten Gesellschaften heillos überfordert sind. Hier die Politiker, die sich der Forderung der Straße folgend zusammenraufen und rasch Ergebnisse zur Deeskalation liefern wollen; dort Bürgerinnen und Bürger, die aufgrund der Komplexität der Themen holzschnittartige Lösungsvorschläge erwarten. Und unterm Strich gibt es kaum Fortschritt. 

  1. Migration

Mit den EU-Beschlüssen werden weder die Außengrenzen sicherer, noch werden in den wie immer auch organisierten Lagern verbriefte humanitäre Standards eingehalten, noch wird die Abschiebung Illegaler erleichtert, noch wird dadurch die Zahl der Immigranten in Deutschland sinken. Den beteiligten Verhandlungsführern bleibt nichts anderes übrig, als die lang ersehnte Einigung der Europäer auf das Minimum zu feiern. Dabei ist nicht einmal das garantiert. Der sogenannte EU-Asylkompromiss wird vor allem für diejenigen ins Schaufenster gestellt, die sich nicht für Feinheiten der weltweiten Migrationsprobleme interessieren, sondern lediglich um die Zahl der Flüchtlinge. Keine Frage, da besteht akuter Handlungsbedarf. Der wieder mal kleinste gemeinsame Nenner auf EU-Ebene wird den damit verbundenen Anforderungen unter anderem aber deshalb nicht gerecht, weil die Fluchtursachen nicht effektiv bekämpf werden sowie keine Aufnahmequoten für legale Flüchtlinge vereinbart und keine Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern geschlossen wurden. Motto: Irgendwie kriegen wir das schon noch hin. Dass dabei die Menschenwürde unter die Räder kommen kann, interessiert doch nicht. Das belegt erstens der bisher erzielte Minimalkompromiss und zweitens interessiert die aufs eigene Wohlergehen achtende Mehrheitsgesellschaft nicht die Bohne. Das weltweite Elend ist das Elend der anderen, das Mitleid hat Grenzen – und die gilt es zu sichern…  

2. Wärmewende

Die Ausprägung des Heizungsgesetzes ist eine gesamtgesellschaftliche Niederlage, wird die Wärmewende doch auf 2028 verschoben, was die Klimaziele extrem gefährdet. Politik und Gesellschaft haben sich bei dem Thema als komplett überfordert gezeigt. Ein Blick zu den Nachbarn zeigt: Die sind viel weiter! Beim Klimaschutz agieren sie mutiger, innovativer, intelligenter, pragmatischer, während sich die Laien in Deutschland über den Boulevard im technischen Kleinklein verhaken und wie schon üblich jeder Kleinstaatenfürst seine Extrawurst gebraten haben will. Auch deshalb ist der Ampel der Kompromiss misslungen. Schließlich wurde der Klimaschutz als das eigentliche Ziel der Aktion auf die lange Bank geschoben. 

Zudem unken nicht wenige Juristen wohl zurecht, dass die jetzt im Parlament behandelten Leitplanken zum Gebäudeenergiegesetz (GEG) mit ihren kleinen Einsparungen und dem späten Inkrafttreten vor dem Hintergrund der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts nicht lange Bestand haben werden. Im wahrscheinlichen Fall einer Klage dürften die von der FDP durchgesetzten Verzögerungen einkassiert werden, heißt es. 

Aber da gibt es ja noch die Bremser in Union. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ sagte Fraktionsvize Jens Spahn: „Wir brauchen auch einfache Botschaften. Lasst uns sagen: Wenn wir regieren, schaffen wir das Heizungsgesetz einfach wieder ab.“ Genau, „einfache Botschaften“, nur niemanden überfordern. Wenn die Ampel das Gesetz über großzügige Fristen und Ausnahmen über Ausnahmen im Sinne des Klimaschutzes verwässert hat, dann sagt die Union die Wärmewende einfach konsequent ab. Deren Überzeugung: Das Ergebnis des Radikalschnitts wird schon nicht so viel schlechter sein und trifft auf den Wunsch einer Bevölkerungsmehrheit nach individueller Freiheit und dem „Weiter so“. Wer sich aber heute in der Bequemlichkeit einrichtet, der wird morgen dafür zur Kasse gebeten. Diese Erkenntnis ist freilich noch nicht weit verbreitet, was auch die Hoffnung der Ampel konterkariert, mit einem nach vielen Seiten offenen Gesetz Verantwortlichkeiten an Eigentümer und Vermieter zu delegieren. Die werden nach den verheerenden Desinformationskampagnen hoffentlich bald in die Lage versetzt, Ökonomie und Ökologie über eine moderne Heiztechnik in Einklang zu bringen. Bisher sind sie mit dieser Aufgabe heillos überfordert. Bis dahin gilt: Funktionierende Heizungen müssen nicht ausgetauscht, eine kaputte Heizung darf repariert werden. Das sorgt für Klarheit, verschleppt aber die Wärmewende… 

Frank Pröse

Selbst ist der Mann / die Frau

Im Bemühen, das veraltete Transsexuellengesetz zu modernisieren, hat sich die Koalition auf dem Terrain der Geschlechtsidentität verrannt. Letztlich ist es sogar fraglich, ob der ersehnte Zugewinn an Menschenwürde auf dem eingeschlagenen Weg überhaupt zu erreichen ist. Der jetzt überarbeitete Entwurf für das der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragende Selbstbestimmungsgesetz strotzt vor juristischen Fallstricken und nimmt die Gesellschaft im Umfeld einer erleichterten Geschlechtsumwandlung in Geiselhaft. Denn wer sich in den Untiefen des komplexen Transgender-Themas verheddert, dem können schon mal Strafen im fünfstelligen Bereich drohen. 

Apropos Drohungen: Die gehören überproportional zum Begleittext der Vorlage. So kann beispielsweise dem getrenntlebenden oder geschiedenen Elternteil, das sich dem vom Kind gewünschten Geschlechts- oder Namenswechsel aus welchen Gründen auch immer widersetzt, das Sorgerecht aberkannt werden. 

Im Begleittext zum Entwurf stellt das Justizministerium zum sogenannten Offenbarungsverbot klar, dass niemand etwas offenbaren kann, wenn es sich um eine bereits bekannte Tatsache handelt. Wenn Hans ab heute als Frau gesehen werden möchte, aber alle in seinem Umfeld eben wissen, dass es sich zuvor um einen Mann handelte, soll danach niemand eine Bestrafung zu befürchten haben. 

Eine Ausnahme vom Offenbarungsverbot gilt für Ehegatten und Verwandte in gerader Linie der Betroffenen. Diese bekommen eine eigene Ausnahme vom Offenbarungsverbot, müssen also zum Beispiel von ihrem Mann/Sohn nicht als ihrer Frau/Tochter reden. Das gilt nicht für Geschwister, sonstige Verwandte, Freunde und Bekannte. Diese müssen ihre auch historischen Begegnungen und Erlebnisse mit dem Antragsteller gegenüber Dritten auf die mit Hilfe des Gesetzgebers neu konstruierte Wirklichkeit abstellen, um ein Bußgeld im potenziell fünfstelligen Bereich sicher zu vermeiden, weil sich der der/die Betroffene ja sonst bei der Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit gekränkt fühlen könnte. 

Der Bußgeldtatbestand wird allerdings durch das Erfordernis einer Schädigungsabsicht eingeschränkt, was das beiläufige Gespräch weniger problematisch macht. Was passiert jedoch, wenn sich beispielsweise ein Trainer schützend vor seine Damenmannschaft stellt und Marlene, die gestern noch Jochen hieß, die Teilnahme an Training und Spielbetrieb verweigert? Oder: Kann die Saunabetreiberin in solchen Fällen zum Schutz der Intimsphäre ihrer Kundinnen noch ungestraft von ihrem Hausrecht Gebrauch machen? In beiden Fällen drohen Klagen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, was der Justizminister zwar verhindern will, was aber im Detail juristisch anspruchsvoll und wegen der zum Teil realitätsfernen Ansprüche der Transgender-Lobby zusätzlich problematisch ist.   

Im Kern geht es im neuen Gesetz um Regelungen für die selbstbestimmte Änderung eines Eintrags in einem staatlichen Register. Wenig spektakulär, sollte man meinen. Doch weit gefehlt. Denn mit den Erklärungen zur Änderung des Geschlechtseintrags oder der Vornamen werden auch Statistiken unbrauchbar, die männliche und weibliche Daten ins Verhältnis setzen. In Medizin und Forschung kann das den Erkenntnisgewinn schmälern. Schlimmer aber ist, dass der Gesetzgeber der Bevölkerung den erstrebten Zugewinn an Selbstbestimmung und Menschenwürde nicht zu vermitteln vermag, auch weil die schrillen Forderungen der Grünen und der Transgender-Lobby das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat in dieser Frage belasten. Wenn unter dem Rubrum Geschlechtsidentität Namen und Geschlecht nach Belieben austauschbar werden, sorgt das jenseits der im Vergleich doch kleinen Transgenderlobby für allgemeine Verunsicherung, denn schließlich werden bisher verlässliche Leitplanken für diese Gesellschaft entfernt. Letztlich spielt das der AfD in die Karten…

Frank Pröse

Die katholische Normfamilie

Dem Diversitäts-Hype zum Trotz: Jedes Kind hat eine Mutter und einen Vater. Und in Deutschland ist es seit 1923 gute Tradition, den zweiten Sonntag im Mai als Ehrentag für Mütter zu reservieren. Im Laufe der Jahre wurde die Kritik an der von Parfümerien, Süßwarenherstellern und Blumenhändlern gekaperten zusätzlichen Geschäfte immer lauter, letztlich finden auch immer mehr moderne Frauen den Ehrentag als nicht mehr zeitgemäß, weil sie Frauen mit Kindern zu Hausmütterchen degradiert und berufstätige Mütter mit weniger Zeit für ihren Nachwuchs diskriminiert sehen. 

Nun gut, ihren Umgang mit dem Muttertag kann jede Familie halten, wie sie will. Schaden kann es freilich nicht, wenn der Nukleus der Familie wenigstens einmal im Jahr besonders gewürdigt wird. Müssen muss niemand. Auch eine katholische Kita im Amöneburger Stadtteil Mardorf muss ihre Kinder nicht für deren Mütter basteln lassen, beispielweise weil ihr die personellen Kapazitäten für individuelle Geschenkbasteleien fehlen. Doch das Kita-Team begründete den Verzicht auf „stereotypische Geschenke“ wie Blumen für die Mutter und Werkzeug für den Vater vor allem mit dem Hinweis auf den „immer höheren Stellenwert der Diversität“. Man möchte das vorleben und „keinen Menschen ausschließen“. 

Forsch wird das christliche Familienbild aufgegeben mit der abenteuerlichen Behauptung, die Familienkonstellation Mutter-Vater-Kind sei nicht mehr die Norm heute und ein Vatertagsgeschenk ohne Vater in der Familie sei nicht nur ohne Wert, sondern könne auch die Identität des Kindes in Frage stellen. Wenn ein Familienbild von Mutter und Vater nicht mehr die Norm ist, was ist es denn dann? Wenn mal keine Mutter oder kein Vater mehr für die Zeugung eines Kindes nötig ist, wenn es mal mehr alleinerziehende Eltern gibt als klassische Familien, dann lässt sich darüber diskutieren, ob das traditionelle Familienbild noch die Norm ist. Heute ist es die Norm. Diese Wahrheit lässt sich auch vom gendergerechten Zeitgeist nicht verbiegen. 

Außerdem: Wer wird denn diskriminiert, wenn Kinder Mutter oder Vater etwas schenken? Auch die Kinder von Alleinerziehenden, von lesbischen oder schwulen Paaren haben Mütter und Väter. Und wenn die nicht zu greifen sind, finden sich immer Abnehmer für Bastelarbeiten aus dem Kindergarten. Es braucht eben etwas Sensibilität für die Kinder, für die andere als Vater oder Mutter die Bezugspersonen sind, denen sie danken wollen; oder für jene, für die Vater- oder Muttertag an einen Verlust erinnern. Das  hat bisher offensichtlich geklappt, sonst hätte die einem völlig überschätzten gendergerechten Zeitgeist geschuldete Entscheidung der Kita in Mardorf nicht das Interesse der Republik auf sich gezogen.

Frank Pröse

Dampfplauderei für Fernwärme

In Bayern stehen Wahlen an. Vor derlei Terminen läuft Dampfplauderer Markus Söder zur Hochform auf. Wenn sich dann an der Umfragefront Themen für Mehrheiten anbieten, springt der „Maggus“ drauf, selbst dann, wenn er mit dem neuen Engagement seine bisherige Politik konterkariert. Zum Stichtag der Abschaltung der letzten Kernkraftwerke in Deutschland fordert er jetzt eine Änderung des Atomgesetzes und eine Länderzuständigkeit für den Weiterbetrieb der Kernkraft: „Das ist nicht das letzte Wort“. 

Richtig „Maggus“! Es wäre vielleicht nicht das letzte Wort, wenn die Gesetzgebungskompetenz nicht aus gutem Grund beim Bund läge, der die Ausführung des Atomgesetzes von Ausnahmen abgesehen an die Länder delegiert. 

Es wäre vielleicht nicht das letzte Wort, wenn Bayern bei Fragen der Endlagerung des Atommülls nicht auf der Bremse stehen würde. „Nicht in Bayern!“ Das stellte schon 2010 der CSU-Bundestagsabgeordnete Max Straubinger fest: „Keine Diskussion über alternative Standorte, sonst zünden wir die ganze Republik an.“ Wenn aber im Freistaat „kein Endlager möglich“ (Söder) ist, dann fragt sich doch auch, wo der Müll entsorgt werden soll, wenn bayerische Meiler in seiner Verantwortung laufen. Wie der Landesvater im Süden tickt, lässt sich auch an der Aufregung ablesen, die ihn befällt, weil Tschechien ein Endlager in der Grenzregion zu Bayern plant. 

„Es sollte uns zu denken geben, dass es nicht eine Rückversicherung auf der Welt gibt, die Versicherungen versichert, die Atomkraftwerke versichern.“

Prof. Harald Lesch in der Sendung „Maischberger“

Es wäre auch nicht das letzte Wort, wenn Bayern die Kernkraft in den eigenen Landen auch selbst mit Milliarden alimentieren würde, denn ohne staatliche Subventionen in stattlicher Höhe und die Übernahme von Risiken ist kein Energiekonzern bereit, in einen Atommeiler zu investieren. Das „Fass ohne Boden“ wurde schon regierungsamtlich festgestellt und war damit einer der Sargnägel für die friedliche Nutzung der Kernenergie. Wer sich Zeithorizonte und Kostenexplosionen eines Neubauprojekts in Finnland anschaut oder die Probleme der Franzosen bei Betrieb und Unterhaltung ihrer Meiler, der kann nicht zu einer anderen Einschätzung kommen. Söder traut sich seinen Vorstoß „auf Kosten des Freistaates“ nur, weil er weiß, dass es ein Rohrkrepierer ist. Denn solange der Atommüll, die Konsequenzen eines Nuklearunfalls und dann auch die Kosten des Rückbaus ein Problem ganz Deutschlands sind, kann es keine Eigenmächtigkeit der Länder geben.

Und wenn „Maggus“ die Sorge um eine Energiekrise umtreibt, dann sollte er so ehrlich sein, dass er den Bau neuer Stromtrassen für die Windenergie aus dem Norden ebenso blockiert wie den Bau von Windsmühlen und somit selbst Engpässe provoziert. Dem Populisten fällt also seine eigene Untätigkeit in Sachen Erneuerbare vor die Füße. Vielleicht vertraut der Landesvater auf die viele heiße Luft, die er so im Laufe einer Legislaturperiode produziert. Die ließe sich vielleicht für Fernwärme nutzen. 

Übrigens: Als Umweltminister drohte Söder 2011 mit einem Rücktritt, wenn der Atomausstieg in Bayern erst nach 2022 abgeschlossen wird. Das war die Zeit, als er noch glaubte, mit dem Umarmen von Bäumen Politik machen zu können. Jetzt klebt er sich, einer Karikatur dieser Tage folgend, am Atommeiler fest. Der Mann gehört in die Umlaufbahn, was Wunschtraum bleiben wird, denn den Weltraumbahnhof in Bayern hat er bisher nur angekündigt…

Döpfners Zeitungswelt

Hat da ein rachsüchtiger Julian Reichelt Einblicke in sein Tagebuch gewährt? „Die Zeit“ hat ihr zugespielte Mails und Chatnachrichten von Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner veröffentlicht, in denen er unter anderen Unsinnigkeiten Ostdeutsche beleidigt, den Klimawandel begrüßt und seinen früheren als Krawallmacher geholten und später geschassten „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt inständig bittet, vor der Bundestagswahl die FDP hochzuschreiben. Einzelheiten des mitunter dummdreisten, oberflächlichen, arroganten, zerfahrenen und manipulativen elektronischen Schriftverkehrs mit Döpfners Führungskräften lassen sich bei „Zeit“ und „Spiegel“ nachlesen.  Es bedarf ihrer aber nicht zu der Feststellung, dass die geistige Dünnbrettbohrerei basierend auf Schwarz-Weiß-Denken und Vorurteilen schon immer zur DNA von „Bild“ gehörte. Die Zeitung für den Stammtisch und die Frühstückspause muss skandalisieren und auf simple und damit schnell fassbare Parolen setzen, das wollen ihre Käufer ja auch lesen. Es fehlt an Fantasie, eine Alternative für diese Zielgruppe zu entwickeln.

Wer Hintergrund, Überparteilichkeit und Haltung schätzt, informiert sich immer schon über andere Medien, die nicht weisungsgebunden berichten und als Kampfblatt tendenziös Stimmung machen. Zur Wahrheit gehört, dass es keine Zeitung gibt, die unparteiisch berichtet. Freie Presse ist ja auch nicht dazu angehalten, neutral zu sein. Sie kann sich unter Wahrung der faktenbasierten Wahrheit, von Menschenverstand und Toleranz offen positionieren und bietet damit dem Konsumenten über die Vielfalt des Angebots die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden.  

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass „Bild“ mit der Macht der Reichweite von Anfang an sowohl Regierungen und Parteien vor sich hergetrieben hat, als auch für die Berichterstattung der Medienkonkurrenz nicht selten Taktgeber war. Weil viele brav übers hingehaltene Stöckchen sprangen, sahen sie sich bei Springer ermutigt, politisch Einfluss zu nehmen, ja, Politik zu machen nach dem Motto: „Bild dir meine Meinung“. Vorverurteilende Inhalte und krakeelender Stil färbten auch auf die Berichterstattung anderer Medien ab, in deren Führungsetagen die Sorge vorherrschte, einen von „Bild“ gesetzten Megatrend zu verschlafen. Es waren und sind zusammen mit willfährigen und publicitygeilen Politikern die Steigbügelhalter der manipulativen Berichterstattung eines Medienimperiums, das damit die Demokratie gefährdet. „Fox-News“ und Co. zeigen doch, wohin das führt. 

Die Döpfners und Murdochs dieser Welt sind die wahren Feinde der Demokratie. Zumindest beim Springer-Chef stellt sich allerdings die Frage, wie es dazu kommen konnte? Die „Zeit“ schreibt dazu: „Von Axel Springer ist der Satz überliefert, Zeitungen sollten zwar an der Politik teilhaben, aber keinesfalls Politik machen. Seine Witwe Friede hat diese Sicht gerade erst bekräftigt. In einem Interview mit der Initiative `Gesichter der Demokratie` sagte sie vor ein paar Tagen: `Journalismus muss Politik begleiten und erklären, nie machen.` Abhängiger oder gar parteiischer Journalismus wäre eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert.“ Die meisten Herausgeber und Verleger in Deutschland haben das verinnerlicht.

Döpfner: „Ich bitte um Entschuldigung“

Eine Frage der Haltung

Der Fall des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag, Marius Weiß, der derzeit die Staatsanwaltschaft in Wiesbaden und natürlich auch die Presse beschäftigt, wirkt nur auf den ersten flüchtigen Blick wenig spektakulär. Es geht um einen offenbar gefälschten Ausweis für das Parkhaus des Hessischen Landtags. Weiß soll den Ausweis für seine im Landtag beschäftigte Ehefrau kopiert und anschließend laminiert haben, damit diese auch während der sonst für sie gesperrten Sitzungswochen im Parkhaus des Landtags parken darf. Der Vorwurf lautet nun auf Urkundenfälschung, deshalb ermittelt nun auch die Staatsanwaltschaft. Soweit kurz und bündig der bisher bekannte Sachverhalt. 

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) betitelt den Fall mit „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher“ und nimmt damit Bezug auf George Orwells Roman „Farm der Tiere“. 
Nun sei dahingestellt, um man diese satirische Streitschrift, die sich ja im Wesentlichen gegen den Stalinismus und vor allem gegen dessen Zerstörung der sozialistischen Ideale richtet, bemühen muss, um eine Verbindung zu dem Fall Marius Weiß herzustellen. Sicher geht es in dieser Fabel auch um Gleichheit und Gemeinschaft, um die Frage, wie Gemeinschaften aufgebaut und strukturiert werden sollten. Und natürlich geht es darum auch der SPD, indem sie die „Vision von einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft“ vertritt. Ob aber die Frage von Gleichheit, die, wie in dem Artikel der FAS zutreffend festgestellt wird, sicher zur DNA der SPD gehört, um den Fall Weiß angemessen zu beschreiben, sei dahingestellt. Und vielleicht ist es denn auch der Ehre zu viel, auf diesem berühmten und sicher hochpolitischen Roman im Falle von Marius Weiß zu verweisen.

Ohne die Brisanz des Falles herunterzuspielen, geht es sicher auch eine Nummer kleiner: 
Das Verhalten von Marius Weiß ist schlicht eine Frage der Haltung, die sich dahinter verbirgt: 
Fehlender Anstand und Respekt, Gier, der nonchalante Umgang mit Regeln und Gesetzen, um nicht zu sagen, deren bewusste Missachtung, sicher auch fehlender Respekt vor den Werten der Partei, vielleicht auch verlorengegangene Bodenhaftung – und das vom Vorsitzenden des Hanau-Untersuchungsausschusses, auf dessen Integrität sowohl die Hinterbliebenen des Anschlags als auch die politischen Weggefährten vertrauen. Für die SPD enthält die vermeintliche Petitesse um den gefälschten Parkausweis zusätzliche Sprengkraft im Kontext zu den novh nicht lange zurückliegenden Fällen des ehemaligen Wiesbadener Oberbürgermeisters Sven Gehrich, den Skandal der Frankfurter AWO oder den des abgewählten Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann. 

Und deshalb geht es im Fall Weiß auch schon längst nicht mehr um die Frage von Schuld im juristischen Sinne. Es mag sein, dass diese am Ende nicht festgestellt oder sich der Vorwurf der Urkundenfälschung nicht erhärtet. Es geht um mangelnde Wertehaltung von gewählten Volksvertretern. Denn wenn diese nicht mehr als Vorbild für unsere Wertegemeinschaft stehen, dann ist dies die eigentliche Gefahr für unser demokratisches Gemeinwesen: Dass die Wähler, die solche Ereignisse sehr sensibel wahrnehmen entweder gar nicht mehr zur Wahl gehen oder, was noch sehr viel brisanter für unsere Demokratie ist, sich zunehmend extremistischen Parteien zuwenden. 

Und wenn man vor diesem Hintergrund George Orwells Roman betrachtet und diesen als dystopische Fabel sieht, bleibt die bittere Erkenntnis, dass sie nichts von ihrer Aktualität verloren hat

Deshalb sollte die SPD-Landesvorsitzende Nancy Faeser, auch im Sinne ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und die der Partei, ein klares Zeichen setzen und Marius Weiß nicht mehr mit einem sicheren Listenplatz ausstatten. Denn mit seiner Haltung hat er nichts mehr im Hessischen Parlament zu suchen.

Kulturgut Profifußball

Corona hat die Branche einigermaßen überstanden. Der Fußball leidet aber weiterhin an einem speziellen Virus namens Hybris. Oder ist es etwa nicht anmaßend, wenn der ehemalige Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL) Andreas Rettig die Politik auffordert, dem Profifußball „als Kulturgut“ entsprechenden Schutz zukommen zu lassen: „Der Fußball muss denselben Schutz genießen wie die kritische Infrastruktur, Medien, oder andere relevanten Bereiche.“ Muss er das? 

Mit dieser Ansage aus der Parallelwelt der von der FIFA als Markenkern vertretenen Gigantomanie im Eventkalender dieser Welt wird wieder einmal bewiesen, dass der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen dazu neigen, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Befördert durch jahrzehntelange, bisher ohne Konsequenzen gebliebene Praxis, hat sich in der Welt der Kicker ein Gefühl der Unantastbarkeit breit gemacht. In der Blase Fußball werden die Probleme des wahren Lebens einfach ausblendet. Wenn nur erst der Ball rollt, sind alle Nebengeräusche über korrumpierte Gewinnmaximierer an der Verbandsspitze, über horrende Spielergehälter und Ablösesummen, über verfehlte entwicklungspolitische Ziele bei der Vergabe von Fußball-Turnieren in arme Regionen dieser Erde oder an autokratische Staaten vergessen. Die Droge Fußball wird´s schon auf dem Rasen richten, meinen die Macher – und merken nicht, dass sie sich zusehends vom Fußballvolk wegbewegen. 

In dieser Welt der Gigantomie gibt es plötzlich Widersacher, durch die das bisher so einträgliche Geschäftsmodell gefährdet wird. Weil das System finanziell längst überfordert ist, erhalten immer öfter Investoren aus Katar oder Saudi-Arabien die Gelegenheit, Fußballclubs zu übernehmen. In der der Szene eigenen Selbstüberheblichkeit formuliert Rettig sein Problem gleich staatstragend: „Wir erleben einen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie.“ Geht´s nicht eine Nummer kleiner? 

Der Fußball soll seine hausgemachten Probleme gefälligst selbst regeln, beispielsweise den korrupten Sauhaufen an der Funktionärsspitze rausschmeißen, das Wertefundament national und international neu errichten, nach US-Vorbild Gehaltsobergrenzen anhand des Gesamtumsatzes des jeweiligen Vereins einführen, damit die Vereine dem ruinösen Rattenrennen um die Spieler entkommen können nen. Das alles sind doch keine gesamtgesellschaftlichen Aufgaben. 

Das sieht auch der Ex-Sportchef des Bundesligisten VfL Wolfsburg Jörg Schmadke so, der gepusht durch die Corona-Krise für grundlegende Änderungen im Profifußball plädiert: „Wir müssen uns unterhalten über Ablösesummen. Wir müssen uns unterhalten über Beraterzahlungen. Wir müssen uns unterhalten über Gehälter.“  Ein radikales Umdenken mahnt auch Augsburg-Geschäftsführer Michael Ströll an: „Jeder muss in den vergangenen Monaten festgestellt haben, dass höher, schneller, weiter nicht immer das richtige Mittel und vor allem in Krisenzeiten enorm gefährlich ist.“ Und: „Wer jetzt nicht kapiert hat, dass dieses System krankt, dem ist nicht mehr zu helfen.“ 

Richtig, das System Fußball ist krank. Seine Behandlung aus dem System heraus steht aus. Stattdessen soll die Politik das Kulturgut Fußball retten, weil das Gekicke in maßloser Selbstüberschätzung der kritischen Infrastruktur der Bundesrepublik zugerechnet wird. Dazu passt eine zugegebenermaßen etwas angestaubte, aber aufschlussreiche Stellungnahme der FIFA. Deren Forscherin Christiane Eisenberg hat dem Fußballsport schon 2006 vor dem deutschen „Sommermärchen“ attestiert, als weltumspannende Kultur keiner Politisierung mehr zu bedürfen: „Der moderne Fußball […] hat sich längst zu einem Kulturgut sui generis entwickelt. Eine Verstärkung durch außersportliche Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, da er für seine Anhänger selbst einen Sinnzusammenhang darstellt.“ Eisenberg verweist dabei auf weltweit über 200 Mitgliedsverbände in der FIFA, die dadurch flächendeckender als selbst die UNO in Erscheinung trete. 

Von solcher Größenordnung und Selbstherrlichkeit geblendet, blenden wir mal aus, dass am hybriden System Weltfußball nicht nur FIFA-Gang-Mitglieder, sondern auch Potentaten, Multimillionäre, skrupellose Geschäftemacher und Kriminelle mitverdienen. TV-Verantwortliche sind an der Expansion des Systems beteiligt, indem sie Unsummen für Übertragungsrechte zahlen. Ein von der EU-Kommission vorgelegtes Weißbuch des Sports benennt die Herausforderungen des Kicksports als Folge dieser ungehemmten Kommerzialisierung: „Ausbeutung von Minderjährigen, Doping, Korruption, Rassismus, illegale Wetten, Gewalt und Geldwäsche“. Noch Fragen zum Kulturgut Fußball?

Raus aus der Bütt

Das muss der Versuch Markus Söders gewesen sein, die Frankenfastnacht nach Berlin zu exportieren. Da steigt der CSU-Chef als prominentester Unionsvertreter nach der Berlin-Wahl in die Bütt und fordert, die stärkste Fraktion müsse die Regierung anführen, habe die CDU doch die meisten abgegebenen Stimmen gesammelt. Da springt die Schwesterpartei aus dem Süden den mit einer widerspenstigen Mehrheit von Rot-Grün-Rot kämpfenden Brüdern an der Spree gerne wortgewaltig bei. Söder gibt den Bajazzo gern, ist er sich doch nicht nur während der Fastnacht für keinen Unsinn zu schade, springt ohne groß nachzudenken über jedes Stöckchen, das ihm hingehalten wird. 

Was wird Söder wohl fordern, wenn demnächst die AfD in Ostdeutschland wieder mal die stärkste Fraktion stellt? In den Umfragen liegen die Rechtsaußen auf breiter Front schon vorne. Bringt sich die CDU im Fall des Falles dann als Juniorpartner der AfD in Stellung, um Söders Gefasel nachträglich Leben einzuhauchen?  Dieses Szenario ist gar nicht so weit hergeholt, denn der in Bayern nicht gerade koalitionserfahrene CSU-Chef unterfüttert sein Verlangen ja mit der Warnung, dass sonst die Demokratie missachtet würde. Staatstragend will er rüberkommen,  der Söder, drunter macht er´s ja nicht. Was schert den Bazi, dass er groben Unsinn verzapft. 

Ein Wahlsieger hat sich seine Mehrheit zu suchen, wenn nicht mehr als 50 Prozent an Stimmen auf ihn entfallen. Was ist daran anti-demokratisch? Die Absprachen einer Koalition entsprechen durchaus dem Wählerwillen und können die Demokratie sogar festigen, beispielsweise indem Extreme an einer Regierung gehindert werden. Die CDU in Berlin muss potenziellen Partnern Angebote machen, die diese nicht ausschlagen können. Dann findet sich auch ein Teil jener Wähler in der Regierung wider, der sich wie in Berlin zur rechnerisch rot-grün-roten Mehrheit zugehörig fühlt. Sind die Offerten nicht attraktiv genug, dann stellt eben womöglich die alte Koalition an derr Spree die neue Regierung. So funktioniert Demokratie sogar zu Zeiten der Frankenfastnacht. 

Mehr FDP? Lieber anders!

Die FDP taumelt. Nach Niedersachsen im Herbst ist sie jetzt in Berlin ein zweites Mal aus einem Landtag geflogen. Da bestätigen sich zwei Trends. Zum einen war die Wiederholungswahl in Berlin für die FDP schon die fünfte erfolglose Bewerbung um mehr Verantwortung auf Landesebene seit Antritt der Ampelkoalition im Bund. Und wieder fällt den bedröppelt drein guckenden Liberalen als Antwort auf die aktuelle Pleite nichts anderes ein, als nach einem Strategiewechsel im Bund zu rufen. Der ist wohl angebracht, aber nicht so, wie sich die FDP-Spitzenpolitiker dazu äußern.  

Parteivize Wolfgang Kubicki, der sich die Niederlage wie zur Bestätigung seines Images zunächst mal Schöntrinken wollte, gehört zu jenen, die das Heil der Partei darin sehen, in der Ampel nur noch das eigene Wohl zu verfolgen nach dem Motto: Noch mehr FDP im Bund!  Wo ist da die neue Strategie? Will die FDP jetzt die Koalition in Berlin im Ernst noch mehr blockieren oder an der Spree öfter ins Regal neoliberaler Selbstverständlichkeiten greifen, was die Wähler beides jetzt schon nicht honorieren? 

Nüchtern betrachtet steht Kubickis Partei aktuell mehr für Klientelpolitik, weniger für Liberalismus. Sie wird nicht für das abgestraft, was sie ihren Leitsätzen entsprechend nicht durchsetzt, sondern für das, was sie wie durchsetzt beziehungsweise blockiert. Dass Wähler pragmatische Kompromisse zur harten Parteilinie verstehen, zeigt sich bei den Grünen. Auch die muten ihren Sympathisanten viel zu. Trotzdem halten sie sich in Umfragen konstant oberhalb ihres Wahlergebnisses von 2021. Warum wohl? Sie arbeiten in schwierigen Zeiten konstruktiv in der Regierung mit.

Diese Reife fehlt den FDP-Strategen, die nach jeder Wahlniederlage konsequent nach demselben Muster dogmatisch unterwegs sind. Mut zur Abweichung vom Parteiprogramm wäre – siehe Grüne – Erfolg versprechender. Und Themen für einen liberalen Lackmustest gibt es zuhauf.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Wie der Vater, so die Tochter? Das Fragezeichen steht für die zu diesem Zeitpunkt angebrachte Unschuldsvermutung bei einem mutmaßlichen Steuervergehen. Um was es geht? Andrea Tandler, die Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs und bayerischen Finanzministers Gerold Tandler, sitz zusammen mit ihrem Geschäftspartner wegen „steuerrechtlicher Vorwürfe“ in U-Haft. Andrea Tandler hatte zu Beginn der Pandemie im Kreise der Corona-Krisengewinnler um Pharmaunternehmen, Kliniken, Ärzte, Politiker-Kollegen und Maskenhersteller die Stunde genutzt und unter anderem ein 700-Millionen-Masken-Geschäft an den Freistaat vermittelt. Es handelte sich um ungewöhnlich teure Schutzmasken zum Preis von 8,90 Euro pro Maske und es sollen Provisionen in Höhe von 48 Millionen Euro geflossen sein. Das allein war offensichtlich für die Staatsanwaltschaft noch nicht justiziabel, obwohl über den Mailverkehr laut „Spiegel“ klar wurde, „ wie hemmungslos Politnetzwerke unter Duzfreunden in Geld umgemünzt wurden“. Es hätte sich also durchaus lohnen können, dem vielfältigen Korruptionsverdacht auf ministerialer Ebene nachzugehen. Doch scheint die Gier der Geschäftspartner so groß gewesen zu sein, dass die Staatsanwaltschaft lieber ganz sicher gehen will und versucht, die beiden über ein Gewerbesteuervergehen hinter Gitter zu schicken. Das erinnert irgendwie an das Ende des Treibens der Gangster-Ikone Al Capone…

Was das mit dem Vater und Amigo von Franz Josef Strauß zu tun hat? Gerold Tandler war als Minister in die millionenschwere (darunter machen es die Tandlers nicht) Affäre rund um den Bäderkönig und Steuerflüchtling Eduard Zwick verwickelt gewesen. Es war der Höhepunkt eins Lehrstücks über die „Amigo“-Wirtschaft in Bayern und ist jetzt knapp 30 Jahre her. Die freundschaftlichen Bande scheinen aber bis heute zu halten, das hat die Tochter mit Erfolg ausgetestet – auch noch mithilfe der Strauß-Tochter Monika-Hohlmeier, was alles unstrittig ist. Was lernen wir daraus? Geschichte wiederholt sich und Vater Tandler war offensichtlich ein guter Lehrmeister.

Vorm Mauerfall

Wie sieht Abgrenzung aus? Die Frage darf man schon mal stellen, in diesem Fall an die CDU-Führung. Die scheint nämlich ihren Kompass im Umgang mit der AfD verloren zu haben, zumindest hat sie ihre Gliederungen im Osten nicht im Griff. „Keine Zusammenarbeit mit der Alternative für Deutschland…, weder in direkter noch indirekter Form“, das ist für die CDU beschlossene Sache und nennt sich Brandmauer gegen Rechts. Das schließt nicht aus, dass Schwarz-Gelb im Thüringer Landtag das eine oder andere Mal mit der AfD gemeinsam wirken, weil die Rechtsextremen einer Regierungsvorlage zustimmen. Im parlamentarischen Alltag ist das nicht zu vermeiden. In das Dilemma kommen auch andere Parteien – auch im Westen. 

Skandalös wird es aber, wenn die CDU im Bautzener Kreistag einem Antrag der AfD zugestimmt. Es war offensichtlich zu verlockend, mit Leistungskürzungen für abgelehnte Asylbewerber beim Publikum Punkte sammeln zu können. Das in einem Kreis, in dem vor wenigen Wochen eine Flüchtlingsunterkunft angezündet wurde. Was ist also mit der von der CDU so oft postulierten Brandmauer gegen Rechts? Steht sie noch auf wackligem Fundament oder unmittelbar vor dem Fall – zumindest in Ostdeutschland?  

CDU-Chef Friedrich Merz ist angetreten mit dem Ziel, den Stimmenanteil der AfD zu halbieren. Dabei ist er krachend gescheitert, wurde die AfD doch in Thüringen inzwischen zur stärksten Kraft. Der Erfolg der Rechtsextremisten bringt die CDU im Osten in die Klemme. Erste zaghafte Versucher der Annäherung gibt es in Sachsen. In Meißen sagt der stellvertretende CDU-Vorsitzende Sven Eppinger zur Zusammenarbeit mit der AfD: „Mauern fallen immer. Und auch so sieht man im Konrad-Adenauer-Haus manches an den Realitäten vorbei.“

Es fällt schon auf, dass sich nicht nur auf kommunaler Ebene ideelle Mauerdurchbrüche ankündigen. Michael Kretschmer, Ministerpräsident in Sachsen und Stellvertreter von Merz im Parteivorstand, fällt immer wieder mit fragwürdigen Äußerungen auf. Oder er sagt nichts, wo er hätte Kritik anbringen müssen, wie im Fall des CDU-Landrats Udo Witschas in Bautzen, dessen fremdenfeindliche Äußerungen in Flüchtlingsfragen, die Bundes-CDU harsch verurteilte.  

Wenn es gegen Flüchtlinge geht, dann ist Witschas dabei, dann hebt er die Hand für einen AfD-Antrag zu Leistungskürzungen für angelehnte Asylbewerber. In der Sache ist das eine Lappalie, denn der Großteil der Leistungen ist auf Bundes- oder Landesebene geregelt. Es zählt vielmehr die Symbolik , mit der die CDU-Gremien auf höherer Ebene bloßgestellt werden. Wenn sie Verstöße gegen Parteibeschlüsse nicht wie groß angekündigt (Metz) sanktionieren, bröckelt die Mauer bald auch im Westen.

Turbo für die Windkraft

In Hessen dauert es mehr als 38 Monate, bevor ein neues Windrad gebaut ist, im Bundesdurchschnitt ziehen sich die Verfahren 23 Monate hin. Auch das ist viel zu lange, sollen die dem Klimawandel geschuldeten ehrgeizigen Ziele zum Windkraftausbau kein Wunschtraum bleiben. Also plant die Bundesregierung ein Gesetz zum beschleunigten Ausbau von Windkraftanlagen. In vielen Fällen sollen Umweltverträglichkeitsprüfungen und artenschutzrechtliche Prüfungen künftig nicht mehr nötig sein. Sie sollen vor allem für jene Anlagen entfallen, wenn für deren ausgewiesenes Gebiet bereits eine „strategische Umweltprüfung“ vorgenommen wurde.

Dieser Turbo für die Windkraft provoziert Widerstand, gelten die Windmühlen doch vielen als der Gesundheit abträgliche lärmende Schlagschattenwerfer und als Schredderanlagen für seltene und nützliche Tiere. Die Umweltschützer wollen nicht, dass die Regierung nun „Klimaschutz gegen Natur- und Artenschutz ausspielt“ und dabei den Anlagenbetreibern auch noch deren Geschäft vergoldet. Denn: „Geld kann man nicht essen.“  Das ist wohl wahr, gleichwohl gehen die Kritiker von der falschen Prämisse aus. Ist der beschleunigte Ausbau von Windparks im Kampf gegen den Klimawandel doch per se Natur- und Artenschutz. Das dürfte im Übrigen die Zustimmung der Grünen zu diesem Paradigmenwechsel im Zusammenspiel des Planungs- und Genehmigungsrechts befördert haben. Wenn das Klima kippt, sind schließlich sämtliche Naturlandschaften und alle Lebewesen in ihrer Existenz gefährdet.  

Um das zu verhindern, muss der jetzt beschlossene Turbo noch aufgeladen werden mit der Beseitigung weiterer Hürden. Für den schleppenden Aufbau sind doch neben der ausufernden Planung auch fehlende Kapazitäten verantwortlich: Es fehlt an Personal in der Verwaltung, bei der Herstellung der Anlagen wie auf der Baustelle. Und es fehlen Trassen und Speicher. Außerdem muss der Bund den Turbo schmieren und finanzielle Risiken abdecken, etwa durch das Setzen bundeseinheitlicher Standards und/oder mittels Bürgschaften. Und nicht zuletzt: Sollen die ehrgeizigen Ausbauziele für die Erneuerbaren mehr sein als ein Versprechen, dann muss der Bund den Ländern gegen­über forscher auftreten.   

10 Jahre plus x

Der Mann schafft es regelmäßig in die Schlagzeilen, denn Markus Söder ist Markus Söder ist Markus Söder. Der ist sich nicht für ständige Kehrtwenden zu schade, umarmt fürs Green-Washing des Amtes schon mal Bäume oder taucht als Pendant des computeranimierten Kinohelden Shrek (jiddisch: Schrecken) in der fränkischen Fastnacht auf. Kann es da verwundern, dass das Alpha-Männchen im Freistaat Beifall heischend und wieder einmal Grundsätze über Bord werfend mit seiner weit, weit entfernten politischen Zukunft kokettiert. Die zweite Amtszeit wegen ausstehender Wahlen noch nicht einmal gesichert, denkt der bayerische Ministerpräsident schon an übermorgen und kokettiert mit einer dritten Amtszeit. 

Noch 2018 überraschte Söder mit der Ankündigung, maximal zwei Amtszeiten in München regieren zu wollen. Eine von ihm vorgeschlagene entsprechende Verfassungsänderung scheiterte am Widerstand der Opposition. Nun gut, sagt sich Söder nun, dann mache ich eben 10 Jahre plus x, wenn mich die Bayern dann noch wollen; der in der Corona-Krise omnipräsente Blackout-Prophet wie er leibt und lebt: das Wichtigste in Söders politischer Agenda ist er selbst. Da stehen Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit, Prinzipientreue und Zuverlässigkeit hintenan. Aber was soll man erwarten von einem, der ein Poster von Franz-Josef Strauß im Kinderzimmer hängen hatte? 

Was von der Dampfplauderei bleibt? Bis zur übernächsten Wahl ist noch lange hin, solange sollten die CSU und ihr Vorturner mit den möglichen 5 Jahren plus x in Demut zufrieden sein. Können Olaf Scholz und die CDU-Granden nun aufatmen, wo Söder mit dem angekündigten Verbleib in Bayern den Traum vom Kanzleramt aufgegeben zu haben scheint? Eher nicht, zumal sein neuer Männerfreund Friedrich Merz schwächelt. Da wittert der Bayer, der sich im Prinzio jeden Job zutraut, immer eine Chance und pfeift zur Not auf de Männerfreundschaft. Söder ist eben Söder ist eben Söder…

EU-Muskelspiele

So kommt es, wenn man Muskeln spielen lassen will, die man nicht hat. Bei außenpolitischen Themen oder geostrategischen Themen plustert sich die EU gerne auf, um letztlich feststellen zu müssen, von den Verhandlungspartnern wegen des Stimmengewirrs in der EU nicht allzu ernst genommen zu werden. Ein ähnliches Bild bietet sich auf dem Feld der Finanz-und Wirtschaftspolitik, bei der die Mitglieder der Gemeinschaft zum Schaden aller keineswegs gemeinsam handeln. Nicht einmal innerhalb des Closed-Shop funktionieren die Muskelspiele. 

War den wenig kooperativen Mitgliedern Polen und zuletzt vor allem Ungarn nicht das Einfrieren erheblicher Geldzuflüsse angekündigt worden, weil beiden Staaten gravierende Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und andere Grundwerte der EU vorgeworfen wurde? Davon ist nun bei den Verhandlungen für den künftigen Finanzrahmen der EU nicht viel übriggeblieben. Eingefroren seien nur bestimmte für Ungarn vorgesehene Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt, heißt es. Was nicht anderes bedeutet, als dass die für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU zuständige EU-Kommission wieder einmal nicht so weit gesprungen ist, wie sie es unter dem Applaus der Mehrheit der EU-Mitglieder angekündigt hat.

Mit Zahlen lässt sich das nicht belegen, weil die Behörde diese geheim hält. Es lässt jedoch tief blicken, wenn die Geheimnistuerei damit begründet wird, dass bei Veröffentlichung der Zahlen deren Instrumentalisierung durch EU-Gegner in den EU-Nettozahler-Ländern befürchtet wird. Wie bitte?  Da werden ungeniert und rotzfrech Bilanzen versteckt, auf deren Veröffentlichung die Steuerzahler ebenso ein Anrecht haben, wie auf die daraus möglicherweise folgende Kritik am Finanzgebaren der EU. Es ist schließlich der Bürger Geld, dass in Brüssel verteilt wird. Nicht einmal für Transparenz gegenüber ihren Wählern hat die EU-Spitze genügend A…. in der Hose. Und merke: Die Grundwerte der EU werden nicht nur an deren Außengrenzen sondern auch mitten in Brüssel verraten.     

April, April

Die Ampel-Regierung will, dass Unpünktlichkeit in Schulen nicht mehr geahndet wird und plant laut „Cicero“ ein erstes Ergänzungsgesetz zum neuen Selbstbestimmungsgesetz. Nach der Ermöglichung der freien Wahl des Geschlechtes sollen künftig auch weitere gesellschaftliche Normen zur Disposition stehen, um die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern. Durch das neue Zeitfreiheitsgesetz sollen vor allem Kinder und Jugendliche vom Stressfaktor Pünktlichkeit entlastet werden. Der Popanz um die Zeit sei unnötig. „Wir haben mit der Sekundärtugend der Pünktlichkeit ein falsches Ideal propagiert“, heißt es in dem Gesetzentwurf, das der „Cicero“-Redaktion angeblich vorliegt. 

Chapeau, der Aprilscherz-Coup des Magazins ist gelungen! Auch ich habe eine Weile gebraucht, ehe mir der zufällige Blick aufs Datum die Augen öffnete. Aber mal ehrlich: Zuzutrauen wäre es der Ampel, nach den neuen Freiheiten bei der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und dem Cannabis-Konsum mal eben im Handstreich mit einem „Gute-Zeiten-Gesetz“ aus der Tugend Pünktlichkeit eine Untugend zu machen. Wer hält denn in jedem Fall eine Stellungnahme der Grünen für unrealistisch, in der es heißt: „Zeit ist etwas Individuelles, wir dürfen nicht zu Sklaven unserer Uhren werden.“ Selbst die Reaktion aus dem anderen politischen Lager spielt sich vor dem geistigen Auge ab: Da echauffiert sich Friedrich Merz in bekannter Manier mit: „Nur weil die kleinen Paschas nach dem Fastenbrechen noch ausschlafen müssen“.

Gut gemacht, liebe Kollegen. Noch ist es ein Aprilscherz, aber man kann ja nie wissen…

Frank Pröse

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