Der Krieg in der Ukraine hat für Kanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende markiert. Der Begriff dient seither als Rechtfertigung für so manchen politische Schnellschuss nach dem Motto: Krieg gleich Krise gleich Zeitenwende – weg mit alten Zöpfen, Geld spielt keine Rolle. Führt dieser Eifer in die Pleite?
Plötzlich sind 100 Milliarden für die Sanierung der Bundeswehr sowie eine fortschreitende Aufstockung des Wehretats zur Aufrüstung auf Nato-Standard kein Problem. Ebenso wenig die finanzielle Unterstützung für Gashändler, Raffinerien, Stromer, Pendler, Rentner, Autofahrer, Stadtwerke, Kliniken, Hartz-4-Empfänger, Mittelschicht, Kliniken, Handel, Gastronomie, Hotellerie, Industrie. Und nahezu täglich gibt’s neue Forderungen nach Staatshilfen aus allen möglichen Ecken unserer Gesellschaft. Auch wenn Kanzler Olaf Scholz & Co. den Eindruck vermitteln, über unerschöpfliche Finanzreserven zu verfügen, für die Behebung der aktuellen – auch selbst gemachten – Unwucht in der Ökonomie und deren verheerenden Auswirkungen auf das Individuum wird das Geld letztlich nicht reichen.
Ein Beispiel soll die Dimensionen aufzeigen. Die Senkung der Mehrwertsteuer beim Gas von 19 auf 7 Prozent kostet den Staat etwa 38 Milliarden. 2,5 Milliarden Euro kostet es zusätzlich, um über eine Gaspreisbremse die Kosten beim Endverbraucher nur um einen Cent zu senken. Aber: wenn kein Gas da ist, kann es auch nicht verteilt werden. Niedrige Preise erhöhen jedenfalls nicht das Angebot. Im Gegenteil, Nachfrage und Preise steigen. Dann ist die Deckelung für den Staat erst recht ein Fass ohne Boden. Vorsorglich werden mal 200 Milliarden Euro für den Mehrwertsteuercoup einkalkuliert, finanziert unter anderem auch von jenen, die sich in der Vergangenheit vorausschauend für andere Energieträger entscheiden konnten. Alles hat eben seinen Preis: es ist allerdings erst die vorläufige Schlussrechnung für 20 Jahre Billig-Gas aus Russland, denn 2023 sieht es an der Energiefront nicht freundlicher aus. Erst dann weisen die ersten kriegsbedingten Nebenkostenabrechnungen für das Gesamtjahr den Haushalten die wahre Teuerung aus.
Existenzangst wächst
Es kann also nicht verwundern, dass der nach dem Überfall der Ukraine mit den Sanktionen entfachte Wirtschaftskrieg gegen Russland Existenzängste unter den Deutschen schürt und deren Solidarität mit der Ukraine auf eine harte Probe stellt. Noch gibt die Regierung das Versprechen, niemanden in der gegenwärtigen Krise allein zu lassen. Doch ist schon anhand der bisher verabschiedeten Entlastungspakete sowie des verbreiteten Widerstands der Bundesländer zu erahnen, dass dieses Versprechen nicht zu halten sein wird. Es rächt sich, dass der Westen bei den als notwendig erachteten Sanktionen als Reaktion auf Russlands Angriff immer mal wieder die möglichen Folgen für die eigene Wirtschaft und Bevölkerung falsch eingeschätzt hat. Höchst bereitwillig hat sich die vom medial gepushten Bestrafungswillen der Mehrheit der Deutschen animierte sowie von der amerikanischen Administration orchestrierte Bundesregierung mit an die Spitze der Anti-Russland-Bewegung gesetzt; mit der Folge, dass Deutschland heute die größte Last der russischen Gegenmaßnahmen zu tragen hat. Die Führungsrolle im internationalen Sanktionsregime provoziert große Schäden für die deutsche Volkswirtschaft und birgt sogar die Gefahr einer Rezession, wenn nicht gar eines Kollapses. Dann kippt die Stimmung in der Bevölkerung schnell, werden moralische Kategorien zunehmend in Frage gestellt, wie auch Sanktionsmaßnahmen gegen Russland, die sich zumindest für die große Öffentlichkeit als wenig wirksam erwiesen haben.
Großspurig verkündete Solidarität mit der Ukraine hört spätestens da auf, wo der eigene Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in Gefahr sind. Dieses Szenario war vorauszusehen, selbst wenn als Folge von Sanktionen von Blut, Schweiß und Tränen sowie Existenzgefährdung nie die Rede war, allenfalls von leichten Einschränkungen. Vielmehr wurde der Kollaps der russischen Wirtschaft als Ziel ausgegeben. Blöd nur, wenn es anders kommt, Moskau äußerst kreativ fast allen wirtschaftlichen Haken ausweicht und aus der Deckung hart zurückschlägt. Blöd auch, weil der Abschwung in eine Zeit fällt, in der die Regierung während der Pandemie wegen Überbürokratisierung und Konzeptionslosigkeit ihre Kernaufgaben nicht wahrnehmen kann und ihr die verfehlte Energiepolitik ihrer Vorgänger ebenso auf die Füße fällt wie die Privatisierungswellen beispielsweise im Gesundheitswesen und beim Wohnungsbestand, wie Erziehungs-,Bildungs-, Pflege-,Arzneimittelnotstand sowie Arbeitskräftemangel, wie teure Sozialleistungsversprechen und die Billionen-Last einer vernachlässigten Infrastruktur. Baustellen, wohin man auch sieht, aber keine, für die die akuten Krisen ursächlich sind, wie viele glauben machen wollen.
Vorsorge Fehlanzeige
Trotz boomender Konjunktur und sprudelnder Staatseinnahmen wurde in den vergangenen 15 Jahren eines hochtourig laufenden Wirtschaftsmotors keine Vorsorge für schlechtere Zeiten getroffen, schlimmer noch: Deutschland ist heute ungeachtet viel höherer Steuereinnahmen und mehr sozialpflichtig versicherten Beschäftigten sowie ständig steigenden Exportüberschüsse für Krisen schlechter gewappnet als noch vor Jahren: Das Staatsvermögen ist geschrumpft, die öffentliche Infrastruktur ist marode, die gesamte Mobilität akut infarktgefährdet, die Bundeswehr hat ihre Einsatzfähigkeit verloren, beim Zukunftsthema Digitalisierung wurde ebenso der Anschluss an den internationalen Standard verschlafen wie bei der Bildung. Der Staat ist überreguliert und bremst so in schöner Regelmäßigkeit die Umsetzung selbst für die Zukunft relevanter neuer Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft aus. Zu allem Überfluss kommen die Gastgeber der gerade zu Ende gehenden deutschen Konjunkturparty aus dem Ausland: Chinesen als verlängerte Werkbank und Kunden, Chinesen und Russen als Rohstofflieferanten, Russen als Garanten für preiswerte Energie, die Eurozonen-Länder via EZB-Politik als unfreiwillige Steigbügelhalter deutscher Exportrekorde. Die Deutschen tummeln sich auf dieser Party derweil mit abflauendem Produktivitätswachstum, immer weniger Investitionen aufgrund ausufernder bürokratischer Hemmnisse, hohen Steuern, ungelösten Energie-, Zuwanderungs- und Generationsfragen. Auch deshalb ist der Standort weniger attraktiv, sinkt der Anteil der Industrie an der hiesigen Wertschöpfung kontinuierlich.
So verheerend war die deutsche Ausgangslage bei nüchterner Betrachtung bereits vor Verabschiedung der Sanktionen. Auch deshalb ist der Kritik von Linken-Frontfrau Sahra Wagenknecht zuzustimmen, die Regierung und Parlament mit Blick auf deren Fürsorgepflicht fürs deutsche Volk ins Stammbuch schrieb: „Man kann nicht einem anderen Land zu Hilfe kommen aus Solidarität und fährt das eigene in den Ruin.“ Der anfängliche Sturm der Entrüstung ob der vermeintlichen Russland-Nähe dieser Aussage ist inzwischen kaum mehr als laues Lüftchen wahrnehmbar. Längst dämmert es auch der breiten Bevölkerung, dass ihre Sicht auf Ökonomie und staatliches Handeln eine Illusion gewesen ist.
Angesichts der langen Liste von Staatsversagen stellt sich dann die Frage nach der Halbwertzeit der aktuellen Hilfszusagen für alle Lebenslagen bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen. Wer der Spendierlaune der Regierung wegen der aktuellen Staatsverschuldung und den anstehenden enormen Ausgaben für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands skeptisch gegenübersteht, der wird den Versprechen erst recht nicht trauen, wenn er an folgende Warnung des Bundesrechnungshofs anlässlich der Zustimmung der Regierung zur Schulden- und Transferunion auf europäischer Ebene erinnert wird: Die aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds erwachsene Last wird nach Ansicht der Haushaltsexperten Deutschland überfordern und die Spannungen der EU und Eurozone erhöhen.
Mehr Mut bei Steuern
Es gäbe freilich einen finanziellen Befreiungsschlag auch für die anderen gebeutelten Länder: Höhere und damit den Einkommen vergleichbare Steuersätze auf Kapitalerträge, die konsequente Besteuerung der Unternehmensumsätze in dem Land, indem sie erwirtschaftet wurden, sowie die fiskalische Erfassung der im Orbit vagabundierenden Billionen des Finanzkomplexes…. Für mehr Mut bei der Umsetzung einer dafür notwendigen international abgestimmten Strategie gegen schwindsüchtige öffentliche Kassen sind die Schmerzen aber offensichtlich immer noch nicht groß genug. Bei der jüngst eingeführten Finanztransaktionssteuer ist zu bemängeln, dass von ihr nur Aktiengeschäfte erfasst werden. Das hat nichts mit der ursprünglichen Idee zu tun, denn mehr als 90 Prozent der Finanztransaktionen -darunter Derivate auf Rohstoffe oder Indizes – sind ausgenommen.
So viel Wahrheiten zu den Sanktionen und ihren Folgen, die jetzt viele persönlich nicht mehr so recht tragen wollen und nach staatlicher Hilfe rufen, was unterm Strich auch ihr Konto belastet. Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass der Krieg in der Ukraine den Deutschen zwar die Illusion vom stabilen Wohlstand zerstört hat, staatliche Misswirtschaft aber schon zuvor Fakten für den Abschwung geliefert hat. Hat dieses Land nun genügend Kraft für einen Neustart? Da die Regierung nicht den Eindruck macht, mit drastischen Korrekturen der bisherigen Politik der Zeitenwende auf Reset zu drücken, besteht wenig Hoffnung auf einen zeitgemäßen und dem Druck der Verhältnisse angepassten Umbau des deutschen Geschäftsmodells, dessen Erosion auch aufgrund der einmaligen Gleichzeitigkeit der vielen Probleme erst einmal unaufhörlich fortschreitet.
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