Hat der Liberalismus noch Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit oder kann er´s nicht? Muss man den Liberalismus dafür „neu denken“ oder wird er einfach unter Wert gehandelt und schlecht umgesetzt? Unbestreitbar ist er ernsthaft herausgefordert, auf globaler Ebene durch autoritäre und keineswegs erfolglose Entwicklungsmodelle, siehe China. In Europa durch „illiberale“ Demokratien, siehe Ungarn und Polen. In Deutschland selbst durch linke und rechte Identitätspolitik sowie eine neue Lust an staatlichen Interventionen. Ralf Fücks und Rainald Manthe vom „Zentrum liberale Moderne“ haben nun mit Förderung der Zeit-Stiftung und der Friede-Springer-Stiftung einen Band herausgegeben, in dem ein breites Spektrum von teilweise recht prominenten Autoren versucht, die Frage zur Zukunft des Liberalismus zu beantworten.
Liberalismus neu denken
Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit
Transcript Verlag, 202 Seiten 19,50 €
ISBN: 978-3-8376-6319-8
Die gegenwärtige Krise des Liberalismus hängt, so lernt man, auch damit zusammen, dass man ihn lange überschätzt und allzu sehr darauf vertraut hat, dass er durch sich selbst überzeugt und ausreichende Bindungskräfte an eine freiheitliche Ordnung erzeugt. Demokratie und Freiheit sind keineswegs einfach zwei Seiten einer Medaille, wie Rainer Hank in seinem Beitrag zeigt. Auch in der Demokratie müsse die Freiheit immer wieder verteidigt werden. Die Globalisierung hat in den Gesellschaften weltweit machtvolle Gegenkräfte zur liberalen Ordnung erzeugt, so die These von Michael Zürn. Die Begleiterscheinungen der Globalisierung, Öffnung der Märkte, neue Konkurrenz, nicht zuletzt aber auch Migration und die Zunahme der Vielfalt von Kulturen, Lebensstilen und Identitäten haben, Zürn zufolge, der liberalen Demokratie „innere Gegner“ geschaffen, gegen die die liberale Demokratie bisher noch keine wirksamen Mittel gefunden habe.
Besonders deutlich wird dieser Aufstand gegen die liberale Ordnung in Ostmitteleuropa, dem Jaques Rupnik nachgeht. Hier habe man von liberaler Seite lange Zeit die soziale Frage vernachlässigt, was sich rechte Populisten zunutze machten. Ebenso habe man die Gesellschaften dieser Länder mit einem zu schnellen kulturellen Wandel überfordert, was zum Widererstarken der nationalistischen Identitätspolitik und einer „Regression der Demokratie“ in Richtung Illiberalität dort beigetragen habe.
Die Frage der Ungleichheit wurde von Liberalen lange Zeit zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Christoph Möllers weist darauf hin, dass Ungleichheit selbst ein freiheitgefährdendes Potential aufweise und ein Individualismus ohne eine soziale Dimension seine eigenen Grundlagen gefährdet. Deshalb brauche es so etwas wie eine „liberale Kapitalismuskritik“.
Jan-Werner Müller, Professor an der Princeton-Universität, warnt allerdings davor in den, in Deutschland besonders lauten, „kommunitaristisch-kitschigen Chor“ einzufallen, nachdem „Demokratie primär Zusammenhalt bedeute“. Eine erfrischende These, die den neu gedachten Liberalismus vielleicht vor seinem nächsten großen Irrtum bewahren kann, nämlich den, man könne die Spannung, die nun mal zwischen Freiheit und Gleichheit angelegt ist, durch das Beschwören von Zusammenhalt und sozialem Ausgleich einfach aufheben.
Ein neu gedachter Liberalismus muss sich allererst aus dem Salon der kosmopolitisch-aufgeklärten, materiell bestens abgesicherten Eliten in die rauhe Wirklichkeit der Gesellschaft begeben, wenn er denn für sich eine wirklich ernsthafte Perspektive beanspruchen will. Dort wird man auf harte Kontroversen stoßen, etwa zur Migration. Es mag humanitäre Argumente für offene Grenzen für Flüchtende, es mag auch viele wirtschaftliche Argumente für den Zuzug von Arbeitskräften geben, man muss sich aber klar sein, dass man sich dadurch auch auf Konflikte stößt, nicht nur Verteilungskonflikte bei Arbeitsplätzen und Wohnungen, sondern auch kulturelle Konflikte. Cornelia Schu zitiert in ihrem Beitrag Befunde aus Untersuchungen des Sachverständigenrats für Migration, dass die Bevölkerung eine zunehmende kulturelle Diversität der Gesellschaft akzeptiert, aber gesichert haben will, dass Zuwandernde hier etwas leisten, also Arbeit aufnehmen, für sich selbst sorgen und sich ein Stück weit auch anpassen. Bedingungslose Zuwanderung findet offenkundig keine Zustimmung. Hilfreicher als ein überstrapazierter Zusammenhaltsdiskurs sei hier die Einübung der zivilen Austragung von Konflikten.
Den Nexus zwischen wirtschaftlichen Freiheitsrechten und sozialen und politischen Freiheitsrechten scheinen einige Autoren dem schönen Bild eines sozial geläuterten Liberalismus zuliebe ein wenig in den Hintergrund rücken zu wollen. Wirtschaftliche Themen spielen in dem Band keine zentrale Rolle. Ausnahmen: die Beiträge von Gabriel Felbermayer zum Freihandel, von Achim Wambach zur Wettbewerbspolitik und von Herausgeber Fücks selbst mit einem Plädoyer für die Eigentumsbildung breiterer Schichten. Eigentum war und ist eben auch ein wichtiger Pfeiler einer freiheitlichen Ordnung. Da hat er recht. Ob mit einer „Eigentümergesellschaft“ wirklich eine Alternative zur „Klassengesellschaft“ des Kapitalismus geschaffen werden kann, steht jedoch dahin. Die Forderung der Eigentumsbildung ist ja nicht neu. Nur ist das Ganze nicht ohne Nebenwirkungen zu haben. Dazu wird leider nichts ausgeführt.
Und weil das so ist, ist es auch so schwierig mit dem Ausgleich von sozialen und wirtschaftlichen Freiheitsrechten. Der prominente Eröffnungsbeitrag des in den USA lehrenden Historikers Timothy Garden Ash ist ein Beispiel dafür wie man Widersprüche und Konflikte überspielt. Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Globalisierung und nationale Identität – all das möchte er mit einem vermittelnden „Sowohl als auch“ im neu erfundenen Liberalismus des 21. Jahrhunderts versöhnen. En passant plädiert er für ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, das er auch ins Paket des neuen Liberalismus packen möchte. Er ist Historiker und kein Ökonom. Wäre er dies, hätte er vielleicht eine Ahnung davon, welche gigantische Umverteilung mit erheblichen Eingriffen in Eigentumsrechte so etwas auslösen würde.
Ein Beitrag, der die Widersprüche, Spannungen und Konflikte einer liberalen Ordnung etwas genauer und ehrlicher beleuchtet, hätte dem Band gutgetan. Denn nur damit kann man der Gefahr des Selbstbetrugs entgegen, der den Liberalismus des 20. Jahrhunderts schließlich in der Sackgasse hat enden lassen.
Der Band von Fücks und Manthe bietet trotz einiger Leerstellen einen guten Überblick über liberales Denken heute. Gut für den Leser, dass es diesen Band auch als Open Source kostenlos zum Herunterladen im Internet angeboten wird. Allerdings fehlt in der Open-Source-Ausgabe der Artikel von Timothy Garden Ash.