Psychogramm einer politischen Scheidung

Die CDU in Hessen versucht’s mal mit der SPD. Noch im Mai hatten Ministerpräsident Boris Rhein und sein grüner Stellvertreter, Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, eine herausragende Bilanz Ihrer gemeinsamen Regierungsarbeit vorgestellt. Hessen sei stark wie nie und stehe fast überall besser da als zu Beginn der Legislaturperiode, hieß es damals. Nach dem fulminanten Sieg bei der Landtagswahl will die CDU von der erfolgreichen Partnerschaft nun nichts mehr wissen und schickt die Grünen in die Opposition. Dankbarkeit ist eben selten eine politische Kategorie. Die Christdemokraten denken zuerst mal an sich und setzen durch ihre Entscheidung für einen Koalitionspartner SPD ein Zeichen, das für ihren Ministerpräsidenten und die Partei über Hessen hinaus von Bedeutung ist. Dieser Zusammenhang war für viele politische Beobachter eine Option, allein die Grünen waren auf diese Variante offensichtlich nicht vorbereitet. 

Viele Beobachter gingen nach der Wahl davon aus, dass die zehn Jahre alte Koalition aus CDU und Grünen auch eine weitere Legislaturperiode laufen würde. Auch Tarek Al-Wazir und andere grüne Entscheidungsträger auch auf Bundesebene scheinen von der Entwicklung vollkommen überrascht worden zu sein und reagieren teils beleidigt. Dabei verwundert es doch sehr, dass die Grünen so unvorbereitet in diese Situation geschlittert sind, wo doch Al-Wazir via Interview verkündet, dass die Grünen von Anfang an keine Chance gehabt hätten. Grünen-Co-Bundesvorsitzender Omid Nouripour bläst ins gleiche Horn. 

Fehlende Vereinbarung

Bei abstrakter Betrachtung wird die Begründungskulisse für die Enttäuschung von grüner Seite so aufgebaut, dass die Vereinbarungen in den Sondierungsgesprächen mit der SPD so auch mit den Grünen hätten getroffen werden können, wenn auch mit Modifikationen. Zusätzlich sticht noch der Aspekt heraus, dass die Grünen den Ministerpräsidentenwechsel von Volker Bouffier zu Boris Rhein vor eineinhalb Jahren mitgetragen haben. So wie es scheint, haben sie mit dieser Zustimmung keine weiteren Abreden mit den CDU-Vertretern vereinbart, sonst hätten sie den Bruch einer solchen Vereinbarung öffentlich thematisiert. 

Vordergründig scheint die Sachlage klar, doch lohnt sich die Mühe, einen tieferliegenden Deutungsversuch zu unternehmen, um sich das Ergebnis der jetzigen Situation erklären zu können. Als Volker Bouffier sich anschickte, als Ministerpräsident eine schwarz-grüne Regierung zu bilden, und damit eine neue politische Perspektive in Hessen und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland im Kontext der machtpolitischen Ambitionen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu etablieren, kam es zu intensiven Gesprächen mit Tarek Al-Wazir und der grünen hessischen Spitze. Diese Konstellation leitete eine neue Phase in der deutschen Politik ein. Bouffier, der ehemalige Hardliner in der CDU, verständigte sich mit Al-Wazir und schlug die Brücke zu den Grünen mit der Aussage, es könne auch sein, dass die Auffassungen der politischen Kontrahenten im Kern richtig sein könnten.  

Das Duo bestimmte über viele Jahre die Politik in Hessen, wobei der in die Rolle des Landesvaters hineingewachsene Ministerpräsident zunehmend wie die Vaterfigur für den deutlich jüngeren Stellvertreter wirkte. Während sich der früher so spontane, gewitzte Al-Wazir sich als Vize und im Ministeramt immer mehr abschliff, schaffte es Bouffier, auch als engster Unterstützer der Kanzlerin ein immer stärkeres Profil zu entwickeln.

Eigentlich war der weitere Weg vorbestimmt. Der ehemalige, leider zu früh verstorbene, Finanzminister Thomas Schäfer war als potenzieller Nachfolger Bouffiers im Amt des Ministerpräsidenten vorgesehen. Sein Tod warf den Zeitplan für die Nachfolgeregelung über den Haufen. Das ließ auch die Psychodynamik der beiden Führungspersönlichkeiten nicht unbeeinflusst. Bouffier hatte als Vaterfigur und Elder Statesmen eine Konstellation hervorgerufen, in der man transaktionsanalytisch ihn als Eltern-Ich und dessen Stellvertreter im Kind-Ich bezeichnen könnte.  

Diese psychosoziale Konstellation sollte sich mit dem Wechsel von Volker Bouffier zu Boris Rhein völlig verändern. Letzterer hatte die OB-Wahl in Frankfurt gegen Peter Feldmann verloren, auch weil die Grünen ihn nicht unterstützt hatten. Dieser Schlag saß tief, und Rhein brauchte lange, um sich davon zu erholen. Er war Staatssekretär im Innenministerium, dann Innenminister, Minister für Wissenschaft und Kunst und gehörte später nicht mehr dem Kabinett an, sondern wurde dann zum hessischen Landtagspräsidenten gewählt. 

Wer kann wie mit wem?

Nach dem Rücktritt Bouffiers erfolgte in der CDU die Sondierung über einen Nachfolger. Boris Rhein folgte dann für viele überraschend dem Ministerpräsidenten. Dass die Grünen dieser Empfehlung folgten, ohne weitere Abreden vorzunehmen, ist möglicherweise dem engen Verhältnis von Al-Wazir zu Bouffier geschuldet. Aber Beobachtern der Szene war klar, dass das Verhältnis vom ehemaligen Ministerpräsidenten zum Offenbacher sich nicht übertragen ließ, der jüngere Rhein würde schließlich nicht in die Vaterrolle von Bouffier schlüpfen können. 

Unterstrichen wird diese Deutung auch vom Ansinnen Al-Wazirs, für das Ministerpräsidentenamt kandidieren zu wollen. Das lässt sich auf der Grundlage der damaligen Umfrageergebnisse sogar nachvollziehen. Aber damit machte sich Al-Wazir zum direkten Konkurrenten von Rhein. Die Landtagswahl brachte dann ein überdeutliches Ergebnis hervor. Die CDU erreichte ein hervorragendes Resultat, die Grünen stürzten ab, sind nur noch viertstärkste Partei, hinter AFD und SPD. Al-Wazir ist die tragische Figur dabei: Als stellvertretender Ministerpräsident hat er nach dem höchsten Amt gegriffen und ist abgestürzt wie Ikarus. Schlimmer noch: Trotz Amtsbonus hat er das Direktmandat für den Landtag verfehlt.

Viele Grüne glaubten auch nach dem verheerenden Wahlergebnis an die Weiterführung der Koalition mit der CDU, verloren dabei offensichtlich den Blick auf die sich abzeichnenden Prozesse. Wenn nach von beiden Partnern bilanzierten erfolgreichen Jahren der Zusammenarbeit sich ein Partner mehrere Wochen Zeit lässt für Sondierungen auch mit Mitbewerbern, zeigt das ein deutlich gesunkenes Interesse an der Fortführung dieser Liaison.

Es gibt aber auch noch ein machttaktisches und strategisches Interesse zu berücksichtigen. Wenn Boris Rhein Ambitionen vorhat, bundespolitisch eine starke Rolle spielen zu wollen, dann ist die schwarz-grüne Konstellation von den Protagonisten Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen und Daniel Günther in Schleswig-Holstein schon hinreichend besetzt. Boris Rhein müsste sich trotz seines herausragenden Wahlergebnisses hinten anstellen. Durch die Wahl einer schwarz-roten Konstellation, setzt er nicht nur ein deutliches Zeichen in der politischen Landschaft Deutschlands, sondern er steht an vorderster Stelle für einen Paradigmenwechsel mit Anschlussfähigkeit an Friedrich Merz. Zugleich nabelt er sich vom Übervater Volker Bouffier ab. 

Mitbewerber im Kabinett

Außerdem mag es weitere intrinsische Motive für die Entscheidung gegeben haben. Mit Al-Wazir hätte Rhein einen Mitbewerber im Kabinett, der natürlich seine Profilierung nicht zurücknehmen würde, was zu vielleicht auch nur intern ausgetragenen Rivalitäten führen könnte. Die andere Mitbewerberin ums hohe Amt, Nancy Faeser, bleibt ja in Berlin. Sie ist damit nicht mehr im engsten Umfeld der Regierung in Hessen aktiv. Auch das könnte ein zusätzliches Motiv für die Entscheidung gewesen sein – als sei es entnommen aus den Vorschlägen von Machiavelli.

Wie sich Psychodynamik und Gruppendynamik in der neuen Konstellation entwickeln werden, ist die spannende Frage nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen, gibt es doch immer Überraschungen in Hessen, auch wenn sich manches oft schon vorher erschließen lässt. Ganz zu Anfang stehen da die Personalien…..

2 Gedanken zu „Psychogramm einer politischen Scheidung

  1. Danke für den interessanten Beitrag! Strategie und Taktik sind offenbar nach wie vor die bestimmenden Punkte in der Politik. Naiv zu glauben es ginge da vorwiegend um politische Inhalte.

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