Von Gerhard Albrecht und Gerhard Grandke
Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein und seine Hessen-CDU haben sich getraut: Sie wollen mit den Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen treten und damit das langjährige Bündnis mit den Grünen beenden. Offensichtlich gibt es mit der SPD größere inhaltliche Schnittmengen. Und Rhein erzielt mit dieser von der CDU-Spitze favorisierten Konstellation bundesweit mehr Sichtbarkeit.
Hessen vorn! Dieser Wahlspruch der hessischen SPD symbolisierte die eindrucksvolle Entwicklung des Bundeslandes in den 1960er Jahren unter dem damaligen Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Aber auch in anderer Hinsicht könnte diese Parole für Hessen gelten, weil es bei der Bildung von Koalitionen in der Vergangenheit stets Vorreiter war oder, wie es die „Süddeutsche Zeitung“ beschrieb, als Politiklabor galt. Einst gingen unter dem damaligen Ministerpräsidenten Holger Börner und dem Umweltminister Joschka Fischer SPD und Grüne ihre erste Koalition ein, die Gerhard Schröder dann 1998 im Bund nachahmte. Später bildete Volker Bouffier die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland. Und aktuell beabsichtigt Ministerpräsident Boris Rhein nach mehrwöchigen Sondierungen auch mit den Grünen nunmehr mit den hessischen Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen mit dem Ziel einzutreten, in Hessen künftig eine schwarz-rote Koalition zu bilden. Damit würde Hessen nach 1950 – als das Bundesland nach seiner Gründung von 1946 – 1950 unter Führung der Sozialdemokraten mit der CDU regiert wurde – wieder von einer Koalition aus diesen beiden Parteien regiert. Gleichzeitig bedeutet diese angestrebte Konstellation, dass Hessen das einzige Flächenland wäre, das von CDU und SPD regiert würde.
Rhein sucht Profilierung
Welche Gründe könnten nun für Rhein und die hessische CDU maßgeblich dafür gewesen sein, sich für Koalitionsverhandlungen mit der SPD zu entscheiden, die ja immerhin ihr schlechtestes Wahlergebnis in Hessen eingefahren hat?
Zunächst: Rhein hat sich klar gegen ein „Weiter so“ entschieden. Damit setzt er ein deutliches Signal sowohl für die Ampel in Berlin als auch für die oppositionelle AFD, die mit 18,4 Prozent soviel Stimmen auf sich vereint hat wie in keinem anderem westlichen Bundesland. Das musste die demokratischen Parteien in Hessen aufhorchen lassen, signalisiert aber auch, dass die Bürgerinnen und Bürger in Hessen sich künftig insgesamt eine konservativere Politik wünschen, insbesondere in den Bereichen Innere Sicherheit und Migration. Also berücksichtigen Rhein und die CDU mit ihrer Partnerwahl auch den Willen der Mehrheit der hessischen Wählerinnen und Wähler. Untermauert wird dieser Aspekt noch von einer Infratest-dimap-Umfrage für die „Tagesschau“, wonach sich immerhin 45 Prozent der Wahlberechtigten Hessen ein schwarz-rotes Bündnis wünschen, während eine schwarz-grüne Koalition nur von 36 Prozent der Befragten favorisiert wird. Gleichzeitig kann Boris Rhein mit dieser Entscheidung der AFD auch ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen, denn es wäre für die AFD sicher einfacher gewesen Nadelstiche Schwarz-Grün zu setzen.
Die künftige Regierung in Hessen will laut Rhein mehr Anreize statt Verbote für die Bürgerinnen und Bürger in Hessen schaffen, sie nicht bevormunden, sondern besser einbinden beziehungsweise die Gesellschaft zusammenführen. Das macht deutlich, dass Rhein auf diesem Sektor bei den seit dem sogenannten Heizungsgesetz als „Verbotspartei“ gebrandmarkten Grünen ein Defizit sieht.
Rhein will einen neuen Weg gehen, eigene Akzente setzen und sich damit eindeutig von seinem Vorgänger und Taufpaten von Schwarz-Grün Volker Bouffier absetzen. Gleichzeitig sendet Rhein mit seiner getroffenen Entscheidung auch ein klares Signal nach Berlin: Mein politisches Spielfeld, meine Ambitionen, sind nicht allein auf Hessen begrenzt! Damit will er eigenes Profil gewinnen, zumal das Bündnis mit der SPD auch die Debatte der Union über den künftigen Kurs in Berlin beflügeln wird.
In der Vergangenheit wurde stets die geräuschlose und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen CDU und Grünen hervorgehoben, weshalb Rhein auch betont, dass die Absage an die Grünen ihm „emotional sehr schwergefallen“ sei. Aber diese gute Zusammenarbeit war im Wesentlichen getragen von dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Volker Bouffier und Tarek Al-Wazir, das schon fast einer Vater-Sohn-Beziehung ähnelte. Und beim Blick zurück darf nicht ausgeblendet werden, dass insbesondere im Bereich innere Sicherheit und Migration CDU und Grüne Welten trennten.
Personen und Inhalte
Von den Inhalten kurz zu den handelnden Personen: Rhein und Al-Wazir sind fast gleichaltrig, sie hätten ihr Verhältnis zueinander neu definieren und entwickeln müssen. Auch dürfte der Umstand, dass Tarek Al Wazir erstmals als Ministerpräsidentenkandidat gegen Boris Rhein angetreten ist, bei der Entscheidungsfindung auch eine Rolle gespielt haben. Denn der Offenbacher hätte seine Rolle als stellvertretender Ministerpräsident aufgrund seiner zehnjährigen Erfahrung im Amt sicher sehr viel selbstbewusster interpretiert, als dies ein künftiger Stellvertreter aus Reihen der SPD tun kann. Auch eine Fußballmannschaft kann zwei zentrale Mittelfeldspieler, die das Spiel bestimmen wollen, nicht vertragen, wenn einer eher über die linke Seite das Spiel gestalten will und der andere eher über rechts. Insofern war es auch eine Fügung der besonderen Konstellationen in Hessen, dass die Spitzenkandidatin der SPD, Nancy Faeser, von Beginn an deutlich gemacht hat, dass sie nur als Ministerpräsidentin nach Hessen zurückkehren würde. Sie bleibt als Bundesinnenministerin in Berlin, nach derzeitigem Stand auch Landesvorsitzende der SPD in Hessen und kann in diesen Funktionen der beabsichtigten Koalition aus CDU und SPD eher nützlich sein, zumal auch Faeser eine stringentere Migrationspolitik eher befürwortet.
Letztlich dürfte auch der Ressortzuschnitt mit den Sozialdemokraten einfacher ausgehandelt werden. Die CDU will ein eigenständiges Landwirtschaftsministerium, das bislang dem Umweltressort unter der Grünen Priska Hinz angegliedert war. Und auch der Bereich Wirtschaft, eine Kompetenzhochburg der CDU, werden die Sozialdemokarten der CDU überlassen. Dies wäre mit den Grünen nicht ganz so einfach gewesen, denn damit hätte man den Kompetenzbereich von Al-Wazir beschneiden müssen, zu dessen Ressort dieser Bereich bisher gehörte.
Inhaltlich gibt es die größere Schnittmenge zwischen CDU und SPD vor allem in den Bereichen Innere Sicherheit und Migration. Während Tarek Al-Wazir beispielsweise stationäre Grenzkontrollen strikt ablehnt, fordert Boris Rhein eben gerade bundesweite Grenzkontrollen gegen illegale Migration. Zwar hat hier der Bund das Sagen, aber über den Bundesrat üben die Länder ihren Einfluss aus. Im Falle einer schwarz-grünen Koalition hätte sich Hessen dann, wie in der Vergangenheit, enthalten müssen.
Aber auch in den Bereichen Wirtschaft und Verkehr – wie dem Ausbau von Straßen – dürfte eine Einigung mit den Sozialdemokraten einfacher sein. Denn erst im Mai hatte Al-Wazir dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing mitgeteilt, dass er sieben von 30 Projekten ablehnt, die vom Bund zur Beseitigung von Engpässen an Autobahnen in Hessen vorgeschlagen wurden, darunter der zehnspurige Ausbau der A5 zwischen dem Frankfurter Kreuz und dem Nordwestkreuz.
Mit der SPD musste die CDU lediglich im Bereich der Bildungspolitik hart ringen, hinterfragen die Sozialdemokraten doch Schulnoten grundsätzlich und sprechen sich für längeres Lernen aus, während die CDU auf „Fördern und Fordern“ setzt. Aber auch hier scheint es bereits in den Sondierungsgesprächen eine Übereinkunft gegeben zu haben. In dem „Eckpunktepapier einer Hessenkoalition der Verantwortung“ heißt es zum Thema Bildung, dass sich beide Parteien zur „Bildungsgerechtigkeit und der Vielfalt der Schulformen, zur pädagogischen Selbständigkeit und dem Erhalt des mehrgliedrigen Schulsystems inklusive Noten und Sitzenbleiben“ bekennen. Hier ist die SPD der CDU sehr entgegengekommen.
Kommunale Kompetenz
Schließlich dürften Rhein und die hessische CDU bei ihrer Entscheidung die kommunale Stärke der SPD in Hessen nicht ganz unberücksichtigt haben lassen. Auch dies betont Rhein, indem er auf die „tiefe Verankerung“ der beiden Parteien in Kommunen verweist. Dies trifft sicher bei den Sozialdemokraten in besonderer Weise zu, werden doch alle großen Städte in Hessen – außer Kassel und Fulda – von roten Oberbürgermeistern regiert. Deshalb dürfte die Zusammenarbeit zwischen Land und Kommunen, beispielweise bei der Fortschreibung von Regional- und Flächennutzungsplänen mit den Sozialdemokraten künftig reibungsloser verlaufen.
Und schließlich: Auch das Risiko, dass ein schwarz-grüner Koalitionsvertrag bei den Grünen im Rahmen einer Urabstimmung von allen Grünen-Mitgliedern gebilligt werden müsste, dürfte Rhein nicht ganz außer Acht gelassen haben.
Natürlich gibt es auch gewisse Unwägbarkeiten bei einer Koalitionsbildung zwischen CDU und SPD. Insbesondere geht es zunächst darum, eine Vertrauensbasis zwischen den beiden Parteien zu schaffen und zu entwickeln. Insbesondere das völlig missglückte Video der SPD gegen Ende des Wahlkampfs, das Boris Rhein in die Nähe der AFD rückte, hat bei vielen Christdemokarten Zorn und Unverständnis hervorgerufen nach dem Motto: Und mit solchen Leuten sollen wir zusammenarbeiten? Zwar hat die Landesvorsitzende Nancy Faeser das Video unmittelbar nach Erscheinen gestoppt, trotzdem wirkt es nach. Allerdings betonte Rhein auf Nachfrage zu diesem Thema, dass darüber während der Sondierungsphase gesprochen worden und für ihn die Angelegenheit erledigt sei.
Gleichwohl muss die SPD alles daransetzen, Vertrauen und Verlässlichkeit neu aufzubauen. Was bleibt ihr nach fast einem Vierteljahrhundert in der Opposition auch anderes übrig? Rhein lobte zwar ausdrücklich die große „Diskursfähigkeit“ der SPD, gleichwohl muss sie ihre Regierungsfähigkeit nun ab sofort unter Beweis stellen. Da wäre es vielleicht durchaus hilfreich, sich der Professionalität und Erfahrung ihrer erfolgreichen Oberbürgermeister zu bedienen. Und es wäre klug, bei der Besetzung von Ministerposten auch über erfahrene und fachlich kompetente Seiteneinsteiger nachzudenken, zumal nur wenige Mitglieder der SPD-Fraktion als ministrabel gelten.
Darüber hinaus sollten vereinzelte Stimmen aus der Partei, die unmittelbar nach der Wahl den Rücktritt von Faeser und dem Fraktionsvorsitzenden Rudolph forderten, schnell verstummen. Gerade diesen beiden Protagonisten wird ein besonders gutes Verhältnis zu Boris Rhein nachgesagt und sie wären damit auch Garant für die Entwicklung einer guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der CDU. Rhein setzt auch auf Faeser und Rudolph bei der künftigen Zusammenarbeit, indem er insbesondere die Rolle dieser Beiden bei den Sondierungsgesprächen hervorgehoben hat.
Mit der Entscheidung für Schwarz-Rot gehen Rhein und die hessische CDU aus den genannten strategischen und inhaltlichen Gründen einen mutigen und klugen Weg. Rhein kann und wird in den anstehenden Koalitionsverhandlungen inhaltlich mehr CDU durchsetzen, was von der Mehrheit der Wähler in Hessen auch so gewollt ist. Rhein betont, dass „jede Zeit ihre besondere Herausforderung hat“ und deshalb die zentralen Herausforderungen wie die Begrenzung der illegalen Migration, die Stärkung des Rechtsstaats, des Abbaus von Belastungen für Bürger und Betriebe, dem sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie gleichwertigen Lebensverhältnissen in Stadt und Land absoluter Vorrang eingeräumt werden müsse.
Mit seiner Entscheidung bleibt der Ministerpräsident auch bundesweit im Gespräch. Und die hessischen Sozialdemokraten können endlich wieder mitregieren, sich dabei konsolidieren und auch inhaltlich neu ausrichten. Ansonsten droht ihnen das gleiche Schicksal wie in Bayern oder Baden-Württemberg. Deshalb ist diese Entscheidung für beide Parteien eine Win-win-Situation, aber auch für Hessen insgesamt nach dem Motto: Hessen vorn!
Aufmacherfoto: In Hessen wollen CDU und SPD gemeinsam regieren. Foto: Uwe Wagschal / pixelio.de
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Danke für diese Einschätzung. Sie trifft genau meine Gedanken. Das Regieren wird in Hessen leichter.
Hoffe, dass sowohl die SPD wie auch die CDU bei der Ministerbesetzung Kompetenz vor Parteiverdienste stellt.
Die Aussage des Artikels ist klar: Die SPD muss in Hessen endlich wieder mitregieren, sonst droht ihr die politische Bedeutungslosigkeit . Ich füge hinzu: koste es was es wolle! Und genau das ist der Punkt. Schon die Inhalte des Sondierungspapiers lassen ahnen, dass die SPD viele wichtige Inhalte dafür über Bord geworfen hat; zum Beispiel in Sachen Überwachung der Bürger:innen. Wenn ich mir die Inhalte genau ansehe, dann bleibt nicht mehr viel von den seit Jahren vertretenen fortschrittlichen bildungs- und sozialpolitischen Positionen der SPD übrig. Aber das ist ja ganz gleich, hauptsache nach 25 Jahren endlich ein kleines Stückchen von der Macht abbekommen. Ob die nahezu vollkommenen Abhängigkeit vom Willen der CDU für die SPD eine langfristig richtige Strategie ist? Im Zweifel werden in fünf Jahren dann die Wähler:innen doch lieber das Original wählen!