Von wegen große Familie

Die Ich-AG ist nicht krisenfest. Sie dominiert aber über Zusammenhalt und Gemeinsinn. Bild: Pixabay / Gerd Altmann 
In der Krise bemüht die Politik den Gemeinsinn, das „Wir“. Zusammenhalt soll auch die Schwachen stark machen. Doch Bürgerinnen und Bürger wollen sich nicht so recht unterhaken oder zusammenrücken. Am „Doppelwumms“ (Kanzler Olaf Scholz) der Gaspreisbremse lässt sich ablesen, inwieweit sich der Ruf nach Solidarität in den Zeitläuften verfangen kann. Der Finanzhebel bedeutet ja nicht, dass man den Anbietern Preisobergrenzen vorschreiben würde, sondern dass der Steuerzahler hohe Forderungen der Gas-Verkäufer begleicht. Die machen sich die Taschen also auch mit dem Geld jener voll, die sich in der Vergangenheit – eventuell auch unter Entbehrungen – für andere Energieträger entschieden haben. Und die werden nun zur Rechnungsbegleichung ungefragt unter den Stichworten „Solidarität“ oder „Wir“ vereinnahmt, derweil das Füllhorn über anderen ausgeschüttet wird.

„You´ll never walk alone“ tönt der Kanzler und appelliert zugleich an Gemeinsinn und Selbstbewusstsein, mit dem die Deutschen sich der russischen Aggression entgegenstellen sollen. Gerade die Bewältigung solcher Krisensituationen dürfen gerne die möglichst Vielen schultern, mit denen sich die Politiker in ihrer Not dann schnell verbrüdern und Verzicht als möglichen Gewinn postulieren. „Gemeinsam schaffe mers“ heißt es in Offenbach, wenn’s wieder mal eng wird – und das Motto verfängt auch. Allerorten wird gerade um Weihnachten und den Jahreswechsel das Ehrenamt gewürdigt. Da werden Kümmerer ausgezeichnet, die sich um Tafeln, Nachbarschaftshilfe, Integrationsarbeit, medizinische Grundversorgung und vieles mehr verdient gemacht haben. Die einen spenden, andere opfern ihre Freizeit und/oder bringen ihre Expertise unentgeltlich ein. Ohne derlei Engagement würde das Sozialsystem dieser Republik kollabieren.  

Ellbogen-Mentalität

Das „Wir“ hat freilich seine guten und seine schlechten Zeiten. Nach dem Krieg haben Fleiß und Gemeinsinn sowie der Zusammenhalt auch angesichts des Verzichts aus der Katastrophe geführt. Während der ersten beiden Corona-Jahre feierte dann eher unserer Zeit entsprechend die Ich-AG fröhliche Urständ: Da wurden Milliarden in einem korrupten Krankensystem veruntreut und umverteilt, stopften sich Politiker mit Masken-Deals die Taschen voll und räuberte Lieschen Müller in Supermarktregalen so lange, bis Toilettenpapier, Öl und Mehl etc. rationiert wurden. Diese Ellbogen-Mentalität, das Schmieren, Tricksen, Täuschen und Abkassieren vieler hatte Folgen. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung („Erschöpfte Gesellschaft“) waren im Februar 2022 knapp 60 Prozent der Teilnehmenden der Meinung, die Menschen würden sich nicht umeinander kümmern. Nahezu 30 Prozent der Befragten geben an, man könne sich auf niemanden verlassen. Damit sei die Zahl der Menschen, die ein kritisches Bild vom gesellschaftlichen Miteinander in Deutschland haben, heute höher als vor der Pandemie, bilanziert die Stiftung. 

Die große Familie hält also nicht wie gewünscht zusammen, auch wenn die immer noch große Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Flüchtlingen das Gegenteil suggeriert. Doch auch dieser Beistand bröckelt, viele freiwilligen Helfer können nicht mehr. Und so manche privaten Gastgeber sehnen sich nach langen Monaten des Zusammenrückens nach einer alternativen Wohngelegenheit für ihre ukrainischen Gäste. An die Stelle zupackender Improvisationsbereitschaft zur Abwehr des Chaos ist nach Monaten die Mühsal permanenter Flüchtlingsbetreung getreten. Mitgefühl scheint sich im Alltag abnutzen zu könnne, umso mehr Hochachtung gilt jenen, die weiterhin helfend anpacken.

Wo bleibt der Gemeinsinn?

Die Autaritismus-Studie 2022 des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig weist nach Angaben von Direktor Oliver Decker eine durch die Krisen der letzten beiden Jahre beförderte „Akzeptanz des demokratischen Systems“ aus. Die verfassungsgemäße Ordnung in der Bundesrepublik habe noch nie so viel Zustimmung erfahren, über 90 Prozent auch im Osten derzeit. Gerade in akuten Krisen sei der Unterschied zu autoritären, autokratischen Herrschern offensichtlich. Gleichzeitig sei das Erleben einer demokratischen Wirksamkeit sehr gering. Die wenigsten Leute hielten es für sinnvoll, sich zu engagieren. Letztlich heißt der Befund auch hier: Gemeinsinn und Zusammenhalt sind unter die Räder gekommen.

Kein Wunder also, dass die ARD ihre Themenwoche im November unter die Überschrift „Wir gesucht – Was hält uns zusammen?“ gestellt hat. Gesammelt wurden Projekte, bei denen sich Menschen vorurteilsfrei begegnen konnten. Angekündigt wurde die Aktion mit folgendem Text: „Wir“ – das sagt sich so leicht. Aber gibt es das große „Wir“ überhaupt noch- oder driften wir nicht immer weiter auseinander in Alt und Jung, Arm und Reich, selbsterklärte Querdenker und Geimpfte, Trans und Cis, mit und ohne Einwanderungsgeschichte? Und weiter: Lebt nicht jeder und jede zunehmend in einer eigenen Blase, kennt den Nachbarn kaum und wenn – was hat man sich schon zu sagen und wo gibt es Räume für hass- und angstfreien Dialog?

 Bei Polarisierung gibt es kein „Wir“

Diese von der ARD-Redaktion formulierten Fragen zur Themenwoche „Wir gesucht“ sind berechtigt, zumal die Menschen die Gesellschaft nach der jüngsten repräsentativen Infratest-dimap-Umfrage als eher gespalten sehen, wenn es um große Themen geht, um Corona, Einwanderung oder Arm und Reich. Zunächst aber ist doch erst einmal zu klären, was heute mit „Wir“ gemeint ist. Offensichtlich soll doch jene ganz große Familie angesprochen werden, die sich Gesellschaft nennt. Wer aber fühlt sich adressiert, wenn es seitens der Regierungsvertreter und angesichts der Energiekrise ins allgemeine Rund hinein heißt, „wir haben die Energiewende verschlafen“. Nein, nicht „Wir“, sondern Politik und überbordende Verwaltung haben diese Wende nach allen Regeln der Kunst sabotiert. Bei Polarisierung gibt es kein „Wir“.

Und wer fühlt sich angesprochen, wenn heißt: „Wir müssen der Ukraine mehr Waffen liefern; wir müssen den Krieg gewinnen; unsere Sanktionen müssen Russland ruinieren; wir werden als Folge dieses Krieges ärmer werden, wir müssen die Kosten des Krieges tragen“? Wer anderer Meinung ist, wird in der von Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral triefenden Auseinandersetzung ausgegrenzt, entweder als Kriegstreiber und Waffenlobbyist oder als Putin-Versteher  oder Unterwerfungspazifist. Wie will der Kanzler sich denn mit jenen nicht nur rhetorisch unterhaken, die Waffenlieferungen ablehnen und das Primat vorrangig und schon fast verzweifelt im Friedensgespräch suchen oder die Verhängung von Sanktionen mit dem so nahen Risiko der Deindustrialisierung Deutschlands ablehnen? Bei einer solchen Polarisierung gibt es kein „Wir“, selbst wenn die der allgemein üblich gewordenen Kriegsrhetorik angepasste aggressive Tonart zu einer Debatte in gegenseitiger Achtung mutieren sollte. 

Wir sind wir und ihr seid ihr

Solidarische Politik im Angesicht des Krieges wird es zwischen den Fronten schwer haben. Sie dürfte auch – Stand heute – dann scheitern, wenn es um die künftige Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik geht. Da gibt es ja nicht einmal den Schulterschluss unter den Koalitionären. Wie kann man da von einer in der Not vereinnahmten Gemeinschaft erwarten, im Ernstfall auf Privilegien, Annehmlichkeiten und Profit zu verzichten, zumal sich die oberen Zehntausend längst aus diesem Kreis verabschiedet haben. Die Hauptlast von Inflation und wirtschaftlichem Abstieg wie auch zur Erlangung  der Zukunftsfähigkeit des Standortes D tragen Unter- und Mittelschicht. Die seit Jahren schon ausufernde soziale Unausgewogenheit macht das „Wir“ nahezu unmöglich.

Zu einer anderen Erkenntnis dürfte die ARD auch nach der Präsentation einiger Vorzeigeinitiativen in Vereinen oder anderen Zusammneschlüssen unterm Strich nicht gelangt sein, zumal ein weiterer Aspekt in der öffentlichen Diskussion gerne ausgeblendet wird, um nicht in die rassistische Ecke gestellt zu werden: die multikulturelle Gesellschaft aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Multikulti beschreibt eben keine Vermischung sondern das Nebeneinander verschiedener Kulturen und damit eine abgrenzende Identität: Wir sind wir und ihr seid ihr. Die Mehrzahl der Türken hat sich weder assimiliert noch integriert, weil sie sich hier ihre eigene Welt konserviert hat. Migranten leben zu einem großen Teil nicht in der Mehrheitsgesellschaft, haben gläserne Wände um ihre relativ geschlossene Gruppe und ihre Lebenswelt gezogen, wie es der Bundespräsident formuliert hat. Frank-Walter Steinmeier hat freilich auch den fehlenden Austausch zwischen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Ost- und Westdeutschen und Städtern und Landbevölkerung im Sinn, wenn er bröckelndes bürgerliches Engagament und fehlenden Zusammenhalt beklagt.

Multikulti hat ausgedient

Multikulti impliziert in der Theorie den gezielt geförderten Anpassungsprozess der Migranmtengruppen an eine homogene, neutrale Mehrheitsgesellschaft, die es im wahren Leben allerdings gar nicht gibt. So hat bereits ein Fünftel der in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Viele Menschen mit deutschem Pass fühlen sich als Ausländer und viele Ausländer ohne deutschen Pass fühlen sich als Deutsche. Die Gesellschaft ist also heterogen und sehr ausdifferenziert. Und diese Entwicklung wird sich beschleunigen, da sich die globale Migration gewandelt hat. Zog es früher homogene Gruppen aus einzelnen Ländern gezielt in wenige Zielländer, so sehen wir heute ganz viele kleine Gruppen aus zahllosen Ländern, die sich fast über die ganze Welt verteilen. Und diese Gruppen sind vollkommen inhomogen. Diese Einwanderer unterscheiden sich voneinander, etwa was Alter, Bildungsstand oder Sprachkenntnisse angeht, oder ob sie legal oder illegal kommen. Dieser neuen Vielfalt werden die alten multikulturellen Förderprogramme zur Integration gar nicht mehr gerecht.

In deutschen Großstädten leben nicht selten mehr als hundert Nationalitäten und in jeder Gruppe gibt es Unterschiede beim Status: Asylbewerber, Geduldete, solche mit befristeter und welche mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis. Selbst innerhalb einer Familie kann für Vater, Mutter und Kind für den Aufenthalt etwas anderes gelten. Diese ungeheure Vielfalt und Komplexität erschweren politische und ehrenamtliche Bemühungen um mehr Zusammenhalt. Eine erfolgversprechende Strategie zur Bündelung der staatlichen und privaten Kräfte steht aus. Bis dahin wird ein immer größerer Teil einer im Paralleluniversum lebenden Bevölkerung sich im Krisenfall eben nicht unterhaken.  

Ich-AG hat Konjunktur 

Zur aktuellen Krisenbewältigung kann die Regierung also nur bedingt und zeitlich befristet auf das gemeinschaftliche bürgerliche Engagement als Rückgrat unseres Gemeinwesens setzen. Da diese ernüchternde Erkenntnis auch unsere Demokratie bedroht, ist es höchste Zeit, auch für das Ziel eines größeren Zusammenhalts eine Zeitenwende einzuleiten. Vielleicht kann ja die Ich-AG mittels der von Steinmeier eingeleitete Debatte über soziale Pflichtzeiten, stärker geförderte Freiwilligendienste und Ehrenämter mit sanftem Druck zur großen Familien-AG umgebaut werden. Dann würde vielleicht auch den Polizisten, Rettungssanitätern und Feuerwehrleuten wieder mit mehr Respekt begegnet, weil viel mehr Menschen als heute eigene Erfahrungen hätten im Helfen, im Dasein für andere. Zunächst aber stopfen sich nicht gerade wenige im Gefolge allgemein akzeptierter, weil intransparenter Inflationsraten über Gebühr die Taschen voll, verschärfen damit das Problem der allgemeinen Teuerung und treiben so immer mehr Menschen zu den Tafeln. So ernüchtern die Feststellung angesichts des großen privaten ehrenamtlichen Engagements auch abseits der aktuellen Krisenfolgen ist: Noch hat die Ich-AG Konjunktur.

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