Arbeit ist Mühe und eine Last. Aber sie muss gemacht werden. Wer leert sonst die Mülltonnen, backt das tägliche Brot? Wer hilft uns, wenn wir krank sind? Die Arbeit wird der Gesellschaft nicht ausgehen, weder durch Digitalisierung, noch durch einen Wertewandel hin zu mehr persönlicher Entfaltung inmitten ökonomischer Zwänge, auch weil sie Voraussetzung zur Teilhabe an der Gesellschaft und eines gelingenden Lebens ist.
Man at work Foto: pixel.de
Sinn und Ambivalenz der Arbeit
Arbeit ist eine Freude und gibt dem Leben Sinn. Aber nicht jeder hat einen guten Job, in dem er sich verwirklichen kann und manche Arbeit, obwohl schwer und entbehrungsreich, ist lausig bezahlt. Wer über Arbeit spricht, muss also darüber sprechen, wie Wohlstand erzeugt wird, aber auch über Ungleichheit in der Arbeit und Ungleichheit, die durch Arbeit erzeugt und reproduziert wird.
Eine positive Konnotation von Arbeit ist bekanntlich ein Produkt der Neuzeit. Während von der Antike bis ins europäische Mittelalter die Notwendigkeit zu arbeiten ein den Sklaven und unteren Klassen zugedachter Fluch war, bekam Arbeit mit der Reformation und der protestantischen Ethik auch einen spirituellen Wert. Wer arbeitet, ist damit gottgefällig. Müßiggang ist von Übel und Anfang des Verderbens. Der Philosoph Hegel zeigte in der berühmten dialektischen Denkfigur von Herr und Knecht, dass Arbeit zwar zunächst dem knechtischen Bewusstsein zufällt, diesem aber langfristig gerade durch die in der Arbeit stattfindende Aneignung der Natur, die damit erworbenen Kompetenzen und die Erfahrung der Vergegenständlichung im Produkt der Arbeit eine Freiheit vermittelt, die der auf Gewalt ruhenden Macht des Herrn überlegen ist und sich langfristig in der Geschichte durchsetzt. Arbeit wird so zur Quelle der Freiheit.
Karl Marx griff diesen Gedanken in seinen Frühschriften auf. Arbeit ist demnach die Form, in der menschliches Dasein sich als frei verwirklicht. Aber unter den gegebenen Umständen der bürgerlichen Gesellschaft ist sie abhängige Arbeit und dadurch auch entfremdete Arbeit. Erst in der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft kann sich das freiheitsstiftende Potential der Arbeit voll entfalten.
Die Klassiker der Ökonomie haben die Quelle von Wachstum und Wohlstand in den Prinzipien der kapitalistischen Wirtschaft verortet, Arbeitsteilung (Adam Smith), internationaler Handel (David Ricardo) und Entfesselung der Produktivkräfte durch technischen Fortschritt, Wettbewerb und Kapitalakkumulation (Karl Marx). All das hat dazu beigetragen, die Wirtschaft zu einer Sphäre gesellschaftlichen Austausches und gesellschaftlicher Arbeit zu entwickeln, die eigenen Gesetzen gehorcht. Smith zeigte, dass der gesellschaftliche Wohlstand steigt, obwohl oder gerade weil jedes Marktsubjekt seine eigenen Interessen egoistisch verfolgt. Spezialisierung schafft eine höhere Produktivität der Arbeit, aber sie macht einen funktionierenden Markt für den Austausch der Produkte notwendig. Damit wird jeder von allen anderen abhängig, jeder hängt an den Fäden, die von der unsichtbaren Hand des Marktes bewegt werden. Marx zeigte, wie sich aus der Reflexivität des Geldes, das nicht mehr Tauschmittel, sondern Kapital ist, ein Verwertungszwang ergibt, der stärker ist als die Motive und Interessen der einzelnen Kapitalisten, der Wettbewerb einen Zwang zum immer produktiveren Einsatz der Ressourcen entfesselt. Dadurch entsteht ein in der Menschheitsgeschichte noch nicht gekannter Reichtum, zugleich aber, so Marx, gesellschaftliche Spaltung in Klassen und Armut in krassester Form. Der Mensch ist im Kapitalismus, wie Marx ihn sah, kein Zweck an sich selbst, sondern ein Produktionsfaktor, der funktionieren muss und nicht viel kosten darf.
Wirtschaft als System
In der Soziologie wurde der Gedanken der produktiven Verselbstständigung der Wirtschaft in der Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung weitergeführt. Die moderne Gesellschaft ist, so Georg Simmel ebenso wie Emile Durkheim, Talcott Parsons oder Niklas Luhmann, in einem fortwährenden Prozess der Differenzierung begriffen. Es bilden sich gesonderte Handlungssphären oder „Systeme“ von Wirtschaft, Politik, Recht usw. heraus, die sich auf bestimmte gesellschaftliche Aufgaben spezialisieren und dadurch in ihren Bereichen immer leistungsfähiger werden. Allerdings ist der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang damit nicht mehr natürlich gegeben. Er stellt sich, wenn überhaupt, nur in einem spannungsreichen und nie ganz abschließbaren Prozess der gesellschaftlichen Selbstorganisation und Selbstkoordination her.
Niklas Luhmann hat diesen Gedanken noch weiter zugespitzt. Die Teilsysteme der Gesellschaft, z. B. die Wirtschaft, sind „selbstreferentiell“ geschlossene Systeme der Koordinierung menschlicher Handlungen, die auf der Basis ihrer eigenen Prämissen funktionieren und von außen nicht beherrscht werden können. Man kann sie in ihren Operationen, also etwa wirtschaftlichen Transaktionen, allenfalls irritieren, zum Beispiel durch Arbeitsgesetzgebung, Steuern oder Umweltstandards. Wie die Wirtschaft auf solche Impulse reagiert, ob wie gewünscht mit kräftigen Schritten in Richtung ökologische Transformation oder aber durch das Einstellen der Geschäfte und mit Arbeitsplatzabbau, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. In einer „funktional differenzierten“ Gesellschaft bleibt die Interaktion von Politik und Wirtschaft (um nur ein Beispiel aller denkbaren Interaktionen zwischen den verschiedenen Teilsystemen zu nennen) ein fortlaufender Prozess von „trial and error“, der immer wieder neu beginnt und nie an ein Ende gelangt. Genau dadurch wird die ja auch vorhandene destruktive Kraft des Kapitalismus eingehegt.
Würde man einen politischen Durchgriff in die Wirtschaft versuchen und die Wirtschaft der Politik unterordnen, riskierte man, dass das, was die Wirtschaft in der Moderne so leistungsfähig gemacht hat, verloren geht. Wahrscheinlich würde auch die Politik dann einen Teil ihrer Leistungsfähigkeit und Integrationskraft verlieren. Das Scheitern der vielen sozialistischen Experimente in der Geschichte scheint diese Diagnose zu bestätigen. Der Preis der modernen Gesellschaft und des in ihr erreichten Wohlstands ist, so würde Luhmann sagen, sich auf funktionale Differenzierung einzulassen und nicht der Illusion anzuhängen, vorhandene Probleme ließen sich durch politische Gewaltstreiche lösen oder man könne ohne Wohlstandsverluste zurück zu den Verhältnissen, in denen alles noch überschaubarer war.
Differenzierung findet jedoch nicht nur auf einer abstrakten Systemebene statt. Im Alltag der Menschen setzt sich Differenzierung fort als Spiel der Rollen, in die ein Mensch schlüpfen kann und muss, als Produzent, als Berufsmensch, als Konsument, als politisch Handelnder, als Familienmensch usw. Das ist nicht immer einfach. Viele haben darin eine Pathologie der modernen Gesellschaft gesehen, die die Menschen zerreißt. Aber auch hier gilt – ein Zurück zum ganzen Menschen, der stets als Ganzes wahrgenommen wird und handeln kann (wenn es das jemals gegeben hat), wäre nur um den Preis einer gesellschaftlichen Regression zu haben, des Verzichts auf Spezialisierungsvorteile und die mit der Differenzierung gegebene Vereinfachung der Kommunikation mit anderen, auf Entlastung in den alltäglichen Lebensvollzügen, wahrscheinlich auch des Verzichts auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und die Vielfalt von Sinnstiftungsmöglichkeiten, die sich in der modernen Gesellschaft eröffnen.
Formwandel der Arbeit
Die von Marx inspirierte Industriesoziologie sprach von der „Abstraktifizierung“ der Arbeit, die immer mehr maschinenbestimmt und immer stärker zergliedert und auf maximale Produktivität hin optimiert ist, in der sich die Arbeitsfunktionen von der Gesamtheit der Lebensvollzüge ablösen. Charlie Chaplin hat dieser Idee entfremdeter Arbeit in seinem berühmten Film „Moderne Zeiten“ ein Denkmal gesetzt. Aber die empirische Forschung im industriellen Arbeitsprozess hat immer wieder auch gezeigt, dass sich das „Subjekt“ nicht so einfach in Funktion auflösen lässt und dass Unternehmer gerade im Sinne der Optimierung ihrer Erträge aus der Produktion gut beraten sind, das „Subjektive“ im Arbeitsprozess nicht als unproduktiv abzuspalten, sondern es einzubeziehen und als Teil der Produktivkraft von Arbeit zu erkennen. Der Mensch ist eben nicht nur Rollenträger, sondern auch Subjekt und hat auch im Arbeitsprozess vielfältige Bedürfnisse nach Anerkennung als Persönlichkeit, nach gemeinsamer Erfahrung mit anderen und auch nach so etwas wie Spaß.
Aufgeklärte Unternehmen haben das verstanden und schaffen Spielräume für Individualität, Verantwortungsübernahme und Kreativität. Das geht, so die Erfahrung, keineswegs auf Kosten der Produktivität, sondern kann die Produktivität sogar erhöhen und fördert die Identifikation mit dem Unternehmen. Es gibt also in der modernen Produktionsweise immer beides, Differenzierung und Integration, auf der Ebene der Gesellschaft, auf der Ebene der Unternehmen und Organisationen und im Arbeitsprozess. Es gibt Phasen, in denen Spezialisierung und Differenzierung im Vordergrund stehen und Phasen, wo die Dinge im Sinne der Funktionsfähigkeit des Systems wieder zusammengeführt werden müssen.
Arbeit ist also beständig im Wandel. Es gibt kein endgültiges Modell „guter Arbeit“. Jede Epoche schafft eigene Problemlösungen und damit (fast) immer auch neue Probleme, die wieder neue Problemlösungen erfordern. In all dem hat jede Epoche auch ihr eigenes Bild von „guter Arbeit“. War es in der Hochzeit von standardisierter Massenproduktion die Idee eines guten Einkommens, das Teilhabe an einem ebenfalls standardisierten Konsum ermöglicht, sind es inzwischen auch oder sogar vorrangig Möglichkeiten der Einbettung von Arbeit in vielfältige Lebenszusammenhänge, die Verbindung von Familie und Beruf, sinnstiftende Arbeit („purpose“) und die Möglichkeit in der Arbeit, Individualität zu entfalten und Spaß zu haben. Keiner kann sagen, ob es irgendwann nicht auch wieder ein anderes Ideal „guter Arbeit“ geben wird. Die Welt der Arbeit ist immer auch eine Arena, in der Interessen aufeinanderstoßen, Kompromisse ausgehandelt werden und Lebensentwürfe miteinander ringen.
Die latente Funktion der Erwerbsarbeit
All das ändert aber nichts daran, dass die Teilhabe an der Arbeit weiterhin und, nach allem, was wir wissen, in immer größeren Maßen zur Voraussetzung der Teilhabe an der Gesellschaft und eines gelingenden Lebens ist. Die vor den Nazis in die USA geflohene, österreichische Soziologin Marie Jahoda hat die Bedeutung der Arbeit, und zwar der Erwerbsarbeit, für soziale Identität und gesellschaftliche Teilhabe in ihrem Lebenswerk aus vielen Perspektiven beleuchtet. In einer Untersuchung der Arbeitslosen von Marienthal Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts ist Jahoda erstmals darauf aufmerksam geworden, wie wichtig Erwerbsarbeit für die Menschen ist. Marienthal ist ein Dorf in Österreich, in dem durch die Schließung einer Fabrik fast alle Erwachsenen arbeitslos geworden waren.
Es stellte sich aber heraus, dass die Menschen ohne Arbeit sehr bald ihre sozialen Kontakte reduzierten, ihren Zeitsinn verloren und mit ihrem Leben nichts mehr anzufangen wussten. Der Verlust von Arbeit war nicht nur Verlust des Einkommens, sondern auch Verlust von Alltagsstruktur und sozialer Persönlichkeit. Dies führte Jahoda zur Entdeckung dessen, was sie im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Robert Merton, die „latenten Funktionen“ von Erwerbsarbeit nannte, also Funktionen, die den Handelnden gar nicht immer bewusst sind, die aber dennoch sehr wirkmächtig sein können. Jahoda schloss daraus, dass die Teilhabe an der Erwerbsarbeit auch mit einer guten materiellen Versorgung im Fall von Erwerbslosigkeit nicht zu ersetzen ist. Eine möglichst breite Teilhabe der Menschen in der Gesellschaft an der Erwerbsarbeit müsse deshalb ein zentrales politisches Ziel bleiben, nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus ethischen Gründen.
Jahoda begab sich damit übrigens in eine Kontroverse mit der etwa zur gleichen Zeit in den USA lehrenden Philosophin Hannah Arendt, die das Reich des politischen und des freien Handelns ganz getreu den Idealen der griechischen Philosophie nur jenseits der Sphäre der Arbeit erkennen konnte. Das antike Ideal der „Praxis“ war freies Handeln jenseits der praktischen Notwendigkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts, die als „Poiesis“, als technische Bearbeitung von Gegenständen, nur einen inferioren Status zugewiesen bekam. Noch in der Unterscheidung von (entfremdeter) „Arbeit“ und (sinnstiftender) „Interaktion“, die Jürgen Habermas Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Anschluss an Arendt eingeführt hat, schwingt dieser ursprünglich in einer Sklavenhaltergesellschaft entstandene Hochmut des Geistes gegenüber der Sphäre der Arbeit mit. Marie Jahoda widersprach diesen Thesen. Für sie ist Arbeit das, was den Menschen in der modernen Gesellschaft ein menschenwürdiges und sinnvolles Leben ermöglicht. Eine Gesellschaft, die alle Arbeit wegrationalisiert und von einem kleinen Rest technischer Spezialisten funktionsfähig gehalten würde, war für sie nicht mehr als eine Dystopie, auch wenn diese Gesellschaft es schaffen sollte, alle Menschen mit materiellen Gütern gut zu versorgen.
Marie Jahoda war im Übrigen zeitlebens der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften eng verbunden. Erwerbsarbeit, so ihr Credo, soll so weit wie jeweils möglich „gute Arbeit“ sein, also reguliert, gut bezahlt, sozial abgesichert und mit individuellen Gestaltungsspielräumen versehen. Aber eine „Befreiung von der Arbeit“ mit einer Alimentierung der Menschen von Staats wegen ohne das befriedigende und identitätsstiftende Bewusstsein eigener Leistung und eigener Kraft war für sie stets ein Irrweg, der nicht in die Freiheit, sondern in Knechtschaft und Entfremdung führt.
In der Soziologie gab es in Wellen immer wieder mal den Abgesang auf die Arbeitsgesellschaft. Der Deutsche Soziologentag 1982 etwa stand unter der Frage „Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus?“ Damals hatte man in den USA gerade den „Wertewandel“ und das Aufkommen „postmaterieller“ Werte entdeckt. Befriedigung und Sinnstiftung, so die Erkenntnis der Studien etwa von Ronald Inglehardt, würden den Menschen allmählich wichtiger werden als materieller Wohlstand und ein hoher Lebensstandard. Viele schlossen daraus, dass auch die Arbeitsgesellschaft ihre normative Leitfunktion verliert.
Wir wissen inzwischen, dass es anders gekommen ist. Die Teilhabe an der Erwerbsarbeit ist den Menschen eher wichtiger geworden. Frauen haben sich große Teile des Arbeitsmarktes erobert. Gerade aktuell geht es darum, ob nicht auch Ältere jenseits des Rentenalters weiterarbeiten können, in Teilzeit, nach Wunsch und Vermögen, mit dem Privileg, freier über den Umfang der Arbeit zu entscheiden als mitten im Erwerbsleben, aber weiter aktiv und nützlich.
Arbeit anno 2023: Noch wird Büroarbeit in riesigen Komplexen konzentriert… Foto: pixabay
Alle sind froh, dass die Arbeitslosigkeit, die Deutschland und die meisten Länder Europas Jahrzehnte lang extrem belastet hat, sich mit einer Arbeitslosenquote von etwas mehr als fünf Prozent auf ein Maß zurückgebildet hat, das man nach dem Konzept des englischen Ökonomen Beveridge als Vollbeschäftigung ansehen kann. Wenn es zurzeit ernsthafte Probleme gibt, hängen die mehr mit dem Fehlen von Arbeitskräften zusammen als mit dem Fehlen von Jobs. Alles, was man aus den Zahlenreihen der Demographie ablesen kann, zeigt, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Sogar in China blickt man sorgenvoll auf die absehbaren Engpässe beim Angebot von Arbeitskräften.
Kein Ende der Arbeitsgesellschaft
Das heißt nicht, dass der Arbeitsmarkt von allein alles regelt. Noch gibt es viele, zu viele, Menschen, die keine Arbeit finden und auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind. Das liegt jedoch immer stärker nicht an fehlenden Jobangeboten, sondern an dem, was Ökonomen „Mismatch“ nennen, einem Auseinanderklaffen der Anforderungen offener Stellen einerseits und den Qualifikationsprofilen und Fähigkeiten der Arbeitsuchenden andererseits. Viele Frauen sind noch immer durch kulturelle Scheuklappen, aber oft ganz praktisch durch fehlende Möglichkeiten der Kinderbetreuung gehindert, einen Job aufzunehmen. Schließlich gibt es viele Menschen, die mit persönlichen und sozialen Problemen so belastet sind, dass sie mit einer geregelten Vollzeitarbeit überfordert wären.
Daran muss weitergearbeitet werden. Mit dem viel gescholtenen „Hartz 4“-System hat Deutschland ein weltweit beachtetes Unterstützungssystem etabliert, dass den Menschen, die von einem Ausschluss aus der Arbeit bedroht sind, wirksam helfen kann, mit finanzieller Unterstützung, mit Qualifizierung, mit persönlicher Beratung und, wenn nötig, auch mit sozialen und psychologischen Hilfen. Seit Anfang dieses Jahres hat man diesem System einen vornehmeren Namen verpasst. „Bürgergeld“ heißt es nun. Aber, egal, was auf dem Etikett steht, es kommt darauf an, die Chancen der verbesserten Situation am Arbeitsmarkt zu nutzen und allen, auch denen, die mit Schwierigkeiten kämpfen, Teilhabe an der Arbeit zu ermöglichen.
Die Europäische Union hat vor einigen Jahren mit der Strategie der „aktiven Teilhabe“ (active inclusion) ein Leitbild für die Sozialpolitik formuliert, das genau darauf abzielt – durch eine kluge Gestaltung sozialer Sicherungssysteme die Orientierung auf Erwerbsarbeit sichern und zugleich vielfältige Hilfe für all die zu organisieren, die aus irgendeinem Grunde nicht sofort in den Job starten können. Passend dazu ist das europäische Leitbild des „inklusiven Arbeitsmarktes“, der allen etwas abverlangt,
- den Arbeitgebern clevere Konzepte und Investitionen, damit auch Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen mit zeitweise etwas reduzierter Leistungsfähigkeit und Menschen mit familiären Verpflichtungen Arbeit aufnehmen können,
- der öffentlichen Arbeitsmarktpolitik clevere Konzepte und Investitionen, damit nicht nur die fitten Topscorer, sondern auch diejenigen mit Vermittlungshemmnissen einen dauerhaften Job finden können,
- den lokalen und regionalen Behörden wirksame Unterstützung für „Soziale Unternehmen“ mit Gemeinwohlzielen und einen „sozialen Arbeitsmarkt“, der auch Menschen mit großem Abstand zum Arbeitsmarkt eine Möglichkeit zur Erwerbsarbeit gibt.
Damit ist der Rahmen der Strategie für eine humane und inklusive Arbeitsgesellschaft gesteckt. Jeder kann erkennen, dass dafür noch sehr viel zu tun ist. Für die Sicherung des Wohlstands der Gesellschaft wird es immer wichtiger, die inneren Talentreserven zu heben, also Menschen für interessante und gut bezahlte Jobs zu qualifizieren, aber auch für die, die jetzt noch draußen stehen, Bildung für die anspruchsvollen Jobs der Zukunft zu organisieren.
Es wird angesichts der demographischen Lage darum gehen müssen, produktive Zuwanderung zu organisieren. Alle rufen nach Fachkräften, aber die Menschen, die nach Deutschland kommen, haben oft die erforderlichen Qualifikationen noch nicht. Auch hier braucht es clevere Konzepte und beherzte Investitionen, um aus Zuwanderung ein „Win-Win-Spiel“ zu machen. Die bisherige Zuwanderungspolitik ist dafür nur begrenzt geeignet, in Teilen sogar ausgesprochen kontraproduktiv.
Bei der Zuwanderung sollte auch bedacht werden, dass man bei aller Begeisterung für Diversität und Willkommenskultur nicht unter einem humanitären Deckmäntelchen einen extraktiven Kolonialismus neuen Typs befeuert. Wenn qualifizierte Menschen, das „Humankapital“, wie es viele sagen, die wichtigste Ressource der Zukunft ist, ist es fragwürdig, wenn entwickelte Länder wie Deutschland gezielt genau diese Ressourcen in den Herkunftsländern abschöpfen. Man hört, dass die größte Gruppe zuwandernder medizinischer Fachkräfte aus Kolumbien stammt. Gibt es dort keinen Bedarf an guten Ärzten und Krankenpflegern? Auch hier sollte man genau hinsehen. Die Hebung unserer inneren Arbeitskraftreserven, die ja auch in den immer noch vielen schon hier lebenden und noch arbeitslosen Menschen mit Migrationshintergrund schlummern, sollte Vorrang vor aggressiven Anwerbestrategien haben.
Die Ungleichheit bleibt
Bleibt die Frage nach der Ungleichheit. Auch hier gibt es keine einfache Antwort. Freie Gesellschaften produzieren Ungleichheiten. Wer hätte noch nicht mit einer gewissen Empörung gelesen, wie groß die Einkommensunterschiede zwischen Top-Managern und normalen Arbeitskräften sind. Mit unterschiedlichem Talent lassen sich Gehälter in den Vorstandsetagen in hundertfacher Höhe gegenüber dem Durchschnittsgehalt eines Unternehmens nicht rechtfertigen, wohl auch kaum mit dem Arbeitseinsatz und dem unterschiedlichen Arbeitsleid. Man wird den Eindruck nicht los, dass diese teilweise ins Groteske gesteigerte „Meritokratie“ gelegentlich auch Züge einer „Kleptokratie“ aufweist, in der sich sozial relativ geschlossene Zirkel des Top-Managements einen unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Ressourcen sichern.
Dazu kommt, dass Karrieren oft schon im Elternhaus geprägt werden. Der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann hat in vielen Studien herausgefunden, dass die Kinder von Managern und Top-Kräften in Staat, Politik und Wissenschaft eine viel größere Chance haben, später auch selbst eine Top-Position einzunehmen als Kinder aus Mittelschichtfamilien oder Arbeiterfamilien. Die Kinder wachsen in die Netzwerke ihrer Eltern hinein, lernen von Kind auf wie man sich in Führungskreisen benimmt und erben neben Geld und Haus immer auch viel vom kulturellen und sozialen Kapital ihrer Eltern. Das produziert die „feinen Unterschiede“ mit großen Wirkungen für das Lebensschicksal, von denen der französische Soziologe Pierre Bourdieu sprach. Es geht also nicht unbedingt fair zu in der Arbeitswelt.
Auch in den „unteren Etagen“ sind es nicht immer nur Leistung und Talent, die über das Erreichen bestimmter Positionen und Gehälter entscheiden. Auch hier macht die Herkunft oft einen Unterschied. Menschen mit Migrationshintergrund haben schlechtere Karten in Auswahlprozessen. Wer private Netzwerke und familiäre Bande mobilisieren kann, hat zuweilen auch die besseren Chancen im Wettbewerb um gute und sichere Jobs. Der Leistungsbegriff als Gerechtigkeitsmaßstab selbst zerrinnt einem unter den Fingern, wenn man ihn näher zu fassen versucht.
Die Realität der Arbeit und ihre Entlohnung ist ungleich. Zudem reproduziert Arbeit Ungleichheit immer wieder. Es ist das „Matthäus-Prinzip“ – wer hat, dem wird gegeben, wer wenig hat, bekommt auch das schneller genommen.
Ungleichheit hat aber auch eine produktive Funktion. Der Leistungsbegriff ist nicht nur Ideologie. Die meisten Menschen empfinden es nicht als unfair, wenn diejenigen, die viel arbeiten, die viel Zeit mit der Ausbildung verbracht haben, die besonders gefährliche und unangenehme Arbeiten verrichten, mehr bekommen als andere. Es muss sich lohnen, sich ein wenig mehr anzustrengen als nur im Normalmaß. Das ist allgemein, auch bei Gewerkschaften anerkannt, die in Tarifverträgen immer wieder zum Teil recht große Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen mit den Arbeitgebern vereinbaren.
Ungleichheit setzt Anreize zu Leistung und Kreativität und ist von daher notwendig. Sie ist aber immer auch ein Belastungsfaktor, erzeugt Unzufriedenheit und Unfrieden. Eine „gute“ Arbeitsgesellschaft wird also auch immer Mechanismen des Ausgleichs zwischen Einkommensgruppen finden müssen und Regeln, die eine zu weite Aufspreizung der Verdienstskala verhindert. Im Bereich der tarifgebundenen Arbeit funktioniert das in aller Regel. Das Problem entsteht an den Rändern, nach oben in den Gehaltsexzessen der frei verhandelten außer- und übertariflich bezahlten Beschäftigten, nach unten in den Grauzonen nicht tarifgebundener Billigjobs und den Segmenten „prekärer“ Arbeitsverhältnisse.
Ebenso wichtig oder sogar fast noch wichtiger als eine wirksame Regulierung von Gehältern ist es, für gleichere Ausgangschancen am Beginn des Berufslebens, also in der Bildung und Ausbildung zu sorgen. Als Argument ist das eigentlich ein alter Hut. Es gibt kaum jemanden, der offen dagegen wäre. Wenn es aber darum geht, aus dieser Forderung praktische Konsequenzen zu ziehen, also zum Beispiel das nur in Deutschland so stark gegliederte Schulsystem auf das Prinzip Gesamtschule umzustellen, Schulen in benachteiligten Quartieren substanziell besser auszustatten als in Quartieren gut verdienender Eltern, wenn es darum geht, Insidergeschäfte auf dem Arbeitsmarkt einzudämmen, erlischt der Ehrgeiz zur Schaffung von mehr Chancengleichheit schnell, vor allem dann, wenn der Startvorteil der eigenen Kinder in Frage gestellt wird. Da werden auch ansonsten sehr fortschrittlich und ökologisch denkende Mittelschichtangehörige zu verbissenen Verteidigern von Privilegien.
Es gibt sicher keine Formel, nach der sich bestimmen ließe, wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft braucht, wie viel sie noch ertragen kann und wo Ungleichheit umschlägt in Selbstdestruktion. Das wird immer Gegenstand von Kämpfen und Aushandlungen sein und ist auch abhängig von Traditionen und Kultur. Relativ gut gesichert ist aber das Wissen, dass Menschen in Gesellschaften mit weniger Ungleichheit durchschnittlich zufriedener oder sogar glücklicher sind als in Gesellschaften mit großen Ungleichheiten; sie sind zudem, wie einschlägige Untersuchungen zeigen, produktiver und konfliktärmer, verbrauchen also weniger soziale Energie und gesellschaftliche Ressourcen für die Konflikteindämmung.
Fazit
Arbeit ist eine Last und eine Freude. Sie wird der Gesellschaft nicht ausgehen, weder durch Digitalisierung, noch durch einen Wertewandel weg von der protestantischen Pflichtethik hin zur Kultur des Chillens oder der Sehnsucht nach persönlicher Entfaltung jenseits der Zwänge einer funktionalistischen und kapitalistischen Ökonomie. Arbeit wandelt sich jedoch ständig. Die Spannung zwischen dem, was man als Realität der Arbeit erlebt und dem, was man sich als „gute Arbeit“ wünscht, wird sich im Prozess dieses Wandels immer wieder erneuern. Hier liegt eine Gestaltungsaufgabe, die nie abgeschlossen sein wird. Entgegen allen Unkenrufen ist der Kapitalismus in einer freiheitlichen Gesellschaft dafür die beste Grundlage – solange er wirksam sozial eingehegt und von demokratisch legitimierten Institutionen in produktiven Bahnen gehalten wird. Vielleicht findet sich irgendwann eine bessere Grundlage, vielleicht gibt es irgendwann eine funktionierende Form des Sozialismus. Noch kennen wir die aber nicht.
Tja, dazu kann man nur noch ergänzend Churchill zitieren:
Dem Kapitalismus wohnt ein großes Laster inne, die ungleichmäßige Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine große Tugend inne, die gleichmäßige Verteilung des Elends.