Essay

Sprache, Kultur, Deutschland – Dreiklang in Moll

Von Matthias Müller

Seit mehr als 70 Jahren leistet das Goethe-Institut mit seinen Filialen im Ausland wertvolle Kulturarbeit, vermittelt Werte wie Demokratie, ist für Menschen in vielen Ländern eine der wenigen Möglichkeiten, ohne Zensur einen Blick auf die Welt zu werfen. Im Idealfall ist es Kommunikator ohne Zeigefinger. Wenige der deutschen Außenminister widmeten dem Wirken dieses renommierten kulturellen Botschafters die notwendige Aufmerksamkeit. Auch Annalena Baerbock nutzt in Zeiten der Sparsamkeit ihren Kultur-Etat als Steinbruch für andere Haushaltslöcher. Unter ihr werde die Lage der Goethe-Institute wieder prekär, so der Kommentar von Vladimir Balzer dieser Tage im Deutschlandfunk.

Neun der 159 Einrichtungen sollen geschlossen werden. Der Ansatz für die Neuausrichtung des Goethe Instituts ist gut. Weniger Repräsentation, dafür mehr Programmarbeit kann gerade in den Krisenregionen des Ostens ein Baustein für den Aufbau ziviler Gesellschaften sein. In Moldau beispielsweise oder im Kaukasus. Und auch die Ausweitung der Tätigkeit auf die vom Klimawandel betroffenen Inseln im Pazifik macht Sinn. Doch der Rückzug aus den Metropolen des Westens hinterlässt einen faden Beigeschmack. Deutschland verzichtet abseits der diplomatischen Kanäle auf eine Möglichkeit des Diskurses mit einer jungen kritischen Öffentlichkeit.

Statt eines ausführlichen Kommentars zwei Auszüge aus meinem Reisetagebuch von 2016. Auf der Fahrt mit dem Zug entlang der Seidenstraße von Offenbach am Main an den Mekong bin ich in Wolgograd und Buchara in Usbekistan zwei Menschen begegnet, die dort nicht nur unsere Sprache erlernt haben:

14. November 2016, Wolgograd

Wolgograd vermitteltem mir auch einen spannenden Blick auf das junge Russland. Nach einem Spaziergang entlang der Wolga (schmaler als in meiner Vorstellung) habe ich ein Cafe besucht. Hier bedient Vladimir. Vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Nachdem er bemerkt, dass ich kein Wort seiner Begrüßung in Russisch verstehe, fragt er: „Sind Sie Deutscher?“ und beginnt mit mir ein Gespräch in meiner Muttersprache. Akzentfrei und ohne Grammatikfehler. Er hat Deutsch  im Goethe-Institut gelernt. Er weiß noch nicht, ob er seinem Bruder nach Dresden folgen will. Nächste Woche geht es erst einmal für 14 Tage nach Österreich. Aber dann wieder zurück. Später will er vielleicht einmal auf Work-and-Travel-Tour. Das Cafe in dem er arbeitet, hätte in jeder deutschen Stadt seinen Platz. Modern eingerichtet, viel weiß lasiertes Holz, bequeme Sessel, angenehme Musik und ein wirklich guter Obstkuchen. „Und man spricht deutsch“ wie mir Vladimir zum Abschied zuzwinkert.

Vladimir steht für das junge Wolgograd mit seinen vielen Studenten, die wahrscheinlich bestens qualifiziert sind. Die andere Seite sieht man auf den Märkten, wo Männer und Frauen bei Minusgraden stehen, um zwei Glas Honig oder einige Nüsse verkaufen, um den nächsten Tag zu überstehen.

Ich habe in den letzten Jahren bei meinen Touren in vielen Ländern diese Vladimirs und dessen weibliche Kolleginnen getroffen. Es gibt in Russland  nicht nur rechtsradikale Jugendliche, wie gelegentlich suggeriert wird, sondern viele Heranwachsende, die neugierig auf diese Welt sind, den Austausch mit anderen Kulturen suchen. Die daraus lernen und gleichzeitig stolz auf ihre Heimat sind. Aber die Vladimirs brauchen eine Perspektive jenseits des Säbels mit dem der große Vladimir rasselt.

Volgograd: Beklemmung und Hoffnung

Samstag, 19. November 2016, Bucharas

….Danach ein Blick in eine Koranschule. Betreten werden darf nur die Vorhalle am Eingang zum  Hof. Auf großen Tafeln werden die Lerninhalte in Englisch beschrieben. Neben den Lehren Allahs wird sehr viel Wert auf Sprachen, Physik und Mathematik  gelegt. Nach dem Besuch diverser Moscheen und eines mittelalterlichen Studentenwohnheims mit schmalen Kammern steige ich hoch auf die Burg. Hier treffe ich Olebruck, so habe ich seinen Namen verstanden.

Olebruck spricht perfekt Deutsch, ohne Akzent. Eigentlich unterrichtet er an der Musikschule. Er spielt Stehgeige. 2010 gastierte er mit der Gruppe Karavan in der Berliner Philharmonie, ein Konzert, das von der UNESCO organisiert wurde.  Auf dem Handy hat einige Stücke gespeichert, die er mich hören lässt. Traurige usbekische Weisen.

Deutsch hat Olebruck im Goethe-Institut gelernt. Er erzählt mir, wie wichtig eine solche Einrichtung für ein Land wie Usbekistan sei. Hier habe er Zugang zu Literatur, zu Filmen, zu Zeitschriften. In der Hauptstadt Toshkent und in der Filiale in Buchara werde hervorragende Arbeit geleistet. Er selbst kann vom Musikunterricht nicht leben, deshalb sein Nebenjob im Museum. Hinter der Tür auf dem Foto hat er sich in einem etwa 1,5 Quadratmeter großen Raum eingerichtet. Stuhl, Tisch, Regal. Dort lernt er jetzt Chinesisch.

https://matthiasmueller1950.com/2016/11/21/samstag-19-november-2016-buchara/

Zwei Briefe zu Krieg und Frieden

Von Dr. Heidrun Weber-Grandke

Foto: Brititte Werner / Pixabay

„Die Katastrophe ist eingetreten. Mein Sohn Nika, 26 Jahre alt, ist in Bachmut gefallen. Tot, mein einziger Sohn, Vater eines zweijährigen Mädchens, verheiratet und Landwirt wie ich, Valentin. Wir bauen seit vier Generationen in Aleisk,  nordöstlich von Kasachstan Weizen und Gerste an. Wir haben die Corona-Krise wirtschaftlich gut überstanden, wir konnten sogar unser Land erweitern und einen neuen modernen Mähdrescher kaufen, wenn auch gebraucht. Jetzt haben wir einen Haufen Schulden, aber Nika wollte modernisieren. Erist seit vier Jahren sehr engagiert bei uns eingestiegen. Die vierte Generation steckt mehr in Technik und effiziente Arbeit als wir alten Bauern. 

Aber dann kam dieses Jahr Mitte Januar die russische Mobilmachung für die Operation Ukraine und mein Sohn war Feuer und Flamme für die Abwehr der westlichen Imperialisten und Neokolonialisten. Er hat einen Chatfreund aus dem Donezbecken, der sich als Russe fühlt. Seit 2015 ist seine Familie arbeitslos. Nach dem der Steinkohleabbau dort erschöpft war und die Konflikte mit den Separatisten tobten, kam kaum noch wirtschaftliche Unterstützung der ukrainischen Regierung an. Die Politiker in Kiew wollten sich seit 2015 eher dem europäischen Westen anschließen, das Donbassgebiet wurde nach der Flucht des russischfreundlichen Präsidenten Janukowitsch finanziell vernachlässigt. Sein Chatfreund Yegor fühlte sich schon seit langem von Kiew im Stich gelassen und eher russisch.

Nika hat viel gelesen über den Westen, die USA. Er ist kein Nationalist, aber er denkt patriotisch wie die meisten Landwirte hier. Seit 1989 dehnt sich die Nato immer mehr nach Osten aus. Die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, einige ehemalige Teile Jugoslawiens und Finnland sind bereits Mitglied. So grenzt die Nato weitgehend direkt an Russland. Russlands westliche Grenze ist aber geostrategisch die Achillesferse unseres Landes, sagt mein Sohn. Man kann leicht einmarschieren, es gibt keinen Schutz, kein Gebirge, kein Meer. Nur Belarus und die Ukraine stellten bislang noch einen Puffer dar zur fünf mal stärkeren Militärmacht, der Nato.

Als die USA 2003 völkerrechtswidrig in den Irak marschierten, fast 40.000 irakische Soldaten und über eine Millionen Zivilisten töteten, las mein Sohn Nika sehr viel über Politik und vernachlässigte sein Studium. Ich fürchtete schon, er würde ganz in die Politik einsteigen. Zwei Jahre vorher hatten die USA und ihre Verbündeten einen Krieg in Afghanistan begonnen. In zwanzig Jahren wurde dieses blühende Land mit intakter Landwirtschaft in eine Steppe verwandelt und in den Ruin getrieben. Mehr als 50.000 Menschen starben. Nun ja, bei unserer russischen Intervention in Afghanistan ein Jahrzehnt vorher starben auch über 10.000 Menschen, aber das Land hatte noch Hoffnung. Auch der Iran ist erst durch die Einmischung der USA 1953 zu einem totalitären Staat geworden, erzählte mein Sohn. Der rechtskräftig  gewählte demokratische Premierminister Mohammad Mossadegh wurde durch völkerrechtswidriges Betreiben der Nachrichtendienste der USA und England gestürzt, nachdem er sein Öl nicht mit England und den USA teilen wollte. So ist der gesamte Nahe Osten durch westliche Einmischung zerstört worden und unsere Angst ist groß, dass diese Supermacht, die drei mal mächtiger als China und Russland zusammen ist, immer weiter in den Osten vordringt. Wenn es um amerikanische Interessen geht, wird jede Grenze ignoriert, so auch in vielen südamerikanischen Staaten.

Nika sprach immer von Neutralität der westlichen Grenzstaaten. Er hätte sich wie viele seiner Freunde gewünscht, dass die Ukraine neutral geworden wäre, ähnlich wie die Schweiz, vielleicht am Anfang unter Schutz von einer internationalen Truppe. Dann wäre die russische Grenze sicher und für die Ukrainer wäre es doch auch nicht schlecht. Vielleicht wäre es dann sogar seinem Chatfreund Yegor wirtschaftlich besser gegangen.

Aber jetzt ist Nika tot und damit ist auch mein Leben, das meiner und seiner Frau und unserer kleinen Enkelin Anna zerstört. Wir fühlen uns am Ende, auch mit unserer Landwirtschaft und den vielen Schulden, die wir jetzt nicht mehr abtragen können. Wir sind ohne Zukunft und Hoffnung.

Er fiel am 11. Juli in Bachmut. Wir Russen hatten einige Kilometer gut gemacht, dann haben die Ukrainer fast alles wieder zurückerobert. So geht das schon seit vielen Wochen. Immer einige Kilometer vor und dann wieder einige Kilometer zurück. Dabei fallen hunderte Soldaten täglich auf russischer und ukrainischer Seite. Hunderte Menschenleben für einige Kilometer vorwärts und hunderte Menschenleben für einige Kilometer rückwärts. Hunderte Familien täglich zerstört, hunderte Existenzen vernichtet, die Natur und Landwirtschaft sowieso.

Bevor Nika starb, hatte er einen Panzer in die Luft gejagt, sechs ukrainische Soldaten starben. So kommt er als Held in russische Erde. Aber was nutzt uns das. Nika wollte verhindern, dass die Ukraine sich auch der aggressiven Supermacht anschließt und seinem Freund Yegor helfen, der lieber zu Russland will, aber ich war von Anfang an gegen diesen Krieg, gegen jeden Krieg. Die Ukrainer sind doch fast unsere Brüder, wir verstehen die Sprache.

Ich bin orthodoxer Christ und will nur Frieden auf der Welt. Gerade hatten wir unser Weihnachtsfest am 6. Januar mit der ganzen Familie gefeiert – Anna hatte sich so über ihre neue Puppe gefreut – als Nika eingezogen wurde. Ich werde jetzt eine Kerze für Nika anzünden. Gott will doch auch Frieden. Er hat uns das fünfte Gebot mitgeteilt: Du sollst nicht töten.“

Valentin, Vater von Nika am 18. Juli 2023

„Maksym ist tot, gefallen am 11. Juli in Bachmut, getötet durch eine Explosion seines Panzers. Auch seine fünf Mitstreiter leben nicht mehr. Mein Sohn wurde nur 23 Jahre alt. Er hat sein Studium der Agrarwissenschaften unterbrochen und ist an die Front gegangen, um sein Land vor den russischen Aggressoren zu verteidigen. In zwei Jahren wollte ich etwas kürzer treten und unseren großen Hof an Maksym übergeben. Wir haben vor Putins völkerrechtswidrigen Einmarsch gut verdient. Unsere Felder im Zentrum der Ukraine bei Uman gelegen sind humusreich und bei unserem günstigen Klima sind die Erträge gut. Jetzt sind die Speicher voll, Abtransport und Verkauf sind allerdings schleppend oder es funktioniert gar nicht oder das Getreide  gelangt in russische Hände. Treibstoff und Dünger sind ohnehin kaum zu bezahlen.

Wir fühlen uns dem Westen zugehörig. Meine Frau Maria ist mit unserer kleinen Tochter Alina nach Deutschland geflüchtet, nach Nürnberg.

Maksym war von Anfang an dabei, seit Februar 2022, alle seine Kommilitonen haben sich für die Front gemeldet. Es war für ihn ganz klar, kämpfen zu müssen. Er will wie seine Freunde in die EU, vorher aber schon in die Nato. Als die UdSSR zerfiel, war er noch nicht geboren, Russland ist für ihn innerlich weit weg. Ein paar Wochen, bevor Putin unrechtmäßig die Grenze überschritt, hatte er mit seiner Freundin Daria eine Reise nach Paris geplant, sein Traum.

Ich ärgere mich nur, dass die Kinder unserer Reichen sich drücken und das sind hier auch ganz viele. Sie sind sofort nach dem Angriff ins Ausland gegangen, wie auch immer sie das geschafft haben. Die Eltern sind ebenso weg, vor allem die Väter. Durch meine Tätigkeit im Landwirtschaftsrat habe ich viele Kontakte. In Asien sind viele unserer Oligarchen. Sie leben recht gut auf Bali oder in anderen Ferienzentren. Dort treffen sie auf russische Oligarchen und wie ich gehört habe, trinken und essen sie zusammen, zum Teil in gleichen Hotels. So lassen sie es sich gut gehen, während ihre ärmeren Landsleute im Krieg, Angst und Not leben.

Meine Zuversicht ist weg, dass wir den Krieg bald gewinnen. Der Westen unterstützt uns zwar, aber das reicht nicht. Und das ganze Land wird auf Dauer verwüstet. Wie sollen wir später noch Landwirtschaft betreiben? Jetzt wollen uns die USA Streubomben schicken, unser Präsident ist dafür, aber ich sehe als Bauer auch die Zerstörung. Der Boden wird auf viele Jahre unbrauchbar. Noch unsere Enkel werden sich an den Blindgängern schwer verletzen.

Ich bin kriegsmüde, das darf ich hier kaum öffentlich sagen, aber ich bin es. Nach dem Tod meines lieben Maksyms erst recht. Ich wünsche mir schon so lange Verhandlungen, ich glaube nicht mehr an ein Ende des Krieges durch einen militärischen Erfolg.

Maksym ist mutig und motiviert in den Krieg gezogen. Nach dem Massaker von Butcha durfte ich kein Wort mehr von möglichen Friedensverhandlungen äußern. Dieser brutale Feind sollte endlich vernichtet werden, aus unserem Land getrieben werden. Maksym sprach ständig von westlichen Werten, die er verteidigt. Aber was sind westliche Werte? Haben nicht auch die USA Guantanamo und Folterkammern in Syrien?

Ja, aber der Westen sei doch frei. Da könnte man seine Meinung frei äußern und kein Oppositioneller käme ins Straflager wie Nawalny. Das stimmt, wenn auch im Westen Whistleblower und Menschen, die Kriegsverbrechen und andere Verbrechen aufdecken, dafür hart bestraft werden wie Chelsea Manning,  Julian Assange und Ed Snowden. In solchen Fällen ist die Rechtstaatlichkeit auch im Westen ausgesetzt.

Für mich sind alle Menschen gleich und ich bin kriegsmüde, will nur noch Frieden. Ich werde gleich eine Kerze für Maksym anzünden. Was sagt eigentlich Gott dazu? Hätte Jesus gekämpft? Menschen getötet? Wäre er dann nach seinem Tode nach drei Tagen auferstanden und säße zu Rechten Gottes? Hätte Gottes Sohn das zerstört, was sein Vater geschaffen hat? Wäre er Gottes Sohn, wenn er das fünfte Gebot gebrochen hätte? 

Wie fühlen sich Christen in Russland und in der Ukraine in der Kirche, wenn sie beten, Weihnachten und Ostern feiern, fühlen sie sich als Nachfolger Jesu?“

Oleksandr, Vater von Maksym am 18.7.2023


*Zur Klarstellung: Beide Briefe sind erfunden

Dr. Heidrun Weber-Grandke (Jahrgang 1953) ist Apothekerin in Offenbach, engagiert sich in der Malteser-Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM Offenbach) und war in verschiedenen Friedensinitiativen aktiv.

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