Arbeitsminister Hubertus Heil hat mit seinem Vorstoß zu einem härteren Vorgehen gegen „Totalverweigerer“ eine neue Debatte um die Spielregeln im Sozialstaat ausgelöst. Sein Gesetzentwurf sieht vor, dass Beziehern von Bürgergeld, die sich „willentlich weigern, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“ die Regelleistungen für zwei Monate ganz gestrichen werden. Eine längst überfällige Korrektur des mit dem Bürgergeldgesetz seit Anfang 2023 eingeschlagenen Kuschelkurses, der das „Fordern“ ganz in den Hintergrund gerückt hat, sagen die einen. Populistische Symbolpolitik, die Bürgergeldbezieher unter den Pauschalverdacht der Arbeitsscheu und sozialen Trittbrettfahrerei stellt, so die Kritiker von Heils Initiative.
Es ist unverkennbar, dass Heil bei dieser Sache Getriebener und kein Gestalter ist. Er muss seinen Beitrag zu Haushaltskonsolidierung leisten. Gleichzeitig schaukelte sich in der Öffentlichkeit der Unmut über allzu großzügige Sozialleistungen hoch, die zum sehr großen Teil Immigranten zu Gute kommen und vermutlich einen gewissen „Pull-Faktor“ in den aktuellen Migrationswellen darstellen. Zudem hat man festgestellt, dass ukrainische Flüchtlinge sich in den meisten europäischen Ländern recht gut und schnell in den Arbeitsmarkt integriert hätten, weil sie motiviert und in großen Teilen auch gut qualifiziert sind. Nur in Deutschland dümpelt der Anteil der Flüchtlinge in Arbeit noch immer bei 19 Prozent. Auch das lastet man dem laschen Regime des Bürgergeldes an.
Kaum Anfang 2023 mit großem Aplomb als „Unser Schritt nach vorn“ installiert, geriet das Bürgergeld zusehends in Verruf. Politisch war der Wechsel von „Hartz 4“ zum Bürgergeld ja ganz bewusst verbunden auch mit einer Abkehr von dem als hart empfundenen System des Förderns und Forderns mit der Anforderung an Leistungsberechtigte jede, evtl. auch gering entlohnte, Arbeit anzunehmen, um die eigene Notlage zu überwinden. Der Wechsel war zugleich eine Hinwendung zu der Idee des partnerschaftlichen Problemlösens zwischen Verwaltung und Klienten „auf Augenhöhe“ statt mit paternalistischen Vorgaben. Sanktionen sollten zurückgedrängt werden. Es gibt sie zwar auch im Bürgergeld, nun als „Leistungsminderungen“ bezeichnet. Aber sie sind gegenüber vorher deutlich abgeschwächt und mit höheren verfahrensmäßigen Auflagen für die Verwaltung verbunden, was auch dazu beiträgt, dass sie seltener verhängt werden.
Zugegeben, ein großer Teil der Abschwächung des Sanktionsregimes ist nur die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts von Ende 2019, in dem die seitherigen Sanktionsregelungen teilweise als nicht verfassungskonform abgelehnt worden waren. Aber die Auflagen des Verfassungsgerichts fügten sich hier durchaus in den politischen Willen vor allem von Grünen und SPD-Linken, eine Grundsicherung zu schaffen, die den Einzelnen weniger und den Staat mehr in die Pflicht nimmt. Gleich zu Beginn der Ampel-Koalition hatte man deshalb bis zum Beginn des im Koalitionsvertrag vereinbarten Bürgergeldes ein „Sanktionsmoratorium“ vereinbart, das, in Verlängerung einer Aussetzung von Sanktionen während der Corona-Pandemie, fast alle im Gesetz in der damaligen Fassung vorgesehenen Sanktionen aussetzte, bis das Bürgergeldgesetz dann Anfang 2023 in Kraft trat.
Dabei waren Sanktionen auch im alten Hartz-4-System, anders als in der Öffentlichkeit oft unterstellt, keineswegs ein Massenphänomen. Mehr als vier bis fünf Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten waren nie von Sanktionen betroffen. Darunter waren es in der Mehrheit kleine Sanktionen wegen Terminversäumnissen, bei denen zehn Prozent des Regelsatzes für ein paar Wochen gestrichen worden waren.
Dennoch hatten Sanktionen Wirkung im Arbeitsmarkt. Die Arbeitsmarktforschung hat in mehreren Studien zeigen können, dass Sanktionen die Chance auf Integration in Arbeit erhöhen. Schon die Tatsache, dass es Sanktionen gibt, beeinflusst das Verhalten positiv, so die Befunde der Wissenschaftler. Enzo Weber, Forscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hat sich nun das für ein halbes Jahr von Mitte 2022 bis Anfang 2023 geltende Sanktionsmoratorium als eine Art Realexperiment für das Funktionieren einer Grundsicherung ohne Sanktionen vorgenommen. Er kommt zum Ergebnis, dass das Aussetzen der Sanktionen die Jobchancen der Arbeitsuchenden um sieben Prozent gemindert hat. Also auch hier eine klare Bestätigung für die These, dass es ohne „Fordern“ auch mit dem „Fördern“ nicht so recht weitergeht.
Mit seinem aktuellen Gesetzesentwurf greift Heil auf ein Hintertürchen zurück, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. November 2019 unter der Randnummer 209 eingebaut hatte. Nachdem das Gericht zunächst sehr ausführlich darlegt, dass Kürzungen des Existenzminimums nur bis maximal 30 Prozent des Regelsatzes der Leistungen und nur unter Anstrengung sehr strenger Maßstäbe zulässig seien, wird darauf hingewiesen, dass es sich anders verhalte, wenn Leistungsberechtigte es selbst in der Hand hätten, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Werde eine tatsächlich verfügbare Möglichkeit der Existenzsicherung durch eigene Arbeit ausgeschlagen, könne auch der gesamte Regelsatz gestrichen werden.
Arbeitsminister Heil setzt genau hier an und will damit wieder ein wenig „Fordern“ in das System zurückbringen. Vor allem aber geht es ihm um den Haushalt. Da will er durch die neue Regelung 170 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Bei einem Regelsatz von 563 Euro pro Monat im Jahr 2024 kann man leicht errechnen, dass es über 150 Tausend Kürzungsfälle pro Jahr brauchte, um dieses Sparziel zu erreichen. Wenn man bedenkt, dass es im ganzen Jahr 2023 bis August insgesamt nur rund 147 Tausend Kürzungsfälle gab, erscheint das Einsparziel von Heil denkbar unrealistisch, ganz abgesehen von der Frage, ob es überhaupt in einem nennenswerten Umfang gelingt, die neue Totalsperrung der Leistungen gerichtsfest umzusetzen. Eine Statistik der „Totalverweigerer“ gibt es nicht. Heil selbst sagt, dass es sich um eine kleine Minderheit handele.
Zweifel sind also berechtigt, wenn es um die quantitativen und fiskalischen Wirkungen der neuen Regelung geht. Grundsätzlich aber ist die Initiative von Heil ein wichtiger Impuls, um der eingeschlafenen Debatte um den aktivierenden Sozialstaat, um eine neue Balance von Fördern und Fordern, um eine Neujustierung der Rechte und Pflichten wieder etwas Leben zu verleihen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte heute in der Bevölkerung noch weniger Rückhalt in der Bevölkerung als in Zeiten, wo ein scheinbar nicht endendes Wachstum immer neue Umverteilungsspielräume zu eröffnen schien. Das Niveau der Grundsicherung war schon vor der Einführung des Bürgergeldes eines der höchsten unter den OECD-Ländern. Aktuelle Vergleichszahlen gibt es noch nicht. Aber es steht zu vermuten, dass das deutsche System inzwischen an die Spitze vorgerückt ist. Das kann man durchaus positiv sehen, zeigt es doch zum einen die Stärke der deutschen Wirtschaft, die ein solches System finanziert, zum anderen den hohen Grad von gesellschaftlichem Zusammenhalt, der sich in der damit verbundenen Umverteilung zugunsten der Schutzbedürftigen ausdrückt.
Man sollte sich aber klar sein, dass die Akzeptanz eines solchen Solidarsystems in der Bevölkerung nur dann gegeben ist, wenn es das Gefühl gibt, dass es nicht ausgenutzt wird, dass nur wirklich Bedürftige Leistungen erhalten, dass es glaubhafte Anstrengungen zur Überwindung ihrer Notlage bei den Betroffenen gibt. Außerdem sollte vermittelt werden, dass der Staat auch Mittel einsetzt, die entsprechende Haltung auch durchzusetzen, dass es also eine gewisse Reziprozität von Leistung und Gegenleistung gibt. Der niederländische Sozialforscher Wim van Oorschot hat sich ein ganzes Forscherleben lang mit der Frage der Akzeptanz von Sozialleistungen in der Gesellschaft befasst. Er fügte als Ergebnis seiner Studien in verschiedenen Ländern zu den genannten Kriterien ein weiteres hinzu: Es muss in der Bevölkerung auch das Gefühl geben, dass die Begünstigten in irgendeiner Weise als zum eigenen Referenzsystem gehörig angesehen werden, also „einer von uns“ ist.
In einer immer vielfältigeren und zersplitterten Gesellschaft ist dieses Kriterium der jeder gesellschaftlichen Solidarität zugrunde liegenden gemeinschaftlichen Identität sicher am schwersten einzulösen. Migration fordert die Idee der Solidargemeinschaft zusätzlich heraus. Inzwischen sind 42 Prozent aller Leistungsberechtigten in der Grundsicherung Nicht-Deutsche, mit stark steigender Tendenz.
Einige Ökonomen, etwa Branco Milanovic, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, aber auch der Sachverständigenrat Migration und Integration schlagen deshalb vor, Anrechte auf Sozialleistungen an die Zeit des Aufenthalts im Land zu koppeln – geringe Anrechte für Neuankömmlinge, volle Anrechte für die Alteingesessenen, egal ob deutsch oder nicht-deutsch. Das sind interessante Gedanken. Sie sind aber rechtlich nur sehr schwer umsetzbar. Deshalb braucht man andere Streben, um den Konsens im Sozialstaat zu sichern.
Klar ist auf jeden Fall, die Zustimmung zu einem umverteilenden Sozialstaat und einem großzügigen und inklusiven Grundsicherungssystem ist fragiler als viele denken. Deshalb ist es wichtig, deutlich zu machen, dass Bedürftigkeit streng geprüft, Eigenaktivitäten eingefordert und die Aufnahme von Arbeit massiv gefördert werden. Nicht um damit den Haushalt sanieren, sondern um den sozialen Frieden zu sichern. Der Vorschlag von Arbeitsminister Heil mag als Beitrag zum verfassungskonformen Bundeshaushalt ein Rohrkrepierer sein, inhaltlich ist er ein wichtiger Impuls, um wieder einmal neu über Sinn und Zweck unseres Grundsicherungssystems nachzudenken.