Haftentlassungen mit Geschmäckle

Nichtjuristen fällt es oft schwer,  Vorgänge in der Justiz  nachzuvollziehen. Ein Beispiel gefällig? Es werden fünf Männer am Frankfurter Flughafen festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, knapp 100 Kilogramm Kokain aus Brasilien über den Flughafen Frankfurt nach Deutschland geschmuggelt zu haben. Die mutmaßlichen Täter sind heute auf freiem Fuß – ohne Verhandlung!

Die Historie

Gegen die Beschuldigten – keiner Inhaber eines deutschen Passes – wird im November letzten Jahres Untersuchungshaft angeordnet worden. Nachdem die Staatsanwaltschaft Frankfurt am 14. April 2023 Anklage gegen die fünf Angeschuldigten erhoben hat, richtet der Vorsitzende der für dieses Verfahren zuständigen Großen Strafkammer Ende Mai an das Präsidium des Landgerichts Frankfurt eine sogenannte Überlastungsanzeige und bittet darum, dieses Verfahren einer anderen Strafkammer zu übertragen. Die Kammer sieht sich nicht in der Lage, zeitnah zu terminieren. Diese Überlastungsanzeige erfolgt zu dem Zeitpunkt, zu dem dem Oberlandesgericht Frankfurt das Verfahren turnusgemäß zur Überprüfung der sogenannten Sechsmonatsfrist vorgelegt wird, da nach der Strafprozessordnung die über sechs Monate hinausgehende Untersuchungshaft nur dann aufrechterhalten werden darf, wenn besondere Gründe die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

In den Fallsricken der Justiz verfangen, erscheint den Laien so manches Urteil unverständlich. Foto: Thorben wengert / pixelio.de

Das angerufene Präsidium indes stellt in seiner Entscheidung Ende Mai fest, dass die zuständige Kammer nicht überlastet ist und weist das Verfahren deshalb auch keiner anderen Kammer zu. Die Reaktion der Großen Strafkammer? Sie stellt sich stur, sieht von einer zeitnahen Terminierung ab, da sie die Entscheidung des Präsidiums schlicht für nicht nachvollziehbar hält. Gleichzeitig ordnet sie auch im Hinblick auf die Haftprüfung durch das OLG an, die Haftbefehle gegen die fünf Angeklagten unter Auflagen außer Vollzug zu setzen. Zu den Auflagen zählen etwa das Tragen einer Fußfessel, eine Meldepflicht, Abgabe der Pässe und die Zahlung einer Sicherheitsleistung. Die Idee dabei dürfte wohl gewesen sein, etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen, weil das Beschleunigungsgebot zwar auch dann gilt, aber nicht mehr in der Strenge, wie das bei vollzogener Untersuchungshaft der Fall ist. Aber es kommt anders: Gegen diese Entscheidung legt die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Diese legt die Kammer dem OLG vor. Das entscheidet daraufhin die Aufhebung der Haftbefehle ohne weitere Auflagen. Der Kessel ist geplatzt. 

Fragen ohne Antworten

Warum ist es so weit kommen, warum ist die zuständige Strafkammer nicht in der Lage, innerhalb der gesetzlichen Frist das Verfahren gegen die Angeklagten zu terminieren? Und jetzt wird es eben schwierig, denn man verfängt sich im Gestrüpp komplizierter juristischer Feinheiten. Im Folgenden soll etwas Klarheit in den Fall gebracht und der Vorgang aus einem Blickwinkel betrachtet werden, der bei der bisherigen Berichterstattung so noch nicht genutzt wurde.  

Es gibt Fragen, die werden nicht gestellt, weil man weiß, dass sie unbeantwortet bleiben. Vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass die Presse bei der Berichterstattung über diesen Fall nicht thematisiert hat, warum die Strafkammer dieses der besonderen Beschleunigung unterliegende Verfahren nicht zeitnah eröffnete, stattdessen aber das öffentlichkeitswirksame sogenannte Cum-ex-Verfahren demnächst beginnen will. Genau um diese Frage geht es. Der entscheidende Unterschied zu dem „Koksverfahren“ ist, dass beim Cum-ex-Verfahren die angeklagten früheren Steueranwälte der Großkanzlei Freshfields eben nicht in U-Haft einsitzen, sondern bestehende Haftbefehle bereits seit längerem außer Vollzug gesetzt sind. Beim Cum-ex-Komplex geht es um  illegale Aktiendeals, bei denen der Staat um Milliarden betrogen wurde.

Und eines ist klar: Es gilt nicht der Grundsatz „first come, first serve“. Vielmehr ist es die Aufgabe eines Gerichts unter Berücksichtigung zahlreicher Aspekte, aber maßgeblich des entscheidenden Kriteriums des vorläufigen Freiheitsentzugs, objektiv und sachlich festzustellen, welche Sache die eilbedürftigste ist. Die Antwort auf diese Frage muss abstrakt bleiben, weil sie dem Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit obliegt. Stellen sollte oder muss man die Frage trotzdem, weil nur dann die Justiz die Chance hat, transparent zu agieren und Verständnis für ihre Kollegialentscheidungen bewirken kann. 

Justizinterne Unstimmigkeiten

Dazu passt, dass auch das OLG in seiner Begründung zu dem Aufhebungsbeschluss ungewöhnlich deutliche Worte findet und feststellt, „dass justizinterne Unstimmigkeiten“ zwischen der Kammer und dem Präsidium sich nicht zu Lasten der Angeklagten auswirken dürfen. Diese Begründung muss aufhorchen lassen: Justizinterne Unstimmigkeiten! Da muss innerhalb des Landgerichts etwas gewaltig schiefgegangen sein, was mit Überlastung der Justiz wenig zu tun zu haben scheint. Hierzu bemerkte die Frankfurter Rundschau süffisant: „Wenn zwei sich streiten, freuen sich fünfe!“ So ist es.

Aber am Ende sind viele beschädigt. Der Justizminister steht im Kreuzfeuer der Kritik, muss erklären, wie es zu der erneuten Aufhebung von Haftbefehlen kommen konnte, obwohl er bzw. sein Ministerium darauf keinen Einfluss haben, oder was er gegen eine vermeintliche Überlastung der Gerichte getan hat.
Und auch das Renommee der hessischen Justiz ist durch diese erneute Aufhebung von Haftbefehlen zumindest angekratzt.

Dabei hatte sich der Minister kurz nach seinem Amtsantritt um eine nachhaltige Verbesserung der Rahmenbedingungen gekümmert, insbesondere nachdem das OLG Frankfurt im Juli 2022 die Freilassung von sechs mutmaßlichen Straftätern aus der U-Haft anordnete, weil die gesetzliche Regelfrist der Untersuchungshaftdauer von sechs Monaten um gut fünf Monate überschritten war. Die zuständige Schwurgerichtskammer bei dem LG Frankfurt hatte seinerzeit wegen Überlastung weder ein Hauptverfahren eröffnet noch terminiert.  


Minister Poseck kämpfte seitdem um zusätzliches Personal für die hessische Justiz. Ihm gelang es schließlich, insgesamt knapp 500 zusätzliche Stellen im Doppelhaushalt 2023/2024 zu schaffen, davon 100 zusätzliche Stellen für Richter und Staatsanwälte. Von diesen zusätzlichen Stellen profitierte umgehend und in erheblichem Umfang auch das LG Frankfurt. Deshalb ist die erneute Aufhebung von Haftbefehlen an eben diesem Gericht für den Justizminister ein herber Rückschlag in seinem Bemühen, die Belastungssituation in der hessischen Justiz nachhaltig zu verbessern.

Vermutlich auch vor diesem Hintergrund hat das OLG in seiner aktuellen Entscheidung offengelassen, ob die Kammer bei dem LG Frankfurt zu Recht von einer Überlastung ausgegangen ist oder das Präsidium die behauptete Überlast zu Recht verneint hat. Es hat zudem explizit darauf verwiesen, dass eine Einflussnahme auf die Terminierungspraxis der Kammer oder die Entscheidung des Präsidiums von außen nicht möglich sei.

Die richterliche Unabhängigkeit

Deshalb erklärte auch der hessische Justizminister in seiner Stellungnahme zu dem Fall, dass die Terminierung und die Priorisierung von Verfahren dem Kernbereich richterlicher Unabhängigkeit unterfällt und sein Ministerium in einem solchen Fall keinerlei Einflussmöglichkeiten habe. Im Weiteren verwies er darauf, dass das Ministerium auch auf Entscheidungen des Präsidiums keinen Einfluss nehmen könne und dürfe, weil auch dieses seine Entscheidungen in richterlicher Unabhängigkeit trifft und ein Eingreifen des Ministeriums bei Unstimmigkeiten zwischen Präsidium und Spruchkörper, wie sie im vorliegenden Fall offenbar bestanden haben, einem Verfassungsverstoß gleichkämen.

Und die Reaktion der Opposition? Schon fast reflexartig forderte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion „Lösungen und eine langfristige Personalstrategie, um den dringend notwendigen Personalbedarf nachhaltig berechnen und sachgerecht decken zu können“. Mit einem Doppelhaushalt allein ließe sich das Problem nicht lösen, so der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion. Bitteschön, was bedeutet langfristige Personalstrategie, ohne zusätzliche Stellen? Etwas konkreter wäre sicher hilfreich gewesen, denn gerade in Wahlkampfzeiten möchte der Bürger schon ganz gerne wissen, wie die gegenwärtige Opposition das Problem zu lösen gedenkt!

 Im Übrigen gibt es bereits seit vielen Jahren ein Berechnungssystem für die Belastung der Gerichte. Bemüht man dies, lässt sich feststellen, dass das LG Frankfurt im richterlichen Bereich auskömmlich ausgestattet ist, um alle dort anhängige Verfahren ordnungsgemäß bearbeiten zu können. Ob die Binnenverteilung diesen Befund stützt, kann von außen nicht beurteilt werden und ist Aufgabe des Präsidiums – wiederum in richterlicher Unabhängigkeit.

Nun ließe sich trefflich über die Gründe spekulieren, warum die zuständige Strafkammer das Cum-ex-Verfahren dem „Kokainverfahren“ vorgezogen hat oder sich nicht in der Lage sah, parallel zu dem Cum-Ex-Verfahren die in Rede stehende Anklage gegen die fünf Angeklagten zeitnah zu terminieren. Und natürlich lässt auch die Aussage von „justizinternen Unstimmigkeiten“ in der Begründung des OLG viel Raum für weitergehende Interpretationen. 

Sicher hat das Cum-Ex-Verfahren eine besondere Brisanz. Dieser Skandal beschäftigt die bundesdeutsche Justiz und die Öffentlichkeit bereits seit einigen Jahren und erreichte auch die Politik bis in die höchsten Kreise. So wird der Bundeskanzler – noch in seiner ehemaligen Funktion als Bürgermeister der Stadt Hamburg – mit diesem Skandal in Verbindung gebracht. Aber am Ende bleibt trotzdem das berühmte Geschmäckle. Die zuständige Strafkammer hat ihre Entscheidung getroffen. Sie muss sich auch nicht weiter erklären und insbesondere nicht die Frage beantworten, warum sie das Cum-ex-Verfahren priorisiert hat in dem Wissen, dass das sogenannte Beschleunigungsgebot in der Außensicht eine andere Entscheidung für naheliegend hätte erscheinen lassen. 

Dieses Beschleunigungsgebot gilt grundsätzlich; es soll dem Bürger als Verfassungsgrundsatz garantieren, möglichst zeitnah Rechtsicherheit zu erhalten. Insbesondere gilt es in jedem Strafverfahren, weil die Belastung für einen Beschuldigten bzw. Angeschuldigten, für den grundsätzlich die Unschuldsvermutung gilt, als besonders erheblich angesehen wird, solange er mit einem Strafverfahren belastet ist und Stigmatisierung droht. Und nochmals verschärft und einfachgesetzlich in die bereits genannten „Sechs-Monats-Frist“ gegossen, gilt dies in den Fällen, in denen Untersuchungshaft angeordnet ist bzw. vollsteckt wird.
Oder anders formuliert: Immer dann, wenn jemand vor einem Verfahren im Gefängnis sitzt, ist extreme Eile geboten, in allen anderen Fällen auch, aber eher „Eile mit Weile“.

Der Justizminister ist in solchen Fällen relativ hilflos, weil er -außer bei der Optimierung der Personal- und Sachausstattung der Justiz – nicht eingreifen kann, nicht eingreifen darf. Den Schaden hat die Justiz insgesamt, weil solche Vorfälle das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaats, das Vertrauen in eine konsequente Strafverfolgung beschädigen.Deshalb muss auch klar sein, dass das Wissen um die Unabhängigkeit den Richtern eine ganz besondere Verantwortung auferlegt.


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Ein Gedanke zu ”Haftentlassungen mit Geschmäckle

  1. Wenn man das liest, erklärt sich fast von selbst, warum die blauen Rattenfänger inzwischen einen solchen Zulauf haben. Das ist dem „normalen Bürger“ doch nicht mehr zu vermitteln, dass – egal ob es wegen „justizinterner Unstimmigkeiten“ (wie bitte?), schlichtweg zu geringer Personaldecke oder aus ‚Justiz-logistischem‘ Unvermögen dazu kommt, dass schon 6 Monate in U-Haft sitzende vermutliche Straftäter (und zwei Zentner Kokain sind ja nun wirklich kein ‚Kavaliersdelikt‘) mal eben so einfach frei kommen. Geht’s noch? Und ja, ich bin ein Nichtjurist und demzufolge vermutlich zu dämlich, dieses Verwirrspiel zu begreifen. Aber wundert Euch nicht, wenn immer mehr Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat, die Politiker und letztendlich unsere ‚freiheitlich demokratische Grundordnung‘ verlieren und die Leute mit den vermeintlich einfachen Antworten von rechtsaußen wählen!

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