Corona hat die Branche einigermaßen überstanden. Der Fußball leidet aber weiterhin an einem speziellen Virus namens Hybris. Oder ist es etwa nicht anmaßend, wenn der ehemalige Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL) Andreas Rettig die Politik auffordert, dem Profifußball „als Kulturgut“ entsprechenden Schutz zukommen zu lassen: „Der Fußball muss denselben Schutz genießen wie die kritische Infrastruktur, Medien, oder andere relevanten Bereiche.“ Muss er das?
Mit dieser Ansage aus der Parallelwelt der von der FIFA als Markenkern vertretenen Gigantomanie im Eventkalender dieser Welt wird wieder einmal bewiesen, dass der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen dazu neigen, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Befördert durch jahrzehntelange, bisher ohne Konsequenzen gebliebene Praxis, hat sich in der Welt der Kicker ein Gefühl der Unantastbarkeit breit gemacht. In der Blase Fußball werden die Probleme des wahren Lebens einfach ausblendet. Wenn nur erst der Ball rollt, sind alle Nebengeräusche über korrumpierte Gewinnmaximierer an der Verbandsspitze, über horrende Spielergehälter und Ablösesummen, über verfehlte entwicklungspolitische Ziele bei der Vergabe von Fußball-Turnieren in arme Regionen dieser Erde oder an autokratische Staaten vergessen. Die Droge Fußball wird´s schon auf dem Rasen richten, meinen die Macher – und merken nicht, dass sie sich zusehends vom Fußballvolk wegbewegen.
In dieser Welt der Gigantomie gibt es plötzlich Widersacher, durch die das bisher so einträgliche Geschäftsmodell gefährdet wird. Weil das System finanziell längst überfordert ist, erhalten immer öfter Investoren aus Katar oder Saudi-Arabien die Gelegenheit, Fußballclubs zu übernehmen. In der der Szene eigenen Selbstüberheblichkeit formuliert Rettig sein Problem gleich staatstragend: „Wir erleben einen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie.“ Geht´s nicht eine Nummer kleiner?
Der Fußball soll seine hausgemachten Probleme gefälligst selbst regeln, beispielsweise den korrupten Sauhaufen an der Funktionärsspitze rausschmeißen, das Wertefundament national und international neu errichten, nach US-Vorbild Gehaltsobergrenzen anhand des Gesamtumsatzes des jeweiligen Vereins einführen, damit die Vereine dem ruinösen Rattenrennen um die Spieler entkommen können nen. Das alles sind doch keine gesamtgesellschaftlichen Aufgaben.
Das sieht auch der Ex-Sportchef des Bundesligisten VfL Wolfsburg Jörg Schmadke so, der gepusht durch die Corona-Krise für grundlegende Änderungen im Profifußball plädiert: „Wir müssen uns unterhalten über Ablösesummen. Wir müssen uns unterhalten über Beraterzahlungen. Wir müssen uns unterhalten über Gehälter.“ Ein radikales Umdenken mahnt auch Augsburg-Geschäftsführer Michael Ströll an: „Jeder muss in den vergangenen Monaten festgestellt haben, dass höher, schneller, weiter nicht immer das richtige Mittel und vor allem in Krisenzeiten enorm gefährlich ist.“ Und: „Wer jetzt nicht kapiert hat, dass dieses System krankt, dem ist nicht mehr zu helfen.“
Richtig, das System Fußball ist krank. Seine Behandlung aus dem System heraus steht aus. Stattdessen soll die Politik das Kulturgut Fußball retten, weil das Gekicke in maßloser Selbstüberschätzung der kritischen Infrastruktur der Bundesrepublik zugerechnet wird. Dazu passt eine zugegebenermaßen etwas angestaubte, aber aufschlussreiche Stellungnahme der FIFA. Deren Forscherin Christiane Eisenberg hat dem Fußballsport schon 2006 vor dem deutschen „Sommermärchen“ attestiert, als weltumspannende Kultur keiner Politisierung mehr zu bedürfen: „Der moderne Fußball […] hat sich längst zu einem Kulturgut sui generis entwickelt. Eine Verstärkung durch außersportliche Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, da er für seine Anhänger selbst einen Sinnzusammenhang darstellt.“ Eisenberg verweist dabei auf weltweit über 200 Mitgliedsverbände in der FIFA, die dadurch flächendeckender als selbst die UNO in Erscheinung trete.
Von solcher Größenordnung und Selbstherrlichkeit geblendet, blenden wir mal aus, dass am hybriden System Weltfußball nicht nur FIFA-Gang-Mitglieder, sondern auch Potentaten, Multimillionäre, skrupellose Geschäftemacher und Kriminelle mitverdienen. TV-Verantwortliche sind an der Expansion des Systems beteiligt, indem sie Unsummen für Übertragungsrechte zahlen. Ein von der EU-Kommission vorgelegtes Weißbuch des Sports benennt die Herausforderungen des Kicksports als Folge dieser ungehemmten Kommerzialisierung: „Ausbeutung von Minderjährigen, Doping, Korruption, Rassismus, illegale Wetten, Gewalt und Geldwäsche“. Noch Fragen zum Kulturgut Fußball?