Essay

Zwischen den Zeiten

Von Fabian Ernst

Spätnachts liege ich in meinem Bett, allein. Gedanken drehen sich ununterbrochen in meinem Kopf, Reste von Dialogen, Bildern, Begegnungen. Ich komme längst nicht mehr zur Ruhe. Der Wahlkampf tötet meinen Schlaf, an mehr als drei Stunden am Stück ist nicht mehr zu denken.

…hoffentlich nicht! Foto: Gert Altmann / Pixabay

Alles ist zu viel. Alles scheint auseinanderzufallen. Alles geht kaputt. Es ist nicht mehr klar, auf welcher Seite der Zeit wir leben – in der alten Zeit der Demokratie, schon in der neuen Zeit der Autokratie oder noch irgendwo mittendrin in einer anarchischen Zwischenwelt. Zu spüren war es schon vor der Corona-Pandemie, es war nur ein Hauch, doch seither ist es offensichtlich: Die Gesellschaft kollabiert, nichts funktioniert mehr richtig. Die Menschen sehnen den Untergang herbei. Wohin führt das alles?

Ausgebrannte Lehrer und rabiate Neonazi-Polizisten, Massen an asozialen Phishing-Mails, aggressive alte Männer in der Warteschlange vor der Supermarkt-Kasse, Schlafwandler und Deutschland-Hasser, hysterische Esoterik-Trullas, die vom Ende der Welt und der „Revolution gegen das System“ schwafeln, Chem-Trails und den Deep State für sich entdeckt haben und längst von Corona-Impfgegnern zu Querdenkern in jeder Hinsicht und Putin-Verstehern mutiert sind. Gleichzeitig machen sie mächtig Geld mit vorwiegend verwirrten und orientierungslosen Frauen in der Sinnkrise, denen sie überteuerte und nutzlose Online-Heilungen andrehen, obwohl sie selbst gut einen Psychiater gebrauchen könnten. Letzten Endes aber geht es nur noch darum, das Vertrauen in Politik und Gesellschaft zu zerstören.

Dazu kommen asoziale Unternehmen mit ihren neuen Produkten, die niemand braucht, mit sinnlosen Gadgets und ihren Mogelpackungen, die den Leuten für weniger Ware mehr Geld aus den Taschen ziehen. Aggressive Betrüger am Telefon, die verängstigte Senioren abzocken, die alltäglichen dreisten Lügen. Autokult und Fitness-Wahn, intolerante Veganer, Tattoo-Monster und bis zum Anschlag mit Botox gefüllte Pornostars, die sich als Rapperin versuchen. Dazu grimmig blickende Imame und jede Menge Vollbartträger mit viel Migrationshintergrund.

Biedere bisher heterosexuelle sechzigjährige Geschäftsleute erleben ihr ebenso überraschendes wie öffentliches Coming-Out, ebenso wie zwanzigjährige Milchbubis, die urplötzlich deutlich spüren, dass sie ein unglückliches Leben im falschen Körper führen und deshalb das Geschlecht wechseln. Nichts ist mehr selbstverständlich, alles gerät aus den Fugen, alles wird in Frage gestellt. Irgendwie fühlt sich jeder benachteiligt und fordert dafür vom Staat umgehend Hilfe oder einen Ausgleich. Wofür auch immer. Alles ändert sich, aber zugleich muss alles so bleiben, wie es immer war. Ich weiß nicht, wohin das noch führt.

Und dieser Staat fällt jeden Tag weiter auseinander, verliert Form und Fassung. Tod durch permanente Überforderung. Überall fehlt Geld. Auch deshalb, weil die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern absolut nichts mehr zumuten darf. Steuererhöhungen rufen sofort Massenproteste hervor, wer lauter schreit, hat immer recht. Die Klage ist der neue Gruß aller Deutschen. Immer steht gleich die Existenz in Frage, kleiner geht es nicht mehr. Daher wird alles subventioniert: Corona-Hilfen, Corona-Impfungen, Energie-Sofort-Hilfen, gesenkte Mehrwertsteuern, Elektro-Autos, Heizungen, Traktoren-Diesel, Solar-Anlagen und so weiter und so fort. Niemand darf vergessen werden. Der Staat übernimmt für alles die Verantwortung, er muss für alles einspringen. Aus bloßer Angst, den Nazi-Wutbürger in den Vorgärten, Werkstätten und Wohnzimmern zu wecken. Wir behandeln die Deutschen wie einen Blindgänger, der laut und vernehmlich tickt. In jedem Moment droht die Explosion. Auch die Industrie lässt ihre Lobby-Drähte glühen, damit sie das größte Stück vom Subventions-Kuchen bekommt. Sie schwafeln vom freien Markt und zu viel Bürokratie, von Liberalismus und der Kraft der Innovation. Aber für die Ansiedlung von Tech-Firmen oder neue KI-Systeme zahlen die Steuerbürger und gehen für die Firmen ins Risiko.

Die Regierung bietet längst ein echtes Rundum-Sorglos-Paket für alles, was wiederum die Ansprüche der Bürger weiter ins Unermessliche wachsen lässt. Das Gleiche gilt natürlich für die Staatsschulden, aber das interessiert irgendwie niemanden mehr. Hauptsache ist, dass jetzt genügend Kohle da ist, weil wir jetzt alles verfrühstücken wollen. Dass wir mit der Natur genauso wenig nachhaltig umgehen, ist nur die andere Seite der Medaille. Dass Nachhaltigkeit auch und nicht zuletzt für die Finanzen gelten sollte, damit wir den Spielraum der kommenden Generationen nicht unzulässig einengen, die ja sicherlich ihre eigenen Krisen erleben werden und dazu Geld brauchen, gehört zu jenem tabuisierten Wissen, das in der Öffentlichkeit jedenfalls nicht mehr ausgesprochen werden darf. Der völlige Offenbarungseid einer ganzen Gesellschaft. Maßlos, panisch, haltlos, rücksichtslos und restlos egoistisch.

Längst sind die Spitzenpolitiker der Regierung nahezu täglich Anfeindungen ausgesetzt. Ob beim Wandern mit Freunden, ob beim Urlaub mit der Familie oder bei öffentlichen Auftritten – der enthemmte Mob pöbelt schamlos, attackiert und fühlt sich dabei absolut im Recht. Jede Entscheidung der Politik wird schlecht geredet. Aufgestachelt werden die Leute nicht zuletzt in dubiosen Internetforen, die von Reichsbürgern oder eben der „Bewegung“ von Sarah Alice Weidelknecht betrieben werden. Je mehr Radikalität, Chaos und Unzufriedenheit, desto besser für den ersehnten Umsturz von ganz Rechtsaußen. Wieder einmal träumt halb Deutschland von Erlösung durch Untergang. Das hatten wir schon einmal, vor gefühlt tausend Jahren. Dafür kennt die Wissenschaft den Begriff „kollektive Paranoia“. Wohin führt uns das?

Unter liberalen Denkern war es einst unbestritten, dass Demokratie die Lizenz zum Streiten ist. Wir sind uns einig, dass wir uneinig sind und über den besten Weg streiten dürfen. „Agree to disagree“, heißt es so schön im Englischen. Von dieser toleranten Haltung ist nichts mehr übriggeblieben. Die Auffassung, dass auch der Kontrahent mal ins Schwarze treffen könnte und die eigene Meinung nicht immer das Gelbe vom Ei sein muss, hat sich in Luft aufgelöst. Schöne alte Welt. Heute gilt nur noch die eigene Meinung.  Die Fähigkeit, einen vorhandenen Disput in ruhigen, freundlichen Worten zu bewältigen, ist leider restlos abhandengekommen. Stattdessen wird unflätig beschimpft, bedroht und ausgegrenzt. Aggressiv-gereiztes Schwarz-Weiß-Denken und zugleich der Wunsch nach immerwährender Harmonie. So denkt der Deutsche im 21. Jahrhundert. Die Erkenntnis, dass das eigene Ego nicht immer im Mittelpunkt stehen muss, dass es wohltuend und befreiend ist, mal nicht nur an sich selbst zu denken, hat sich endgültig pulverisiert.

Nach vielen Jahren habe ich mal wieder die Schallplatte „Monarchie und Alltag“ der legendären Düsseldorfer Band „Die Fehlfarben“ aufgelegt. Laut pumpt sich der Slogan in mein Hirn: 

„Ernstfall – es ist schon längst so weit! Ernstfall – Normalzustand seit langer Zeit!“

Nichts könnte treffender sein: Die Auftritte der Regierung etwa auf Marktplätzen oder Universitäten sind nur noch mit massivem Polizeischutz möglich. Sollte sogar einem langmütigen Charakter wie Olaf Schlumpf einmal der Geduldsfaden reißen, wenn er von durchgeknallten Querdenkern und Nazis niveaulos beschimpft wird und er sie daraufhin als Nichtsnutze bezeichnet, die auch mal arbeiten gehen könnten, kennt der Shit-Storm im Netz keine Grenzen: Überheblich, abgehoben und elitär sind noch die harmlosesten Zuschreibungen. Andere wollen ihn ins Gefängnis stecken oder gleich als Volksverräter zunächst an den Pranger stellen und dann am liebsten vierteilen. Aufrufe zur Gewalt sind an der Tagesordnung, überall sieht man Konterfeis der Regierungsmitglieder an virtuellen Galgen baumeln, der Wunsch nach Umsturz ist mit Händen zu greifen.

Lässt Olaf Schlumpf die Urheber solcher Aussagen ausfindig machen und strengt dann eine Klage wegen Verleumdung, Volksverhetzung oder Beleidigung an, nennt Sahra Alice Weidelknecht solchen Selbstschutz umgehend „peinlich und weinerlich“. Die krawalligen zehn Prozent der Deutschen bestimmen die Debatte und besetzen gezielt Begriffe wie „Freiheit“ und Volkssouveränität“ neu und nach ihren Wünschen, der große Rest der Leute hat sich schlafwandlerisch aufs heimische Sofa zurückgezogen, zieht das Kissen über die Kopf und hofft, das alles nur ein böser Traum ist.

Nichts hat mehr allgemeine Gültigkeit, nichts ist selbstverständlich. Keine Religion, kein Glaube, keine Institution, nichts führt die Menschen mehr zusammen. Recht und Anstand gehören offenkundig einer untergegangenen Zivilisation an. Zwar sprechen wir noch Deutsch, aber niemand versteht mehr einander. Babylon ist auch in Bielefeld. Das Zeitalter der Demokratie geht zu Ende. Überall die neuen, alten autoritären Helden. In den USA, in Russland, in China und Ungarn. Jetzt auch in Deutschland. Wir wissen so viel, von den Atomen und dem Weltall, von der Chemie und vom Menschen. Und doch haben wir uns von der Vernunft und dem Verstand verabschiedet. Wir sind wir wieder beim Trieb angekommen. Unser Sinn des Lebens zerfällt in tausend Splitter – Nacht und noch mehr Nacht umgibt uns. Unser altes Leben ist zerstört und vernichtet. Muss ich wirklich den Rest meines Lebens mit den Tino Dumballas, Alexander Deutschlands und Björn Deppes in dieser Welt leben?Gerne würde ich durch ein großes Tor in eine andere Welt gehen, in eine freundliche, helle Welt. Darin leben Menschen, die noch Mitgefühl empfinden können. Die noch zuhören können und nicht jede Gelegenheit für einen eigenen Monolog nutzen. Leben in einer Welt des Friedens und Miteinanders. Stattdessen taumeln ausnahmslos erschöpfte und restlos traumatisierte Gespenster durch meinen Alltag. Mitten in der Nacht wache ich schreiend auf und blicke auf den Wecker: Es ist 3.35 Uhr, ich starre an die Zimmerdecke. Alpträume quälen mich. Es ist wie eine Achterbahnfahrt, die nach einer Runde nicht aufhört, sondern immer weitergeht. Ich kann nicht mehr. Aber immer weiter. Immer weiter. Runde um Runde, ohne jede Pause. Achterbahnfahren ist aufregend und schön. Wirklich. Aber irgendwann nach der 10.000. Fahrt willst du aussteigen.

Sprache, Kultur, Deutschland – Dreiklang in Moll

Von Matthias Müller

Seit mehr als 70 Jahren leistet das Goethe-Institut mit seinen Filialen im Ausland wertvolle Kulturarbeit, vermittelt Werte wie Demokratie, ist für Menschen in vielen Ländern eine der wenigen Möglichkeiten, ohne Zensur einen Blick auf die Welt zu werfen. Im Idealfall ist es Kommunikator ohne Zeigefinger. Wenige der deutschen Außenminister widmeten dem Wirken dieses renommierten kulturellen Botschafters die notwendige Aufmerksamkeit. Auch Annalena Baerbock nutzt in Zeiten der Sparsamkeit ihren Kultur-Etat als Steinbruch für andere Haushaltslöcher. Unter ihr werde die Lage der Goethe-Institute wieder prekär, so der Kommentar von Vladimir Balzer dieser Tage im Deutschlandfunk.

Neun der 159 Einrichtungen sollen geschlossen werden. Der Ansatz für die Neuausrichtung des Goethe Instituts ist gut. Weniger Repräsentation, dafür mehr Programmarbeit kann gerade in den Krisenregionen des Ostens ein Baustein für den Aufbau ziviler Gesellschaften sein. In Moldau beispielsweise oder im Kaukasus. Und auch die Ausweitung der Tätigkeit auf die vom Klimawandel betroffenen Inseln im Pazifik macht Sinn. Doch der Rückzug aus den Metropolen des Westens hinterlässt einen faden Beigeschmack. Deutschland verzichtet abseits der diplomatischen Kanäle auf eine Möglichkeit des Diskurses mit einer jungen kritischen Öffentlichkeit.

Statt eines ausführlichen Kommentars zwei Auszüge aus meinem Reisetagebuch von 2016. Auf der Fahrt mit dem Zug entlang der Seidenstraße von Offenbach am Main an den Mekong bin ich in Wolgograd und Buchara in Usbekistan zwei Menschen begegnet, die dort nicht nur unsere Sprache erlernt haben:

14. November 2016, Wolgograd

Wolgograd vermitteltem mir auch einen spannenden Blick auf das junge Russland. Nach einem Spaziergang entlang der Wolga (schmaler als in meiner Vorstellung) habe ich ein Cafe besucht. Hier bedient Vladimir. Vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Nachdem er bemerkt, dass ich kein Wort seiner Begrüßung in Russisch verstehe, fragt er: „Sind Sie Deutscher?“ und beginnt mit mir ein Gespräch in meiner Muttersprache. Akzentfrei und ohne Grammatikfehler. Er hat Deutsch  im Goethe-Institut gelernt. Er weiß noch nicht, ob er seinem Bruder nach Dresden folgen will. Nächste Woche geht es erst einmal für 14 Tage nach Österreich. Aber dann wieder zurück. Später will er vielleicht einmal auf Work-and-Travel-Tour. Das Cafe in dem er arbeitet, hätte in jeder deutschen Stadt seinen Platz. Modern eingerichtet, viel weiß lasiertes Holz, bequeme Sessel, angenehme Musik und ein wirklich guter Obstkuchen. „Und man spricht deutsch“ wie mir Vladimir zum Abschied zuzwinkert.

Vladimir steht für das junge Wolgograd mit seinen vielen Studenten, die wahrscheinlich bestens qualifiziert sind. Die andere Seite sieht man auf den Märkten, wo Männer und Frauen bei Minusgraden stehen, um zwei Glas Honig oder einige Nüsse verkaufen, um den nächsten Tag zu überstehen.

Ich habe in den letzten Jahren bei meinen Touren in vielen Ländern diese Vladimirs und dessen weibliche Kolleginnen getroffen. Es gibt in Russland  nicht nur rechtsradikale Jugendliche, wie gelegentlich suggeriert wird, sondern viele Heranwachsende, die neugierig auf diese Welt sind, den Austausch mit anderen Kulturen suchen. Die daraus lernen und gleichzeitig stolz auf ihre Heimat sind. Aber die Vladimirs brauchen eine Perspektive jenseits des Säbels mit dem der große Vladimir rasselt.

Volgograd: Beklemmung und Hoffnung

Samstag, 19. November 2016, Bucharas

….Danach ein Blick in eine Koranschule. Betreten werden darf nur die Vorhalle am Eingang zum  Hof. Auf großen Tafeln werden die Lerninhalte in Englisch beschrieben. Neben den Lehren Allahs wird sehr viel Wert auf Sprachen, Physik und Mathematik  gelegt. Nach dem Besuch diverser Moscheen und eines mittelalterlichen Studentenwohnheims mit schmalen Kammern steige ich hoch auf die Burg. Hier treffe ich Olebruck, so habe ich seinen Namen verstanden.

Olebruck spricht perfekt Deutsch, ohne Akzent. Eigentlich unterrichtet er an der Musikschule. Er spielt Stehgeige. 2010 gastierte er mit der Gruppe Karavan in der Berliner Philharmonie, ein Konzert, das von der UNESCO organisiert wurde.  Auf dem Handy hat einige Stücke gespeichert, die er mich hören lässt. Traurige usbekische Weisen.

Deutsch hat Olebruck im Goethe-Institut gelernt. Er erzählt mir, wie wichtig eine solche Einrichtung für ein Land wie Usbekistan sei. Hier habe er Zugang zu Literatur, zu Filmen, zu Zeitschriften. In der Hauptstadt Toshkent und in der Filiale in Buchara werde hervorragende Arbeit geleistet. Er selbst kann vom Musikunterricht nicht leben, deshalb sein Nebenjob im Museum. Hinter der Tür auf dem Foto hat er sich in einem etwa 1,5 Quadratmeter großen Raum eingerichtet. Stuhl, Tisch, Regal. Dort lernt er jetzt Chinesisch.

https://matthiasmueller1950.com/2016/11/21/samstag-19-november-2016-buchara/

Zwei Briefe zu Krieg und Frieden

Von Dr. Heidrun Weber-Grandke

„Die Katastrophe ist eingetreten. Mein Sohn Nika, 26 Jahre alt, ist in Bachmut gefallen. Tot, mein einziger Sohn, Vater eines zweijährigen Mädchens, verheiratet und Landwirt wie ich, Valentin. Wir bauen seit vier Generationen in Aleisk,  nordöstlich von Kasachstan Weizen und Gerste an. Wir haben die Corona-Krise wirtschaftlich gut überstanden, wir konnten sogar unser Land erweitern und einen neuen modernen Mähdrescher kaufen, wenn auch gebraucht. Jetzt haben wir einen Haufen Schulden, aber Nika wollte modernisieren. Erist seit vier Jahren sehr engagiert bei uns eingestiegen. Die vierte Generation steckt mehr in Technik und effiziente Arbeit als wir alten Bauern. 

Foto: Brigitte Werner / Pixabay

Aber dann kam dieses Jahr Mitte Januar die russische Mobilmachung für die Operation Ukraine und mein Sohn war Feuer und Flamme für die Abwehr der westlichen Imperialisten und Neokolonialisten. Er hat einen Chatfreund aus dem Donezbecken, der sich als Russe fühlt. Seit 2015 ist seine Familie arbeitslos. Nach dem der Steinkohleabbau dort erschöpft war und die Konflikte mit den Separatisten tobten, kam kaum noch wirtschaftliche Unterstützung der ukrainischen Regierung an. Die Politiker in Kiew wollten sich seit 2015 eher dem europäischen Westen anschließen, das Donbassgebiet wurde nach der Flucht des russischfreundlichen Präsidenten Janukowitsch finanziell vernachlässigt. Sein Chatfreund Yegor fühlte sich schon seit langem von Kiew im Stich gelassen und eher russisch.

Nika hat viel gelesen über den Westen, die USA. Er ist kein Nationalist, aber er denkt patriotisch wie die meisten Landwirte hier. Seit 1989 dehnt sich die Nato immer mehr nach Osten aus. Die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, einige ehemalige Teile Jugoslawiens und Finnland sind bereits Mitglied. So grenzt die Nato weitgehend direkt an Russland. Russlands westliche Grenze ist aber geostrategisch die Achillesferse unseres Landes, sagt mein Sohn. Man kann leicht einmarschieren, es gibt keinen Schutz, kein Gebirge, kein Meer. Nur Belarus und die Ukraine stellten bislang noch einen Puffer dar zur fünf mal stärkeren Militärmacht, der Nato.

Als die USA 2003 völkerrechtswidrig in den Irak marschierten, fast 40.000 irakische Soldaten und über eine Millionen Zivilisten töteten, las mein Sohn Nika sehr viel über Politik und vernachlässigte sein Studium. Ich fürchtete schon, er würde ganz in die Politik einsteigen. Zwei Jahre vorher hatten die USA und ihre Verbündeten einen Krieg in Afghanistan begonnen. In zwanzig Jahren wurde dieses blühende Land mit intakter Landwirtschaft in eine Steppe verwandelt und in den Ruin getrieben. Mehr als 50.000 Menschen starben. Nun ja, bei unserer russischen Intervention in Afghanistan ein Jahrzehnt vorher starben auch über 10.000 Menschen, aber das Land hatte noch Hoffnung. Auch der Iran ist erst durch die Einmischung der USA 1953 zu einem totalitären Staat geworden, erzählte mein Sohn. Der rechtskräftig  gewählte demokratische Premierminister Mohammad Mossadegh wurde durch völkerrechtswidriges Betreiben der Nachrichtendienste der USA und England gestürzt, nachdem er sein Öl nicht mit England und den USA teilen wollte. So ist der gesamte Nahe Osten durch westliche Einmischung zerstört worden und unsere Angst ist groß, dass diese Supermacht, die drei mal mächtiger als China und Russland zusammen ist, immer weiter in den Osten vordringt. Wenn es um amerikanische Interessen geht, wird jede Grenze ignoriert, so auch in vielen südamerikanischen Staaten.

Nika sprach immer von Neutralität der westlichen Grenzstaaten. Er hätte sich wie viele seiner Freunde gewünscht, dass die Ukraine neutral geworden wäre, ähnlich wie die Schweiz, vielleicht am Anfang unter Schutz von einer internationalen Truppe. Dann wäre die russische Grenze sicher und für die Ukrainer wäre es doch auch nicht schlecht. Vielleicht wäre es dann sogar seinem Chatfreund Yegor wirtschaftlich besser gegangen.

Aber jetzt ist Nika tot und damit ist auch mein Leben, das meiner und seiner Frau und unserer kleinen Enkelin Anna zerstört. Wir fühlen uns am Ende, auch mit unserer Landwirtschaft und den vielen Schulden, die wir jetzt nicht mehr abtragen können. Wir sind ohne Zukunft und Hoffnung.

Er fiel am 11. Juli in Bachmut. Wir Russen hatten einige Kilometer gut gemacht, dann haben die Ukrainer fast alles wieder zurückerobert. So geht das schon seit vielen Wochen. Immer einige Kilometer vor und dann wieder einige Kilometer zurück. Dabei fallen hunderte Soldaten täglich auf russischer und ukrainischer Seite. Hunderte Menschenleben für einige Kilometer vorwärts und hunderte Menschenleben für einige Kilometer rückwärts. Hunderte Familien täglich zerstört, hunderte Existenzen vernichtet, die Natur und Landwirtschaft sowieso.

Bevor Nika starb, hatte er einen Panzer in die Luft gejagt, sechs ukrainische Soldaten starben. So kommt er als Held in russische Erde. Aber was nutzt uns das. Nika wollte verhindern, dass die Ukraine sich auch der aggressiven Supermacht anschließt und seinem Freund Yegor helfen, der lieber zu Russland will, aber ich war von Anfang an gegen diesen Krieg, gegen jeden Krieg. Die Ukrainer sind doch fast unsere Brüder, wir verstehen die Sprache.

Ich bin orthodoxer Christ und will nur Frieden auf der Welt. Gerade hatten wir unser Weihnachtsfest am 6. Januar mit der ganzen Familie gefeiert – Anna hatte sich so über ihre neue Puppe gefreut – als Nika eingezogen wurde. Ich werde jetzt eine Kerze für Nika anzünden. Gott will doch auch Frieden. Er hat uns das fünfte Gebot mitgeteilt: Du sollst nicht töten.“

Valentin, Vater von Nika am 18. Juli 2023

„Maksym ist tot, gefallen am 11. Juli in Bachmut, getötet durch eine Explosion seines Panzers. Auch seine fünf Mitstreiter leben nicht mehr. Mein Sohn wurde nur 23 Jahre alt. Er hat sein Studium der Agrarwissenschaften unterbrochen und ist an die Front gegangen, um sein Land vor den russischen Aggressoren zu verteidigen. In zwei Jahren wollte ich etwas kürzer treten und unseren großen Hof an Maksym übergeben. Wir haben vor Putins völkerrechtswidrigen Einmarsch gut verdient. Unsere Felder im Zentrum der Ukraine bei Uman gelegen sind humusreich und bei unserem günstigen Klima sind die Erträge gut. Jetzt sind die Speicher voll, Abtransport und Verkauf sind allerdings schleppend oder es funktioniert gar nicht oder das Getreide  gelangt in russische Hände. Treibstoff und Dünger sind ohnehin kaum zu bezahlen.

Wir fühlen uns dem Westen zugehörig. Meine Frau Maria ist mit unserer kleinen Tochter Alina nach Deutschland geflüchtet, nach Nürnberg.

Maksym war von Anfang an dabei, seit Februar 2022, alle seine Kommilitonen haben sich für die Front gemeldet. Es war für ihn ganz klar, kämpfen zu müssen. Er will wie seine Freunde in die EU, vorher aber schon in die Nato. Als die UdSSR zerfiel, war er noch nicht geboren, Russland ist für ihn innerlich weit weg. Ein paar Wochen, bevor Putin unrechtmäßig die Grenze überschritt, hatte er mit seiner Freundin Daria eine Reise nach Paris geplant, sein Traum.

Ich ärgere mich nur, dass die Kinder unserer Reichen sich drücken und das sind hier auch ganz viele. Sie sind sofort nach dem Angriff ins Ausland gegangen, wie auch immer sie das geschafft haben. Die Eltern sind ebenso weg, vor allem die Väter. Durch meine Tätigkeit im Landwirtschaftsrat habe ich viele Kontakte. In Asien sind viele unserer Oligarchen. Sie leben recht gut auf Bali oder in anderen Ferienzentren. Dort treffen sie auf russische Oligarchen und wie ich gehört habe, trinken und essen sie zusammen, zum Teil in gleichen Hotels. So lassen sie es sich gut gehen, während ihre ärmeren Landsleute im Krieg, Angst und Not leben.

Meine Zuversicht ist weg, dass wir den Krieg bald gewinnen. Der Westen unterstützt uns zwar, aber das reicht nicht. Und das ganze Land wird auf Dauer verwüstet. Wie sollen wir später noch Landwirtschaft betreiben? Jetzt wollen uns die USA Streubomben schicken, unser Präsident ist dafür, aber ich sehe als Bauer auch die Zerstörung. Der Boden wird auf viele Jahre unbrauchbar. Noch unsere Enkel werden sich an den Blindgängern schwer verletzen.

Ich bin kriegsmüde, das darf ich hier kaum öffentlich sagen, aber ich bin es. Nach dem Tod meines lieben Maksyms erst recht. Ich wünsche mir schon so lange Verhandlungen, ich glaube nicht mehr an ein Ende des Krieges durch einen militärischen Erfolg.

Maksym ist mutig und motiviert in den Krieg gezogen. Nach dem Massaker von Butcha durfte ich kein Wort mehr von möglichen Friedensverhandlungen äußern. Dieser brutale Feind sollte endlich vernichtet werden, aus unserem Land getrieben werden. Maksym sprach ständig von westlichen Werten, die er verteidigt. Aber was sind westliche Werte? Haben nicht auch die USA Guantanamo und Folterkammern in Syrien?

Ja, aber der Westen sei doch frei. Da könnte man seine Meinung frei äußern und kein Oppositioneller käme ins Straflager wie Nawalny. Das stimmt, wenn auch im Westen Whistleblower und Menschen, die Kriegsverbrechen und andere Verbrechen aufdecken, dafür hart bestraft werden wie Chelsea Manning,  Julian Assange und Ed Snowden. In solchen Fällen ist die Rechtstaatlichkeit auch im Westen ausgesetzt.

Für mich sind alle Menschen gleich und ich bin kriegsmüde, will nur noch Frieden. Ich werde gleich eine Kerze für Maksym anzünden. Was sagt eigentlich Gott dazu? Hätte Jesus gekämpft? Menschen getötet? Wäre er dann nach seinem Tode nach drei Tagen auferstanden und säße zu Rechten Gottes? Hätte Gottes Sohn das zerstört, was sein Vater geschaffen hat? Wäre er Gottes Sohn, wenn er das fünfte Gebot gebrochen hätte? 

Wie fühlen sich Christen in Russland und in der Ukraine in der Kirche, wenn sie beten, Weihnachten und Ostern feiern, fühlen sie sich als Nachfolger Jesu?“

Oleksandr, Vater von Maksym am 18.7.2023


*Zur Klarstellung: Beide Briefe sind erfunden

Dr. Heidrun Weber-Grandke (Jahrgang 1953) ist Apothekerin in Offenbach, engagiert sich in der Malteser-Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM Offenbach) und war in verschiedenen Friedensinitiativen aktiv.

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