Murks mit Methode

Kinderarmut ist ein Skandal. Noch immer bestimmt der Zufall der Geburt über Karrieren, Lebenschancen und Lebensqualität. Kinder aus armen Familien sind im Bildungssystem benachteiligt. Bei der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe sind sie oft außen vor, weil es an Geld, aber auch an sozialem und kulturellem Kapital fehlt, das dem Nachwuchs aus Mittel- und Oberschichtfamilien schon im Elternhaus vermittelt wird. Dass es geboten und vernünftig ist, Kinderarmut zu bekämpfen, dürfte deshalb kaum jemand bestreiten. Umstritten ist allerdings, welcher Weg dabei der Beste ist. Die Ampelkoalition in Berlin hat sich für die Einführung einer „Kindergrundsicherung“ entschieden. Doch bei der Umsetzung hakt es. Das Projekt ist hochumstritten. Fachleute raten gar dazu, es abzublasen. 

Umfang und Struktur von Kinderarmut

Was wissen wir über Kinderarmut? Zunächst, Kinderarmut als gesonderten sozialen Tatbestand gibt es eigentlich nicht. Es ist immer die Armut ihrer Familien, die Kinder arm macht. Deshalb ist die Betrachtung des Kontextes hier besonders wichtig.

Die Europäische Statistikstelle Eurostat spricht in diesem Zusammenhang von „Armutsgefährdung“. Armutsgefährdet ist man nach den Konventionen der Europäischen Union, wenn das verfügbare Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens des jeweiligen Landes beträgt. Diese sogenannte „Armutsschwelle“ betrug in Deutschland im Jahr 2022 für einen Alleinstehenden 15.000 Euro, für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern 31.500 Euro. Es geht also um relative, nicht um absolute Armut. Es hängt auch von dem Wohlstandsniveau eines Landes ab, wer in dieser Definition als arm gilt. 

Kinder, die in Familien mit einem Einkommen unter dieser Schwelle leben, gelten als armutsgefährdet. In Deutschland waren das 2022 nach diesem Maßstab 14,8 Prozent aller Kinder. Das ist deutlich weniger als der EU-Durchschnitt von 19,3 Prozent. Es ist weniger als in Spanien (27,8%), Frankreich (21,7%) oder Schweden (17,2%), aber mehr als in Polen (14,3%), den Niederlanden (12,7%) oder Dänemark (10,1%). 

Bei näherer Betrachtung wird erkennbar, dass Immigranten und die Kinder aus Migrationsfamilien besonders armutsgefährdet sind. Auf EU-Ebene liegt die Armutsgefährdungsquote von Kindern mit mindestens einem im Ausland geborenen Elternteil bei 32,8 Prozent gegenüber 14,8 Prozent bei Kindern, bei denen beide Eltern im jeweiligen Meldeland geboren sind. Auch in Deutschland klafft diese Schere auseinander: 24,7 Prozent Gefährdungsquote bei Kindern aus Migrationsfamilien, nur 8.3 Prozent bei Familien mit Geburtsort beider Eltern in Deutschland. Das müssen in der EU-Statistik gar nicht unbedingt Deutsche sein. Auch in Familien von Nicht-Deutschen als Eltern der zweiten, in Deutschland geborenen, Migrantengeneration haben offenkundig weniger Armutsrisiken als neu zugezogene Immigranten. 

Man sieht das auch, wenn man die Armutsgefährdung von Kindern im Zeitverlauf betrachtet. Die beiden großen Immigrationswellen der letzten zehn Jahre, nach der Flüchtlingskrise von 2015 und zuletzt nach der Flucht der Menschen aus der Ukraine nach dem russischen Angriffskrieg Anfang 2022 sprang die Gefährdungsquote jeweils deutlich nach oben. 

Wenn man die Zahl der Kinder in Familien im Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2 („Hartz 4“, ab 2023 „Bürgergeld“) betrachtet, bestätigt sich dieses Bild. Die Zahl der Kinder mit deutscher Nationalität ist in diesem System von 1,6 Millionen im Jahr 2013 auf gut eine Million im Jahr 2022 sehr deutlich zurückgegangen, die der Kinder mit ausländischer Nationalität hat sich von 291 Tausend in 2013 auf 917 Tausend in 2022 mehr als verdreifacht. Auch hier gab es nach 2015 und 2022 jeweils einen kräftigen Schub nach oben. 

Der Faktor Immigration

Kinderarmut hat also auch etwas mit Integration zu tun. Es ist ein übliches und keineswegs überraschendes Muster, dass Immigranten in der ersten Phase nach der Ankunft sich zu hohen Anteilen am unteren Ende der Einkommensskala finden. Integration, die Suche nach einem Arbeitsplatz und der Aufstieg von niedrig bezahlten Einstiegsjobs auf qualifiziertere Stellen brauchen Zeit. Insofern ist Armut immer ein Begleitphänomen von Immigration. Mit wirksamer Integrationspolitik lässt sich diese Phase abkürzen. Ganz verhindern lässt sie sich aber in der Mehrheit der Fälle wohl nicht. Wie der letzte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gezeigt hat, hätte es in Deutschland einen deutlichen Rückgang der Armut gegeben, wenn man den Faktor Immigration herausrechnen würde. Dass der statistisch gemessene Armutslevel weitgehend gleich blieb und zuletzt sogar wieder leicht anstieg, hat allein damit zu tun, dass Deutschland sehr viele Menschen aus dem Ausland aufgenommen und in seinem sozialen Sicherungssystem versorgt hat. 

Der Befund des engen Zusammenhangs von Armut und Immigration schmälert den Handlungsbedarf keineswegs. Er zeigt nur, dass die Sache etwas komplizierter ist, als in vielen dramatisierenden Beschreibungen der Armutsdynamik angenommen, die die sozialpolitische Diskussion dominieren. 

Das Konzept der Kindergrundsicherung

Die hauptsächlich von den Grünen vorangetriebene Kindergrundsicherung will Kinderarmut in erster Linie mit Geld bekämpfen. Nach dem Vorschlag von Ministerin Lisa Paus soll es einen sogenannten „Garantiebetrag“ von 250 Euro pro Monat und Kind geben. Dieser Garantiebetrag soll das bisherige Kindergeld in gleicher Höhe ablösen. Dazu soll es pro Kind und Monat 15 Euro für kulturelle Teilhabe geben und 30 Euro für Schulbedarf. 

Da der Garantiebetrag den Bedarf für den Lebensunterhalt für Kinder schon auf einfachstem Niveau nicht deckt, ist für Kinder, deren Eltern ein niedriges Einkommen haben oder von Leistungen der Grundsicherung leben, ein Zusatzbetrag vorgesehen, der nach Alter gestaffelt ist, für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren etwa maximal 262 Euro. In diesem Zusatzbetrag soll, so die Ministerin, auch ein Teil für Mietkosten enthalten sein. 

Eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern im Alter von 8 und 14 Jahren, die vollständig auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen ist, hätte dann, so weit man das mit den bisher vorliegenden Zahlen des Regierungsentwurfs berechnen kann, ein um 90 Euro pro Monat höheres Familieneinkommen. Im Jahr fließen der Familie bei einer durchschnittlichen Miete netto statt 33 Tausend 34 Tausend Euro zu, plus geldwerte Vorteile wie GEZ-Befreiung und kommunale Vergünstigungen im Rahmen von Sozialpässen oder ähnlichen örtlichen Angeboten. Eine Allerziehende mit einem Kind hätte 40 Euro mehr zur Verfügung. 

Für Kinder bestimmte Leistungen fließen immer in das Familienbudget ein. Es ist zu hoffen, kann aber nicht kontrolliert werden, dass die erweiterten finanziellen Spielräume tatsächlich den Kindern zugutekommen.

Zweifel daran waren übrigens Gründe, warum man im Jahr 2011 im Bereich des SGB II die Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche als Sachleistungen ausgestaltet hatte. Man wollte sicher gehen, dass das Geld auch bei den Kindern ankommt. Allerdings haben sozialwissenschaftliche Untersuchungen inzwischen gezeigt, dass Misstrauen gegenüber armen Eltern in den meisten Fällen nicht gerechtfertigt ist. Folgt man den Ergebnissen dieser Befragungen, ist davon auszugehen, dass größere finanzielle Spielräume direkt den Kindern zugutekommen. 

Die Kindergrundsicherung bringt für Normalverdienerfamilien ein wenig mehr als das bisherige Kindergeld, für Familien in der Grundsicherung Verbesserungen, aber insgesamt eher überschaubare zusätzliche Spielräume. Eigentlich hätte man das im vorhandenen System problemlos abbilden können – eine kleine Verbesserung beim Kindergeld und eine moderate Erhöhung der Regelsätze im SGB II hätten zum gleichen Ergebnis geführt. 

Ideologiegetriebene Komplexität

Aber, die Grünen wollten einen „Paradigmenwechsel“. Darunter wollten sie es nicht. Kern dieses Paradigmenwechsels sei, die Kinder „raus aus dem Bürgergeld“ (Paus) zu holen. Deshalb gibt’s nicht nur ein neues Label. Auch die gesamte Verwaltung soll umgekrempelt werden. Zuständig werden soll ein neuer „Familienservice“ innerhalb der Bundesagentur für Arbeit, in dem auch die bisherige Familienkasse aufgehen soll, die bisher das Kindergeld und den Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensfamilien ausgezahlt hat. Erforderlich ist dafür eine neue Verwaltungsstruktur. 500 Millionen Extrakosten setzt man schon mal dafür an. Neue Schnittstellen zu Jobcentern und kommunalen Ämtern entstehen. Software muss neu entwickelt und eingeführt werden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die neue Behörde müssen gewonnen werden, was bei dem bekanntem Fachkräftemangel gerade im öffentlichen Dienst nicht leicht werden wird. 

Um die Kindergrundsicherung zu finanzieren, muss an anderen Stellen gespart werden. So will etwas Arbeitsminister Hubertus Heil die berufliche Weiterbildung für Bezieher von Grundsicherungsleistungen an die Agenturen für Arbeit verlagern und die Kosten dafür auf Versichertengemeinschaft abwälzen.

Wenn man die ideologischen Vorzeichen weglassen würde, ging es wesentlich einfacher. Man könnte gerne das bisherige Kindergeld in „Kindergrundsicherung“ umbenennen. Namen sind Schall und Rauch.  Der neue Familienservice jedoch ist so überflüssig wie nur irgendetwas. Der Garantiebetrag der Kindergrundsicherung könnte einfach wie das jetzige Kindergeld von den Familienkassen der Bundesagentur ausgezahlt werden. Die beherrschen das standardisierte Massengeschäft. Den in einkommensschwachen Familien zur Bedarfsdeckung erforderliche Zusatzbetrag aber sollten die Jobcenter berechnen und auszahlen. Hier ist in jedem Fall eine ganzheitliche Fallbetrachtung und eine Ermittlung des, oft ja auch wechselnden, Familieneinkommens notwendig. Die Jobcenter können das. Sie haben ohnehin Kontakt zu den betroffenen Familien. 

Um den Irrsinn des Ganzen deutlich zu machen – die oben genannten Beispielfamilie von zwei Erwachsenen und zwei Kindern im Bezug von Grundsicherungsleistungen bekommt die ihr zustehenden Leistungen heute von einer Behörde, dem Jobcenter. Dort gibt es nicht Geld zum Lebensunterhalt, sondern auch Beratung, Qualifizierung und Arbeitsvermittlung, ganz nach Konzept „Hilfen aus einer Hand“. Werden Lisa Paus Pläne umgesetzt, muss die Familie die Grundsicherung für die Eltern im Jobcenter beantragen und die Grundsicherung für die Kinder im neuen „Familienservice“. Wird für die Erwachsenen eine berufliche Weiterbildung notwendig, geht es dafür zur örtlichen Agentur für Arbeit. Kommt die Familienkasse mit der Bearbeitung von Anträgen nicht nach, sollen nach den Plänen ihres Ministeriums die Jobcenter in Vorlage treten und die zum Lebensunterhalt gebrauchten Leistungen für Kinder erst auszahlen und dann zurückfordern, wenn der Familienservice endlich gezahlt hat. Großes Bravo an alle, denen jetzt noch nicht schwindlig von der neuen ideologiegetriebenen Komplexität in unserem Sozialstaat ist. Dabei könnte man durchaus noch einige Seiten mit Details des neuen Konzepts füllen, die die Sache noch komplizierter machen.

Statt Verwaltungsleistungen zu bündeln, reißt man sie auseinander, nur damit es „raus geht“ aus dem „Bürgergeld“, das man übrigens selbst vor knapp einem Jahr beschlossen hat, um „raus“ aus „Hartz 4“ zu kommen. Auch „Hartz 4“ hatten Grüne übrigens vor zwanzig Jahren in der ersten rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder mitbeschlossen. Nicht auszuschließen, dass die nächste Generation grüner Sozialpolitiker dereinst das „Raus“ aus der Kindergrundsicherung fordert. Es geht immer noch etwas aufwendiger und teurer.  

Man wird den Eindruck nicht los, dass der unbedingte Wille, für die Kindergrundsicherung eine eigene Verwaltungsstruktur aufzubauen sich weniger praktischen Überlegungen verdankt, sondern ideologiegetrieben ist. Es ist ein Ausfluss eines von den Grünen schon seit Jahren betriebenen Schlechtredens der Grundsicherung nach dem SGB II und der Arbeit der Jobcenter. Noch im letzten Bundestagswahlkampf verunglimpfte sie Robert Habeck als „Sanktionszentren“, wo böswillige Bürokraten armen Menschen das Leben schwer machen. „Fördern und Fordern“ passt nicht so recht ins grüne Weltbild. Viele Grüne hängen weiterhin der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens an. Versorgung durch einen allmächtigen Nanni-Staat ist da allemal willkommener als die Idee, den Lebensunterhalt für die Familie und Kinder durch Erwerbsarbeit zu verdienen. Vielleicht will Paus ihre Sozialpolitiker damit zufriedenstellen, dass sie die Kindergrundsicherung inszeniert wie ein bedingungsloses Grundeinkommens im Kleinen. Mit einer eigenen Verwaltungsstruktur jenseits der verachteten Jobcenter will sie ein klares Zeichen setzen. Dass man damit den zehntausenden hochmotivierten und kompetenten Jobcenter-Mitarbeitern einen Schlag ins Gesicht versetzt ist Lisa Paus scheinbar ebenso gleichgültig wie dem vormaligen Wahlkämpfer Habeck. Wenn man es aber ernst nimmt mit dem Postulat von Bürokratieabbau und bürgerfreundlicher Verwaltung ist das Konzept von Paus Murks, wenn auch ganz offenkundig mit Methode. 

Die Bekämpfung von Kinderarmut braucht nicht nur Geld

Ganz unabhängig davon bliebt die Frage, ob das Geld für die Bekämpfung von Kinderarmut nicht besser in Bildung, bessere Schulen und effektivere Lernförderung investiert wäre, mit denen herkunftsbedingte Benachteiligungen gemildert werden können. Andere Länder, etwa Finnland, Dänemark und die Niederlande machen es vor und zeigen, dass man durch gute Schulen für alle verfestigte generationenübergreifende Strukturen der Ungleichheit durchaus aufbrechen kann. Die Struktur der Kinderarmut zeigt, dass eine entschlossene Politik der Integration von Immigranten mit intensiver Förderung, aber auch ausreichenden Anreizen zur Aufnahme von Arbeit zu einer Strategie gehört, die Kinderarmut nicht nur ein wenig lindert, sondern an der Wurzel packt. Aber das ist eine andere Diskussion.

Für die Pläne zur Kindergrundsicherung bleibt nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen in der Ampelkoalition noch einmal nachdenken und zu pragmatischen Lösungen finden – Beibehaltung der vorhandenen Verwaltungsstrukturen und Bündelung der Leistungen für bedürftige Familien bei den Jobcentern. 

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