Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

Landet die CSU bei der nächsten Bundestagswahl unter der Fünfprozenthürde, würde sie nach der Wahlrechtsreform aus dem Bundestag fliegen. Die Partei muss zittern, will sich mit diesem Szenario aber am liebsten gar nicht beschäftigen, legt ihr Schicksal lieber in die Hände von Verfassungsrichtern. Falls diese das neue Wahlrecht allerdings bestätigen, können nur zwei Wege die CSU aus der Klemme führen: Ein bundesweiter Auftritt oder eine Listenverbindung mit der Schwester CDU.  

Foto: Timo Klostermeier / pixelio.de

Die Wahlrechtsreform der Ampel sorgt für seltene Einigkeit zwischen CSU und Linkspartei, hat die Regierung doch Sonderlocken abgeschnitten, die beiden in der Vergangenheit den Sprung in den Bundestag erleichtert haben und vor allem der CSU als reiner Regionalpartei im Zusammenspiel mit der Schwester CDU enorme politische Gestaltung im Bund ermöglichte. Ungeachtet aller Scharmützel um die Reform, der Wegfall von Grundmandatsklausel sowie Überhang- und Ausgleichsmandaten richtet das Wahlrecht wieder mehr auf eine Verhältniswahl aus. Das ist angesichts der Erfahrungen mit den Mehrheitswahlen in USA und Großbritannien eine gute Nachricht. 

Abseits von Fragen der Rechtmäßigkeit, die das Verfassungsgericht im Normenkontrollverfahren beantworten wird, ist die Lösung der Ampel-Koalition fair, weil jede Partei genauso viele Mandate erhält, wie ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustehen. Das ist das Verhältniswahlrecht und immer schon der Kern des deutschen Wahlrechts gewesen. Mit dem Reformschritt verlieren demnach alle Parteien proportional. Die Folgen für die Union dürften trotzdem größer werden als für die Ampel. Das ist aber die logische Folge, wenn Privilegien gestrichen werden. 

Für derlei überparteiliche Ansichten haben Linkspartei und CSU freilich keinen Nerv. Die Neuerungen des Wahlrechts schüren vielmehr bei beiden Existenzängste, auch wenn die CSU den schlimmsten Fall des Nichteinzugs in den Bundestag offiziell als „theoretisch“ abtut. Wahr ist jedoch, dass Bayerns Schwarze sich eben nicht mehr sicher sind, auch künftig eine bisher abgesicherte komfortable bundespolitische Rolle nur unter ihrem Label spielen zu können. Deshalb wütet die CSU in der ungewohnten Allianz mit der Linkspartei aber umso heftiger gegen das neue Wahlrecht als „Angriff auf die Demokratie“ und den Versuch, den Wählerwillen zugunsten der Ampelparteien zu verfälschen. 

Nach dem Motto „Mia san mia“ gelingt es der Regionalpartei wieder einmal im Polterstil bundesweit das Thema zu setzen, der viel mehr in seiner Existenz gefährdete Partner in dieser mit Verfallsdatum versehenen christlich-sozialistischen Union kommt in der Debatte allenfalls am Rande vor. Und weiter fällt auf, dass schon am Gesetzentwurf der Ampel heftig Kritik geübt wurde, aber bie heute keinerlei ernsthaften Gegenvorschläge zu hören waren. 

Das bisher geltenden Wahlrecht hat vor allem der vorwiegend über die Erststimmen punktenden CSU Vorteile beschert. Die Dimension: 2021 hatte sie in 45 der 46 bayerischen Wahlkreise vorne gelegen und dadurch weit mehr Sitze im Bundestag errungen, als ihr gemäß Zweitstimmenergebnis (5,2 Prozent) zustanden. Wegen dieser Masse an Überhangmandaten in Bayern mussten im Laufe der Jahre immer mehr Ausgleichsmandate an andere Parteien vergeben werden, bis die Mehrheitsverhältnisse wieder stimmten. Die besondere Situation der CSU hat also maßgeblich mit zum XXL-Bundestag geführt, den die Regierung jetzt auf immer noch XL-Größe zurückstutzen musste. 

Die nun gestrichene Grundmandatsklausel machte es bisher möglich, dass auch Parteien, die an der Fünfprozenthürde scheitern, in den Bundestag kommen, wenn sie mindestens drei Direktmandate erringen. 2021 nutzte diese Klausel der Linken. Die CSU ist mit zuletzt 5,2 Prozent Zweitstimmenanteil natürlich ebenfalls am Erhalt der Klausel interessiert, würden doch beim Reißen der Hürde auch sämtliche errungenen Direktmandate verfallen. 

Fair war das alte System nicht

Künftig bekommt eine Partei in Deutschland nur noch so viele Sitze zugesprochen, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Hat sie mehr Wahlkreise gewonnen als ihr Sitze zustehen, bekommen die Wahlkreissieger mit den schlechtesten Wahlergebnissen keinen Platz im Bundestag. Allein der Sieg in einem Wahlkreis bedeutet also nicht automatisch, dass man ein Mandat errungen hat. Wahlkreissieger werden lediglich gegenüber Listenkandidaten bevorzugt.

Übrigens: Nahezu alle Wahlkreisgewinner erzielen nur eine relative Mehrheit. Es gibt also mehr Gegenstimmen, in Einzelfällen bis zu 80 Prozent. Es ist daher kein Problem politischer Gerechtigkeit, die Bedeutung der Wahlkreise zu relativieren. Wer ein starkes Erststimmenergebnis holt, zieht auch in den Bundestag ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlkreise nicht besetzt werden, ist gering. Und: Hinsichtlich der gewonnenen Wahlkreise könnten die Parteien ihre Listen zugunsten ihrer wichtigen Direktkandidaten anpassen. 

Außerdem zwei Beispiele für Kuriosa des alten Systems: Wer in Berlin mit der Erststimme etwa Gregor Gysi von der Linkspartei wählte, der sorgte bisher dafür, dass Linke aus Bayern ins Parlament kamen, die in ihrer Heimat nicht in die Nähe der Fünfprozenthürde kamen… Oder auch möglich: Die FDP schafft die 5-Prozent-Hürde nicht, landet aber in einem Bundesland bei acht Prozent, gewinnt aber keinen Wahlkreis. Die Linke bleibt bundesweit ebenfalls unterm Strich, gewinnt aber im Osten drei Wahlkreise mit nur 18 Prozent der Erststimmen. Die Linke kommt in den Bundestag, die FDP nicht. Das soll fair sein? 

Foto: Pixabay

Weil die Neuregelung für Linkspartei wie CSU zur Folge haben kann, dem Bundestag irgendwann nicht mehr anzugehören, laufen beide Parteien Sturm gegen das Gesetz. Nun versteht es CSU-Chef Markus Söder wie immer besser als Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, den Konflikt mit der Ampel zuzuspitzen. Also lässt er seinen Generalsekretär Martin Huber von der Leine. Der kommt seinem Job als Wadenbeißer nach, fühlt sich aufgrund „organisierter Wahlfälschung“ an „Schurkenstaaten“ erinnert. Zum Fremdschämen ist diese CSU, die sich gerne mal vergaloppiert in ihrem Eifer, die Bayern vor der Welt jenseits der grünen Wiesen und malerischen Bergwelten zu schützen. Es ist schlicht empörend, ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren in Deutschland als Manipulation zu brandmarken. 

Und damit nicht genug: Der CSU-General gruppiert die Bundesrepublik wegen des neuen Wahlrechts als einen Staat ein, der eine Gefahr für die Weltsicherheit darstellt. Selbst wenn sich die CSU nicht aus dieser von der US-Regierung für Terrorstaaten eingerichteten Schublade bedient und sich am amerikanischen Philosophen John Rawls orientiert, so definiert auch jene als Schurkenstaaten, die der Völkergemeinschaft feindselig gegenüberstehen und die Menschenrechte ihrer Bürger missachten. Hubers Vergleich bleibt die unglaubliche Entgleisung einer vermeintlich für Bayern kämpfenden in den Furor gesteigerten Seele, die sich beim Wahlrecht offenkundig nur um die eigenen Interessen schert und sich dabei in populistischer Manier als Hüter der Demokratie aufspielt.

CSU beklagt in Bayern gültiges Wahlrecht

Bei alldem ist es den Christsozialen nicht einmal ihre Doppelmoral peinlich, mit der sie im Kampf gegen die Wahlrechtsreform agieren. Denn merke: Die Ampel setzt doch nur bundesweit durch, was in Bayern gang und gäbe ist. In Bayern gibt es keine Grundmandatsklausel, und in Bayern bekommen Wahlkreisgewinner, deren Partei unter fünf Prozent bleibt, kein Mandat? Was die falschspielenden Opportunisten als verfassungswidrig in Karlsruhe beklagen wollen, ist bei ihnen zuhause also ein viel schärfer gefasstes geltendes Wahlrecht. Dümmer geht´s nimmer. 

Auch die Kritik der CSU-Granden an der Kappung der Direktmandate hat ein Geschmäckle und ist wenig glaubhaft. Schließlich war dieses Instrument von Gutachtern vorgeschlagen worden, die die CDU/CSU selbst ernannt hat. Damals hat man eher an die Linkspartei gedacht und nicht daran, dass einem das selbst auf die Füße fallen könnte. 

Ob die Grundmandatsklausel durch das Bundesstaatsprinzip im Grundgesetz geschützt ist, wird in Karlsruhe geklärt werden. Allerdings wird sich die CSU im Verfahren kaum als Partei einer nationalen Minderheit definieren können. Ihre Selbstbeschränkung auf Bayern hat sie schließlich freiwillig gewählt. Sie kann sich jederzeit in anderen Bundesländern um Stimmen bewerben, um die Fünfprozenthürde zu schaffen. Wenn man aber als Regionalpartei antreten will muss man auch die Spielregeln akzeptieren und sich nicht größer machen als man ist.  Nebenbei: Ist es nicht „undemokratisch“, um den Duktus der CSU-Spitze zu verwenden, wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt und eine Regionalpartei die Bundespolitik maßgeblich mitbestimmt – zumal die Mehrheit aller Bundeswahlberechtigten diese Partei nicht wählen darf, aber für Fehler wie beispielweise die der CSU-Verkehrsminister in Regreß genommen wird?

Es gab immer schon verfassungsrechtliche Vorbehalte dagegen, dass CDU und CSU im Bundestag als zwei Parteien, aber als eine Fraktion auftreten.  Dass der CSU bisher die Extrawurst gebraten wurde als Regionalpartei bundesweit „gerechnet“ zu werden, war von Beginn an ein Kuriosum, welches hauptsächlich dazu diente, sich nach taktischen Erwägungen jeweils aussuchen zu können, ob man als CDU/CSU gemeinsam agiert oder als einzelne Fraktionen getrennt – je nachdem, was vorteilhafter war.

Die CSU-Interessen und damit die Interessen eines einzigen Bundeslandes, wurden seit Jahrzehnten durch das alte Wahlrecht vollkommen überzogen und zum Nachteil der anderen Bundesländer übergewichtet. Die CSU weiß ganz genau, dass sie bisher als Regionalpartei übermäßig stark im Bundestag vertreten war und auch über Ministerposten aufgrund der merkwürdigen Fraktionskoalition mit der CDU verhältnismäßig viel Einfluss auf die Bundespolitik nehmen konnte. Das wurde nun korrigiert und war längst überfällig.

Führt das Modell Junge Union aus der Klemme?

Jahrelang haben die CDU und insbesondere die CSU eine parteiübergreifende Lösung zur Reform des Wahlrechts hintertrieben, um die Vorteile im alten Wahlrecht zu erhalten. Und jetzt schimpfen sie, dass die anderen ohne sie eine Lösung erarbeitet haben. Die CSU hatte, gemessen an der Zahl ihrer Wähler, immer zuviel Einfluss. Hätte sie sich an der Ausarbeitung des Wahlrechts konstruktiv beteiligt, hätten sie sich vielleicht das eine oder andere Privileg bewahren können. Die Pfründe der eigenen Abgeordneten waren der Partei aber wichtiger als ein Parlament in verfassungsgemäßer Größe. Es geht dieser Partei nur im Showroom um Bayern, vielmehr interessieren die Posten für ihre Elite. Jetzt kann sie nicht mehr mitbestimmen. Das ist nicht nur dumm gelaufen, sondern könnte mittelfristig dazu führen, dass die CSU ihre Sonderrolle verliert und sich allein oder in einer Gemeinschaft mit der CDU bundesweit aufstellen muss. 

Da ein Soloauftritt wenig erfolgversprechend scheint, könnte vielleicht eine Listenverbindung von CDU/CSU der kleineren Schwester aus ihrer aktuellen Klemme helfen. Staatsrechtler sind sich zwar uneinig, ob das verfassungsgemäß umzusetzen ist. Andererseits: Die Zeiten, als Franz Josef Strauß sich nicht traute, mit den Christsozialen im Bund anzutreten, sind vorbei. Nicht zuletzt durch die AfD hat sich die politische Großlage geändert, weshalb eine Mehrheit der Unionswähler nach zugegeben nicht mehr taufrischen Umfragen eine CSU im Bund gut fände. Dagegen wird oft mit dem Verbot der Listenverbindung des Bundesverfassungsgerichts von 1990 argumentiert. Allerdings war diese Wahl vor dem Hintergrund der in West und Ost geteilten Wahlbereiche eine besondere. Ungeachtet dessen müsste der Gesetzgeber sein Verbot der Einreichung einer Listenverbindung mehrerer Parteien zu Bundestagswahlen zurücknehmen. Da ist der Wille der Weg.

Foto: Markus Spicke / Pexels

Aus der Regierung gibt es nun Signale, zusammen mit der Union auszuloten, ob und wie die Möglichkeit einer solchen Listenverbindung das Problem der CSU lösen könnte. Das wird wegen des damit verbundenen Bedeutungsverlusts in der CSU selbst noch völlig ausgeschlossen. Was aber, wenn die Partei im Normenkontrollverfahren scheitert und ihre Strategie am neuen Wahlrecht ausrichten muss? Dann sollten die C-Parteien vielleicht dem Modell der Jungen Union folgen. Die unabhängige Jugendvereinigung von CDU und CSU agiert auf Bundesebene. Sie ist flächendeckend in Deutschland vertreten und sogar auf europäischer Ebene erfolgreich tätig. Außerdem sprechen die Fakten für eine Listenverbindung. So vertritt die CSU keineswegs nur regionale Belange; ihrem Selbstverständnis nach ist sie eine Partei mit gesamtdeutschem Anspruch. Und bei allem Streit mit der Schwesterpartei: Beide Parteien konkurrieren bei Wahlen nicht und weit entfernt von der Programmatik der CDU ist die CSU auch nicht. Außerdem: Der maximale Einsatz für bayerische Politik auf Bundesebene, der in der DNA der CSU verankert zu sein scheint, lässt sich im Bundesrat bestens ausleben. 

Noch ruhen die Hoffnungen der Union auf den Richtern in Karlsruhe, da hat sich Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) schon für weitere Änderungen der Wahlrechtsreform bis zum Ende dieser Legislatur ausgesprochen. Sie plädiert für Geschlechterparität im Bundestag, für ein Wahlrecht ab 16 sowie eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre. Sich groß mit den Vorschlägen auseinanderzusetzen, lohnt jedoch nicht, denn Unionsfraktionschef Merz hat neben dem Gang nach Karlsruhe noch einen zweiten möglichen Weg skizziert, die Reform der Ampel zu kippen. Er sagt, seine Partei sei zwar generell für eine Verkleinerung des Bundestags, sie werde aber, wenn sie das nächste Mal an einer Regierung beteiligt sei, „darauf dringen, dass das geändert wird“. Droht jetzt nach jedem Regierungswechsel ein neues Wahlrecht? Armes Deutschland!

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