Die Sache mit der Staatsräson

Des Bundeskanzlers Besuch in Israel inmitten der blutigen Auseinandersetzung des Judenstaates mit der Terrororganisation Hamas soll den politischen Freunden im Nahen Osten signalisieren, dass Deutschlands Platz an der Seite Israels ist. Olaf Scholz´ Visite ist die greifbare Variante der innen letzten Wochen immer wiederkehrenden Floskel von der Sicherheit Israels als Staatsräson.

Botschaft aus dem Gaza-Streifen: „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Foto: Stefan Klaffen / picelio.de

Den vor Pathos triefenden Begriff hatte Vorgängerin Angela Merkel erst 2008 wieder in Erinnerung gerufen, als sie vor dem israelischen Parlament sagte: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck relativierte bei einem Israel-Besuch 2012, die Sicherheit und das Existenzrecht Israels seien „bestimmend“ für die deutsche Politik. Und: Merkels Wort von der Staatsräson könne die Kanzlerin in „enorme Schwierigkeiten“ bringen, sagte Gauck und verband das auf Nachfrage mit den unbeliebten Auslandseinsätzen der Bundeswehr und einen denkbaren Krieg Israels etwa mit dem Iran.  Ungeachtet dessen griff Olaf Scholz am 8. Oktober 2023 die Aussage seiner Vorgängerin in seiner Regierungserklärung auf, indem er – ohne Merkels Einschränkung auf einen „Teil“ – sagte: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“ 

Doch was bedeutet diese rhetorische Verknüpfung zu einem alles andere überragenden Interesse für die deutsche Außenpolitik? Steht Deutschland nicht auch ohne dieses mächtige Diktum regelmäßig bei Auseinandersetzungen in der UNO zuverlässig an der Seite Israels und unterstützt es auch gegenüber dem Iran? Hat die Bundesrepublik nicht schon immer für die Gestaltung eines regionalen Umfelds eingesetzt, das Israels Sicherheit begünstigt? Und gibt es nicht ohnehin schon Unterstützung in harter Währung durch Rüstungslieferungen? Gehört zu der die Solidaritätsbekundung weit überragenden Staatsräson in diesem Zusammenhang, dass Deutschland für die Sicherheit Israels einsteht, etwa mit der Verpflichtung, gegebenenfalls die Existenz Israels aktiv mitzuverteidigen, etwa durch die Entsendung der Bundeswehr? Was sich hier so abenteuerlich liest, wird am Rande deutscher TV-Talkrunden durchaus in Erwägung gezogen. Es ist Ausdruck einer allgemeinen Unsicherheit im Umgang mit einer politischen Leitlinie, die ungeachtet dessen auch wegen der historischen Hintergründe in nahezu allen Parteien unumstritten ist. Allerdings: Diese Leitlinie macht keine Unterschiede. Die damit verbundenen Verpflichtungen gelten gegenüber Regierungen jeglicher Couleur in Israel, was im Sinne Joachim Gaucks „enorme Schwierigkeiten“ mit sich bringen kann.  

Das Mantra von der Staatsräson lässt sich leicht herunterbeten, weil damit keine rechtlichen Verpflichtungen verknüpft sind, wie Staatsrechtler Alexander Thiele laut „Frankfurter Rundschau“ gegenüber „Ippen.Media“ klargestellt hat. Auch eine „formale Beistandspflicht“, wie etwa innerhalb der NATO, bestehe nicht. Also schießen wieder einige Experten mit Forderungen nach aktiver Beteiligung an militärischen Operationen Israels in vorauseilendem Gehorsam über das Ziel hinaus. Außerdem: Israel wird wohl nicht zuvorderst seinen Raketenschutzschirm-Kunden Deutschland konsultieren, wenn seine Sicherheit bedroht wird, da wird eher der Schulterschluss mit Washington gesucht.

Belasteter Begriff

Merkel und Scholz haben allen bereits existierenden Grundentscheidungen der deutschen Israel-Politik mit der Staatsräson einen programmatischen Rahmen ohne verfassungsrechtliche Auslegung gegeben, dessen sich die politische Elite gerne bedient. Das, was aktuell noch unter dieses Dach schlüpfen könnte, wäre die aktuell diskutierte Einstellung der Entwicklungshilfe für Palästina, die Bekämpfung der Hamas- und Hisbollah-Sympathisantenszene im Innern und militärische Unterstützung über das bisherige Maß hinaus.

Die deutsch-israelische Rüstungskooperation reicht bis in die 1950er Jahre zurück und reflektierte – angesichts der Ermordung von über sechs Millionen europäischer Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – schon damals die besondere Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber Israel. 1955/56 lieferte die junge Bundesrepublik zwei Patrouillenboote. In den folgenden Jahrzehnten führten beide Staaten diese Kooperation über ihre jeweiligen Auslandsgeheimdienste fort. Dabei entwickelte sich eine Praxis, nach der Lieferungen deutscher Rüstungsgüter an Israel zu einem hohen Anteil, zum Teil sogar vollständig von der Bundesrepublik bezahlt werden. Innenpolitisch waren diese Lieferungen eben aus Gründen der Staatsräson wenig umstritten.

Doch ist der Begriff, der von der Herkunft her Vernunft und Einsicht impliziert, auch negativ behaftet. Denn merke: Während die Bundesrepublik sich als Vorkämpferin gegen Kriegsverbrechen in aller Welt inszeniert, hat sie sich jahrzehntelang für Strafbefreiung für deutsche Kriegsverbrecher im Zweiten Weltkrieg starkgemacht. Dies belegen geschichtswissenschaftliche Untersuchungen. Berlin dringt darauf, russische Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg strafrechtlich zu ahnden. Ganz im Gegensatz dazu setzten sich sämtliche Regierungen der Bundesrepublik von 1949 bis 1989 konsequent für die Freilassung deutscher Kriegs- und anderer NS-Verbrecher im westlichen Ausland ein. Der Historiker Felix Bohr zeichnet dies in seinem Buch „Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“ am Beispiel deutscher Kriegsverbrecher in Italien und in den Niederlanden nach. Der staatliche Einsatz für Kriegs- und NS-Verbrecher wurde demnach von allen größeren Parteien im Deutschen Bundestag mitgetragen und gehörte „bis 1989 zur bundesdeutschen Staatsräson“.

Mit dem Bekenntnis, die Sicherheit Israels gehörte zur deutschen Staatsräson, zählt man also nicht per se gleich zu den Guten. Mit dem Tugendsymbol „Wir sind alle Israel“ gerät man auch in eine moralische Falle. Ein Beispiel: 2022 geißelte die EU-Kommissionspräsidentin die gezielten russischen Angriffe auf zivile Infrastruktur von Wasser, Strom und Heizung als Handlungen puren Terrors“. Als Israel dieser Tage die Bewohner Gazas von den Netzen abklemmte, gab es mahnende Worte allein von den Vereinten Nationen.

Solidaritätsbekundung am Brandenburger Tor. Foto: Dimitri Kletsel / pixelio.de

Nach Ansicht des Staatsrechtlers Helmut Rumpf steht die Idee der Staatsräson im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaates. Das Denken aus Staatsräson gelte in der Rückbetrachtung auf Machiavellismus, Rechts- und Vertragsbruch, geheime Kabinettspolitik, Kriegslist, Mord und geheime Machenschaften als überholt. Mit Bezug auf das Vorwort für ein internationales Kolloquium über Staatsräson in Tübingen schreibt Rumpf: „Der Begriff der Staatsräson gehöre „zu jenen tragenden Begriffen der Neuzeit, die ihre konkrete Bedeutung infolge der weiteren geschichtlichen. Entwicklung verloren und anderen tragenden Begriffen Platz gemacht haben“. Das datiert aus 1974, ist aber heute noch aktuell.

Um es klarzustellen: Es gibt politisch keinen anderen Platz als an der Seite Israels. Doch sollte nicht bei jeder Gelegenheit von der Staatsräson schwadroniert werden. Der Begriff ist nicht präzisiert, eher Blendwerk, daher wenig greifbar und zudem noch belastet. Letztlich müssen der Wortmacht aber Taten folgen. 

Auch Juden in Deutschland brauchen Sicherheit

Und das bezieht das eigene Territorium ein. Dort breitet sich seit dem Terrorangriff der Hamas in aufgeheizter Stimmung der Hass auf Israel aus. Die antisemitische Gewalt auf deutschen Straßen im Umfeld von Beifallskundgebungen und Pro-Palästina Demonstrationen nimmt immer mehr zu. Verletzte Polizisten und Passanten, brennende Autos und Barrikaden, Molotowcocktails gegen eine Synagoge und Davidsterne an Hausmauern schaffen ein Klima der Angst. Jüdinnen und Juden fühlen sich nicht mehr sicher, kleben Klingelschilder ab, schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule oder in die Kita – und denken ans Auswandern. Das alles ist mehr als acht Jahrzehnte nach der Reichspogromnacht eine Schande und zum einen Ausweis einer verfehlten Migrationspolitik in Bezug auf den dort allem aus dem Nahen Osten importierten Antisemitismus. Außerdem wurden Studien zum in der deutschen Bevölkerung erschreckend stark verhafteten Antisemitismus eher schulterzuckend nur zur Kenntnis genommen. Die Gewerkschaft der Polizei spricht jetzt in diesem gesamten Kontext von einer „widerlichen Stimmung in Deutschland“.

„Die Sicherheit Israels ist Staatsräson“, sagt Olaf Scholz. Schließt das in Deutschland lebende Juden nicht mit ein? Der Schutz jüdischer Einrichtung, der zuletzt wieder verstärkt wurde, lindert Symptome, bekämpft aber nicht die Ursachen. Mit harter Hand will der Bundeskanzler nun die antisemitischen Taten verfolgen. Warum erst jetzt? Und was meint er damit? 

Die von vielen Seiten geforderte Ausweisung von Hamas-Unterstützern wird aus rechtlichen Gründen in den meisten Fällen nicht möglich sein. Und dann? Schnellverfahren und ab ins Gefängnis, lautet der nächste Vorschlag im Kampf gegen Krawallmacher und Straftäter. Gut so. Doch hilft das nicht gegen das Grundübel, dass Migranten aus dem Nahen Osten das Existenzrecht Israels nicht anerkennen und diese Haltung mitbringen. 

Also muss dieses tradierte Weltbild korrigiert werden, wenn der Schutz jüdischen Lebens höchste Priorität hat, wie ständig betont wird. Es ist Aufgabe politischer Bildung, die Neubürger mit deutscher Staatsräson bekannt zu machen. Einen Anfang hat das Parlament ja schon gemacht und mehr Mittel für den Kampf gegen Antisemitismus bereitgestellt. Nach „Spiegel“-Informationen erhält RIAS, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, nun 390.000 Euro mehr. Zuvor waren insgesamt 600.000 Euro eingeplant. Das kann dann aber angesichts der aus dem Ruder laufenden Lage doch wohl nur ein Anfang sein. 

Ein Gedanke zu ”Die Sache mit der Staatsräson

  1. Vieles – ja nahezu alles – in dem Beitrag teile ich und kann es auch unterstützen! Aber ein Satz macht mich nachdenklich. Der Satz „Doch hilft das nicht gegen das Grundübel, dass Migranten aus dem Nahen Osten das Existenzrecht Israels nicht anerkennen und diese Haltung mitbringen.“ Diese Feststellung ist mir viel zu pauschal und undifferenziert. Ist das wirklich so, dass alle Migrant:innen aus dem Nahen Osten das Existenzrecht Israels nicht anerkennen? Ich habe solche Erfahrungen nicht gemacht! Es besteht zunehmend die Gefahr, dass mit einer solchen Feststellung, von dem leider auch bei einem nicht unwesentlichen Teil der biodeutschen Bevölkerung bestehenden Antisemitismus, unbewusst abgelenkt wird. Dies wird uns doch aber fast tagtäglich auch durch Aussagen von AfD-Funktionären vor Augen geführt.

    Mich treibt in diesem Zusammenhang auch noch was ganz anderes um, nämlich dass es offensichtlich in Deutschland wieder möglich ist präventiv und pauschal, selbst ohne konkret vorliegende Anhaltspunkte, also rein auf Verdacht es könnten dort womöglich strafbare Aussagen getätigt werden, Demonstrationsverbote ausgesprochen werden. So was geht gar nicht! Wir dürfen das nicht einfach hinnehmen, ob uns die jeweilige Meinung gefällt oder nicht.

    Anmerkung der Redaktion: In dem Beitrag wird sehr wohl auf den wachsenden Antisemitismus in Deutschland hingewiesen. Und ernsthaft kann niemand behaupten, dass es für die aktuellen Demonstrationsverbote keine konkreten Anhaltspunkte gibt.

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