Wokeness ist ein Kampfbegriff geworden. Das gilt sowohl für die Befürworter wie die Gegner einer Einstellung, die sich selbst als „wach“ oder „aufmerksam“ bezeichnet. Es gibt wenig sachlich begründete Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Empörung. Die Wokeness-Illusion – Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“ heißt ein neu erschienenes Buch der Redaktion des Monatsmagazins „Cicero“, in dem sich die Autoren mit verschiedenen Aspekten der Identitätspolitik und der Wokeness beschäftigen. Das Vorwort von Chefredakteur Alexander Marguir verrät eine intensive Beschäftigung mit der „Szene“ und eine kritische Prüfung zentraler Elemente von Wokeness. Die komprimierten Erkenntnisse wollen wir bloghaus-Lesern im Rahmen unserer kleinen Serie nicht vorenthalten:
Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf überraschte der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit der Feststellung, er verstehe sich als „intersektionaler Feminist“. Hätte er sich lediglich dazu bekannt, konsequent für die Gleichberechtigung der Frauen einzutreten und sich als künftiger Regierungschef etwa dafür stark zu machen, geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede zu überwinden – jedem wäre seine Botschaft verständlich gewesen. Aber es reichte ihm offenbar nicht, Scholz erweiterte seine feministische Agenda um den Begriff der „Intersektionalität“.
Die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokraten dürfte mit diesem Wort zwar wenig anfangen können, jedoch sollte sie mit dieser Ansage auch gar nicht adressiert werden. Es handelte sich vielmehr um eine Unterwerfungsgeste gegenüber den „Kulturkämpfern des Wokeismus“, denen es darum geht, vermeintliche Opfergruppen immer feiner auszudifferenzieren und entsprechende Schnittmengen herauszuarbeiten.
Beim „intersektionalen Feminismus“ soll eine Benachteiligung von Frauen folglich nicht nur aufs Geschlecht zurückgeführt werden, sondern zudem auf Merkmale wie Ethnizität, Klasse, Religion oder sexuelle Orientierung. Die (westliche) Gesellschaft ist diesem Ansatz zufolge ein vielschichtiges, ausuferndes, allgegenwärtiges Unterdrückungssystem – eine Art jetztzeitige Höllenfahrt wie auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch.
Gesslerhut der identitätspolitischen Aktivisten
Kein Wunder, dass die identitätspolitischen „Social Justice Warriors“ der postmodernen Linken ihre Ziele mit nachgerade religiösem Eifer verfolgen wie hysterische Hexenjäger des 16. Jahrhunderts: Als nichtfarbiger, womöglich noch dazu heterosexueller Mensch männlichen Geschlechts steht man diesem Konzept zufolge praktisch qua Geburt unverrückbar auf der Täterseite – und nur regelmäßige antirassistische Bußübungen können diese Erbsünde ein wenig entlasten. Wenn überhaupt.
Der erweckte („woke“) Zeitgeist ist somit keineswegs progressiv, wie dessen Anhänger und Vorbeter es selbstgewiss behaupten, sondern vielmehr ein in hohem moralischem Ton vorgebrachtes antiaufklärerisches Glaubensbekenntnis. Noch dazu mit einer vernehmbar misanthropischen Note. Wirklich problematisch wird es aber, wenn selbst ein künftiger (und inzwischen amtierender) Bundeskanzler den Gesslerhut der identitätspolitischen Aktivisten glaubt grüßen zu müssen.
Zumal gerade ein Sozialdemokrat wie Olaf Scholz eigentlich gewarnt sein müsste. Denn kein Geringerer als der wirkmächtige US-Politologe Francis Fukuyama ließ in seinem schon 2018 erschienenen Buch mit dem Titel „Identität“ keinen Zweifel daran, dass der kulturelle Fokus der Identitätspolitik von ernsthaften Überlegungen darüber abgelenkt habe, „wie der dreißig Jahre währende Trend in den meisten liberalen Demokratien zu größerer sozioökonomischer Ungleichheit umgekehrt werden kann“.
Verachtung gegenüber der weißen Arbeiterschaft
Nichts anderes kritisiert übrigens die Linken-Polizikerin Sahra Wagenknecht, wenn sie ihrer eigenen Partei vorwirft, dem woken Wahnsinn zu frönen, anstatt sich ernsthaft auch um die materiellen Lebensumstände der „kleinen Leute“ zu kümmern. Der Niedergang klassischer linker Parteien (in Deutschland kämpft Die Linke inzwischen sogar um ihr schieres Überleben) korreliert nicht ohne Grund mit dem identitätspolitischen Eifer ihrer Funktionärsschicht: Wer seiner potenziellen Wählerschaft unentwegt einredet, Transphobie oder ein binäres Geschlechtermodell wären die eigentlichen Herausforderungen unserer Gesellschaft, oder jeden unter Rassismusverdacht stellt, der als hellhäutiger Geringverdiener an seiner eigenen vermeintlichen Privilegiertheit zweifelt, braucht sich über mangelnden Zuspruch nicht zu wundern.
Schlimmer noch: Der Erfolg eines rechtspopulistischen Demagogen wie Donald Trump wäre ohne die ideologischen Exzesse des woken Milieus mit seiner wenig verhüllten Verachtung gegenüber der weißen Arbeiterschaft kaum denkbar gewesen. Als die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton im Wahlkampf des Jahres 2016 die Trump-Anhänger als einen „Korb voller Bemitleidenswerter“ („basket of deplorables“) bezeichnete, war damit das Ende ihrer politischen Karriere besiegelt.
Der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel warnt denn auch dringend vor der kulturellen Hybris der Linken: Ein „kosmopolitischer Geist mit überschießender Moralität“ wirke wie ein Wachstumstreiber für den Rechtspopulismus. Nun könnte man sich fragen, warum linken Kulturkämpfern trotz ihres zumeist akademischen Hintergrunds nicht auffällt, dass sie eigentlich das Geschäft ihrer rechten Antagonisten betreiben. Die naheliegende Erklärung: Intellektualität und ideologischer Furor schließen einander keineswegs aus.
Es fing ursprünglich harmlos an
Meine Kollegen bei Cicero und ich haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder ausführlich mit dem Phänomen der Identitätspolitik auseinandergesetzt. Der Begriff selbst dient in diesem Zusammenhang als eine Klammer für unterschiedliche Ausprägungen dessen, was in Deutschland um die Jahrtausendwende herum als „politische Korrektheit“ Karriere zu machen begann.
Es fing ursprünglich harmlos an und wirkte zunächst wie ein Gebot der Achtsamkeit im gesellschaftlichen Miteinander: Dass eine Minderheit nicht verächtlich zu machen sei (etwa indem Sinti und Roma gegen ihren expliziten Willen als „Zigeuner“ bezeichnet werden), bedarf keiner weiteren Erklärung und folgt schlicht den Regeln der Höflichkeit und des Respekts. Aber irgendwann lief die Sache aus dem Ruder, als Rassismus zu einem strukturellen Massenphänomen deklariert werden sollte, das jedem Migranten, jeder Person of Color das Leben in Deutschland angeblich zur Hölle macht.
„Die Wokeness-Illusion – Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“, 128 Seiten, Herder-Verlag, 16 Euro,
ISBN: 978-3-451-39556-7
Ähnliches vollzog sich auf dem einst tabuisierten Feld des Geschlechtlichen und der Sexualität: Anstatt sich innerhalb einer Gesellschaft darauf zu verständigen, dass Schwule, Lesben oder Transpersonen als absolut Gleichberechtigte anzuerkennen sind und keine wie auch immer gearteten Nachteile erfahren dürfen, wurde ein vor allem medialer Hype um Sex und Gender vom Zaun gebrochen, der für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar war und inzwischen zu einer regelrechten Frontstellung geführt hat zwischen LGBTQ-Lobbyisten auf der einen Seite und auf der anderen Seite jenen, die vom permanenten Regenbogen-Bekenntniskitsch genervt sind und die sich nicht einreden lassen wollen, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt.
Bedrückend an diesem Kampf der Identitäten – seien sie ethnischer, geschlechtlicher, religiöser, milieubezogener oder jedweder anderen Art – ist nicht nur die (Selbst-)Viktimisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern die Unversöhnlichkeit, in der er geführt wird. Wenn jemandem etwa das Recht abgesprochen werden soll, überhaupt seine Meinung zu artikulieren, nur weil er oder sie nicht einer bestimmten Minderheit angehört und damit nicht über entsprechende (potenzielle) Diskriminierungserfahrung verfügt, ist kein zielführender Diskurs mehr möglich.
Und am Ende finden wir uns wieder in einer Situation, in der „die woke Ideologie persönliche Sensibilität mit der Logik des Ausnahmezustands“ verbindet und daraus „ein aggressives Auftreten gegen die von ihr identifizierten Feinde“ abgeleitet wird, wie es Bernd Stegemann in seinem Beitrag für dieses Buch so treffend formuliert. Es wäre eine Art Regression in den Hobbesschen Naturzustand unter den Vorzeichen einer vermeintlich progressiven Gesinnung.
Die identitätspolitische Agenda ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein Vehikel für ökonomische Interessen in Form regenbogenbunter Marketingkampagnen etwa von Speiseeisherstellern wie „Ben & Jerry’s“ (Unternehmensslogan: „Wir nutzen Eiscreme, um die Welt zu verändern“) oder klassischen Rentseekings jener wie Pilze aus dem Boden schießenden Nichtregierungsorganisationen, die im Namen der von ihnen vertretenen Minderheiten finanzielle Unterstützung durch den Staat einfordern.
Der Wokeismus hat mit seinem moralischen Absolutheitsanspruch vor allem das Ziel, sich die renitente Bevölkerungsmehrheit zu unterwerfen und Widerspruch dauerhaft zu unterbinden. Das beginnt beim Einsatz von Soft Power in Form der verordneten Gendersprache an Universitäten und zunehmend auch in Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Und endet schließlich am Abgrund kontrafaktischer Regelungen wie dem geplanten „Selbstbestimmungsgesetz“, wonach jeder Mensch in Deutschland sein Geschlecht künftig selbst festlegen und in einem einfachen Verfahren beim Standesamt ändern können soll.
Eine Gesellschaft aber, die gefühlte Wahrheiten zum Maßstab ihrer Verfasstheit erhebt, wird schneller erodieren, als der Weg zum nächsten Standesamt weit ist.
Alexander Marguir
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