– Hat sich Ursula von der Leyen von Viktor Orbán erpressen lassen? –
Erneut steht EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Mittelpunkt eines Vorfalls, der die europäischen Steuerzahler Milliarden kostet. Aktuell wirft das Europäische Parlament der von ihr geführten Behörde vor, Ungarn für einen politischen Deal zu Unrecht Milliarden ausgezahlt zu haben. Ob sie sich als Leiterin der Behörde bald vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verantworten muss, steht angesichts der in Brüssel und Straßburg vorherrschenden Wagenburgmentalität in den Sternen. Unter anderem gelingt es der Europäischen Staatsanwaltschaft EPPO ja schon nicht, ein 2022 eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen von der Leyen abzuschließen. Dabei geht es um undurchsichtige Milliarden-Geschäfte mit Corona-Impfstoffen via SMS zwischen dem Pharmariesen Pfizer und der EU-Kommissionspräsidentin. Bisher scheiterte die geforderte Aufklärung an einer Mauer des Schweigens innerhalb der EU-Behörden. Lesen Sie dazu: SMSgate im Augiasstall EU .
Selbst wenn es im aktuellen Fall zu einem Verfahren kommt, so wird mit einem Urteil erst in ein oder zwei Jahren gerechnet – also lange nach der Europawahl und der Ernennung einer neuen EU-Kommission mit einer – nach heutigem Wissensstand – wiedergewählten Ursula von der Leyen an der Spitze. Denn so als gäbe es keine von der ihr nachgeordneten Bürokratie verschluckten Skandale mit Milliarden schweren finanziellen Folgen zu Lasten der Steuerzahler, so als gäbe es keine Aneinanderreihung von Misserfolgen, wird sie vom Zusammenschluss konservativer Parteien EVP als ihre Spitzenkandidatin zur Europawahl unterstützt werden. Es gibt allerdings einen Preis, den von der Leyen für diese Unterstützung zahlen muss. Weniger Grün, mehr Industrieförderung – so könnte man ihre künftige Leitlinie umreißen. So zog sie ihren Vorschlag für eine Pestizidverordnung zurück – ein Eingeständnis nicht nur an protestierende Landwirte, sondern auch an die Parteifreunde in Berlin.
Dass das EU-Parlament die Kommission vor den EuGH bringt, ist nicht üblich. Das Parlament hatte 2021 zwar schon einmal gegen von der Leyen und ihr Team geklagt, weil diese eine damals neue Regelung zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen in EU-Staaten zunächst nicht angewendet hatten. Jedoch zog das Parlament die Klage zurück, nachdem die Behörde im April 2022 begann, die sogenannte Konditionalitätsverordnung gegen Ungarn zu nutzen. Sie ermöglicht es, für Ungarn vorgesehene EU-Mittel einzufrieren, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch der Gelder droht.
Im Umfeld dieser Verordnung legt sich das EU-Parlament jetzt erneut mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, indem es gegen die Freigabe von zehn Milliarden Euro an Ungarn aus Fördermitteln klagt. Von der Leyen habe die Auszahlung nicht ausreichend begründet und gefährde damit die Rechtsstaatsregeln, heißt es. Aus Sicht der Abgeordneten des Parlaments hat die Klage grundsätzliche Bedeutung. Es gehe darum, den Ermessensspielraum der Kommission bei der Freigabe von EU-Geldern zu klären, heißt es. Die Brüsseler Behörde kann bei Rechtsstaatsbedenken große Milliarden-Beträge aus dem EU-Budget einfrieren, diese aber auch wieder freigeben. Das EU-Parlament hat dabei kein Mitentscheidungsrecht.
Im konkreten Fall geht es um zehn Milliarden Euro, die die „Queen of Europe“ nur einen Tag vor dem EU-Gipfel im Dezember „aufgetaut“ hatte. Der Europäische Gerichtshof soll nun auf Initiative des Europäischen Parlaments klären, ob die Kommissionspräsidentin diese Summe für Ungarn freigeben durfte, die wegen der massiven Korruption im Land zurückgehalten worden waren. Es steht der Verdacht im Raum, dass sich Ursula von der Leyen sich vom ungarischen Regierungschef Victor Orbán hat erpressen lassen, als sie die Freigabe der Gelder ungeachtet eines anders lautenden fraktionsübergreifend beauftragten Rechtsgutachtens mit Justizreformen begründete, die in Ungarn eingeleitet worden seien.
Von der Leyen habe sich von Orbán „erpressen“ lassen, um der Ukraine zu helfen, heißt es vor allem bei den Grünen. „Es kann nicht sein, dass die EU-Kommission zehn Milliarden an Viktor Orbán in einem Kuhhandel freigibt“, erklärt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. „Diese Klage ist die Antwort des Europaparlaments auf die verfehlte Rechtsstaatspolitik von Ursula von der Leyen.“ Ähnlich äußerte sich sein Parteifreund Sergey Lagodinsky. Ungarn dürfe nicht weiter „Mittel zur Erpressung der EU“ haben.
Die Kommission hatte die zehn Milliarden Euro am 13. Dezember 2023 freigegeben, am Vorabend eines EU-Gipfels zur Unterstützung der Ukraine. Orbán hatte zuvor angedroht, die Verhandlungen zum Beginn der Beitrittsgespräche mit der Ukraine platzen zu lassen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Kommission das Geld nicht ausgerechnet am Tag vor dem Gipfel im Hauruckverfahren hätte freigeben müssen. So drängt sich der Eindruck auf, dass Orbán damit zu Zugeständnissen bewegt werden sollte.
Der Trick des Kanzlers
Kanzler Olaf Scholz baute Orbán für diesen Deal noch eine Brücke. Er wurde im Nachhinein für seinen Trick gefeiert, Ungarns Premier vor der Abstimmung zum Kaffeetrinken zu schicken – um so ungestörte EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu ermöglichen. Doch der Sieger des dann einstimmig erfolgten und gefeierten Votums heißt letztlich doch wohl Orbán: Da er noch viele Gelegenheiten haben dürfte, die Aufnahme der Ukraine in die EU zu sabotieren, konnte also zum Auftakt großzügig wegschauen. Der Kaffeetrick beim Gipfel hat ihm für seinen Widerstand obendrein die perfekte Begründung geliefert: Orbán kann von jetzt an behaupten, der Eröffnung der Verhandlungen nie zugestimmt zu haben. Und letztlich: Orbán hat Milliarden bekommen und weiß nun, dass er die EU erpressen kann. Der Kaffeetrick festigt also Orbáns Masche. Noch am zweiten Gipfeltag machte der Ungar seine künftige Zustimmung zu Ukrainehilfen von der Freigabe der restlichen eingefrorenen 22 Milliarden Euro an EU-Mitteln abhängig. Denn die zehn Milliarden Euro sind Teil einer Summe von insgesamt 32 Milliarden Euro, deren Freigabe die EU-Kommission wegen Rechtsstaatsverstößen der ungarischen Regierung blockiert hatte. Bei der Restsumme will die EU-Frontfrau hart bleiben: Die 22 Milliarden Euro blieben eingefroren, bis Ungarn auch Bedenken etwa bei der Freiheit der Universitäten, beim Asylrecht und bei den Rechten von sexuellen Minderheiten ausgeräumt habe, betont von der Leyen.
Schwierige Beweisführung
Die EU-Kommission ist der Ansicht, dass sie am Vorabend des Gipfels in voller Übereinstimmung mit dem EU-Recht gehandelt habe, sagt ein Sprecher. „Ungarn hatte alle von der Kommission geforderten Beweise für die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz vorgelegt.“ Allerdings ließ sich dies bisher nicht überprüfen. Nun kommen alle Fakten auf den Tisch – wenn auch erst nach der Europawahl im Juni. Denn das EU-Gericht dürfte frühestens 2025 über den Präzedenzfall beraten. Die Erfolgsaussichten sind aber eher mager. Es werde schwer zu beweisen sein, dass die Kommission Fehler gemacht habe, heißt es in einem Rechtsgutachten, das das EU-Parlament angefordert hatte. Es sei nicht vorherzusagen, wie der Gerichtshof entscheiden werde, sagte der Rechtspolitiker René Repasi, der für die Sozialdemokraten als Stellvertreter im Rechtsausschuss sitzt: „Mit der Rechtsstaatlichkeit dürfen meines Erachtens keine politischen Spielchen gespielt werden. Deswegen müssen die Grenzen auch strikt rechtsstaatlich ausgerichtet sein“, so Repasi. „Und es gibt schon Zweifel, ob die richterliche Unabhängigkeit, um die es hier ging, in Ungarn tatsächlich wiederhergestellt worden ist. Zum anderen geht es um den Schutz der finanziellen Interessen der Union.“
Die Mehrheit der EU-Abgeordneten ist auch aufgrund eben dieses Rechtsgutachtens der Meinung, dass die Entscheidung der Kommission, die Gelder freizugeben, nicht auf objektiven Verbesserungen im ungarischen Justizwesen und der Rechtsstaatlichkeit beruht, wie die EU-Kommission behauptet. Die Fraktionsvorsitzenden verweisen darauf, dass die EU-Kommission vor einem Jahr, als sie die Gelder aus Kohäsionsfonds einfror, von Ungarn nicht nur Gesetzesänderungen, sondern auch deren wirksame Anwendung verlangt habe. Dies sei jedoch eindeutig bisher nicht der Fall. Sie verweisen insbesondere auf den Landesjustizrat, die Selbstverwaltung der Richterschaft, der derzeit neu gewählt wird und gegenüber dem von der Regierung kontrollierten Landesgerichtsamt gestärkt werden soll. Solange Gerichtsurteile in Ungarn „über Nacht per Dekret abgeändert“ werden könnten, gebe es weiter „schwerwiegende“ Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit in dem EU-Staat, erklärte die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier. Um gegen die Entscheidung der Kommission vorzugehen, bleibe dem Europaparlament nur der Gang vor den EuGH.
Agent Provocateur
Kritiker der ungarischen Regierung können auf viele Verstöße gegen europäische Werte und Regeln verweisen: Sie reichen vom Verbot der Aufklärung über LGBT-Themen an Schulen über die Beschneidung der Unabhängigkeit von Medien und Justiz bis zur Zweckentfremdung von EU-Geldern zugunsten weniger von Orbán mafiös organisierter Günstlingsfamilien. Schamlos ergreift der Regierungschef Partei für Kreml-Chef Wladimir Putin mit der Begründung, Russlands Krieg gegen die Ukraine sei nicht Ungarns Krieg. Inzwischen fordert er recht unverblümt, das angegriffene Land fallenzulassen, die Reduzierung der Militärhilfe für die Ukraine und die Abkehr von den Sanktionen gegen Russland. Besseren Agenten, der den gegenüber Kiew hilfsbereiten EU-Partnern bei jeder Gelegenheit ein Bein stellt, kann sich der Kreml sich kaum wünschen.
September 2022: Das Europäische Parlament spricht Ungarn ab, eine Demokratie zu sein. "Unter Sachverständigen" herrsche zunehmend Einigkeit darüber, "dass Ungarn keine Demokratie mehr ist", heißt es in einer von der Mehrheit der Abgeordneten in Straßburg gebilligten, nicht bindenden Entschließung. Ungarn sei "zu einem hybriden System der Wahlautokratie geworden".
Dass ein Mitgliedstaat derart offen gegen die EU und ihre Sicherheitsinteressen arbeitet, ist beispiellos und erfordert eine Reaktion, die über das rituelle Murren hinausgeht. Bisher ließ Brüssel Orbán das beschämende Theater durchgehen, weil Ungarn die Hilfs- und Sanktionspakete am Ende doch mittrug. Aber darauf ist eben kein Verlass, zumal der Streit zwischen Ungarn und der EU hat sowohl eine ideologische als auch eine geopolitische Dimension besitzt. Spätestens seit 2014 verkündet Orbán, er wolle eine Alternative zur westlich liberalen Demokratie aufbauen: „Die ungarische Nation ist nicht einfach eine Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt und entwickelt werden muss. In diesem Sinne ist der neue Staat, den wir aufbauen, ein illiberaler Staat, ein nicht-liberaler Staat.“
Am nächsten kommt Orbáns Vision dem Modell der illiberalen Demokratie in Singapur. Die Regierungen in Ungarn wie in Singapur haben sich für eine Erhöhung der Geburtenrate eingesetzt, heterosexuelle Familien besonders gefördert und versucht, Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung ihrer jeweiligen Länder zu verhindern. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist Singapurs Nulltoleranz-Politik gegenüber der Korruption. Davon kann man in Ungarn nichts sehen.
Geopolitisch verkompliziert sich die Lage für Ungarn dadurch, dass es gezwungen ist, ein konstruktives EU-Mitgliedsland zu bleiben – auch nach Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar. Orbán wurde zum Teil wegen des Slogans „Ungarn zuerst“ wiedergewählt. Viele Ungarn erwarten, dass er sie vor einer Verwicklung in den Krieg und seinen negativen Folgen, vor allem für die Energiepreise, bewahrt. Letztlich wird die Regierung Orbán also wahrscheinlich weiterhin gegen jede wichtige EU-Initiative ihr Veto einlegen – seien es Sanktionen gegen Russland, eine EU-Körperschaftssteuer oder eine eventuelle Reform der EU-Verträge – bis Ungarn nicht mehr im finanziellen Fadenkreuz der Kommission steht.