Es scheint ein Ruck durch Deutschland zu gehen. So jedenfalls kann man das gewaltige Ausmaß der Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus werten.
Was bedeutet diese scheinbar neue Aufbruchstimmung für die künftige Politik in Berlin? Nach einer aktuellen Studie des Rheingoldinstituts hoffen die meisten Demonstrierenden und ihre Sympathisanten, dass diese Bewegung sich zu einer Art konstanten „Bürgerwelle“ entwickelt, die sich nicht nur gegen rechtsradikale Umtriebe richtet, sondern gegen alles aufsteht, was in der Politik schiefläuft. Fragt sich nur, ob dieser Weckruf auch die Entscheidungsträger erreicht und was all dies für den demokratischen Zusammenhalt bedeuten könnte.
Das nennt man dann mal einen „Doppelwumms“. Der Schlagabtausch zwischen dem Oppositionsführer Friedrich Merz und Bundeskanzler Olaf Scholz während der Debatte zum Haushalt 2024 war bemerkenswert. Da ging es richtig zur Sache. Beide lieferten sich ein hochemotionales Rededuell, redeten sich in Rage und sparten auch nicht mit gegenseitigen zum Teil sehr persönlichen Angriffen. Merz warf Scholz erneut vor, dass er es „nicht könne“ und machte gleichzeitig das Versagen der Regierung mit dafür verantwortlich, dass die AfD so stark geworden sei. Scholz entgegnete ungewohnt kämpferisch, stellte die Erfolge der Regierung dar und bezeichnete so ganz nebenbei Merz als „Mimose“ der ein „Glaskinn“ habe.
CDU in der Fundamentalopposition
Im Ergebnis dieser Debatte wurde eines deutlich: Das Tischtuch zwischen diesen beiden Protagonisten ist zerschnitten. Dies machte Merz unmissverständlich deutlich: „Bitte ersparen Sie sich und uns Ihre Aufrufe zur Zusammenarbeit!“ Der CDU-Vorsitzende hat damit die Richtung seiner künftigen Strategie vorgegeben: Fundamentalopposition um jeden Preis. Da wirkte es schon fast ein wenig bizarr, als die Vorsitzende der Grünenfraktion Britta Hasselmann im Verlauf dieser Debatte Merz trotzdem bat, „sich den Aufruf zur Zusammenarbeit nicht zu ersparen“, da der Schulterschluss in dieser Zeit dringend notwendig sei.
Und während sich in Berlin Regierung und Opposition heftig streiten, erlebt das Land eine nie dagewesene Vielzahl von Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus mit zum Teil mehreren zehntausend Teilnehmern. die für Demokratie und gegen Rechtsextremismus protestieren. Ausgelöst wurden diese Proteste durch Enthüllungen des Recherchezentrums Correctiv über ein Treffen in Potsdam, bei dem Rechtsextreme, aber auch AfD-Funktionäre und Mitglieder der Werteunion über massenhafte Abschiebungen – auch von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit – sprachen und ihren „völkischen Remigrations-Fantasien“ freien Lauf ließen.
In diesen Zusammenhang ist die Studie des Kölner Rheingoldinstituts zu den psychologischen Wirkungen der Demonstrationen gegen Rechtsextremismus bemerkenswert. Diese kommt u.a. zu dem Schluss, dass „mit der Teilnahme an den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus das befreiende Gefühl wiedererlangter Handlungsmacht und Zusammengehörigkeit verbunden ist“. Die Studie stellt weiterhin fest, dass das Grundgefühl vieler Wähler geprägt ist durch große Ohnmachtsgefühle angesichts multipler großer und kleiner Krisen sowie einer wachsenden Sehnsucht nach spürbarer Bewegung. Und es scheint so, dass diese Demonstrationen auch belegen, dass viele Menschen in unserem Land spüren, dass der alleinige Rückzug in das Privatleben oder, wie es die Studie formuliert, in das „soziale Bollwerk“ keine Lösung sein kann. Deshalb würden die Demonstrationen eine „brachliegende Bewegungs-Energie“ kanalisieren und den Teilnehmenden „das Gefühl von Handlungsfähigkeit, sozialem Zusammenhalt und politischer Heimat“ vermitteln.
Die Demonstrationen richten sich aber nicht nur gegen Rechtsradikalismus. In der quantitativen Befragung stimmen 67 Prozent der Aussage zu, dass die Demonstrationen auch ein „Weckruf für die Politik“ seien. Denn – so die Studie weiter – fast alle Wählerinnen und Wähler – auch die meisten Demonstranten – kritisieren die Ampelkoalition, fühlen sich orientierungslos und vermissen eine klare Richtung der Bundesregierung. Der ständige Zank in der Koalition nerve, verunsichere und untergrabe das Vertrauen. Wohl deshalb stimmen auch 70 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Ampel durch ihre Uneinigkeit die AfD stärkt.
Deshalb war es ein positives Zeichen, dass viele Redner von CDU, SPD, Grünen und FDP sich in der Haushaltsdebatte auf die zuvor stattgefundene Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus bezogen, die an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte erinnerten und in diesem Zusammenhang scharf die AfD angriffen. Zumindest in der einhelligen Ablehnung der Blauen waren sich CDU und die Ampelkoalitionäre einig.
Die Probleme türmen sich
Aber ansonsten: Nüchtern betrachtet kann man festhalten, dass in dieser Haushaltsdebatte die Unterschiede zwischen Regierung und Opposition mehr als deutlich wurden. Endlich, mögen manche gedacht haben, nachdem es insbesondere während der letzten Legislaturperioden mit Großen Koalitionen keine wirklich harte Oppositionspolitik gab. So konnten sich die damaligen Regierungen stillschweigend auf eine „Schlafwagenpolitik“ einigen mit der Folge, einen Berg ungelöster Probleme zu hinterlassen zu denen sich nun noch die Folgen des Kriegs in der Ukraine gesellen.
Auf den Punkt gebracht: Die Probleme türmen sich.
Die aktuelle Reaktion der Politik könnte man mit „Business as usual“ beschreiben. Friedrich Merz hat den Start für eine Fundamentalopposition gegen die Regierung gegeben. Ob seine Fraktion diese Strategie bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten kann, bleibt – auch mit Blick auf ambitionierte Landesfürsten der CDU – dahingestellt. Und die Regierung? Sie ist sich weiter nicht einig. Schon während der Haushaltsdebatte wurde diesmal wieder beim Thema „Reform der Schuldenbremse“ deutlich. SPD-Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich plädierte dafür und forderte Merz dazu auf, über sein diesbezügliches Nein noch einmal nachzudenken, weil eine solche Reform „dem Land guttun“ würde. Die FDP-Fraktion sprach sich in Person ihres Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai sogleich dagegen aus. Und einen Tag später setzte Bundeswirtschaftsminister noch „einen drauf“, indem er analog zu dem Sondervermögen für die Bundeswehr für „Sonderschulden“ warb, um der Wirtschaft mit Subventionen und Steuererleichterungen zu helfen. Aber dafür bräuchte er wieder eine Zweidrittelmehrheit. Ohne die Stimmen der CDU geht da gar nix. Die erteilte Habeck sogleich eine Absage und auch Bundesfinanzminister Christian Lindner sprach von einem „nicht abgesprochenen Vorschlag“ und lehnte ihn ab. Allerdings zeigte er sich offen für einen Austausch.
In der Analyse selbst, dass die Unternehmen in Deutschland dringend entlastet werden müssen, scheinen sich die Ampelparteien und CDU einig zu sein. Das „Wie“ bleibt allerdings noch offen. Aber die Hilfe ist nötig, denn die deutsche Wirtschaft lahmt. Die Industriestaatenorganisation OECD hat die Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft erneut auf 0,3 Prozent nach unten korrigiert. Zwar hat die Regierung mit dem geplanten „Wachstumschancengesetz“ Maßnahmen bis 2028 im Umfang von jährlich sieben Milliarden beschlossen, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Allerdings hat der Bundesrat das Paket gestoppt, weil dies vor allem bei den Ländern und Kommunen Löcher in die Haushalte reißt. Der Vermittlungsausschuss soll es jetzt richten. Habeck selbst geht davon aus, dass das Paket anschließend einen deutlich geringeren Umfang haben wird.
Der Hiobsbotschaften ist es noch nicht genug. Für die Haushaltsberatungen 2025 wird nach aktuellem Stand bereits ein Fehlbestand von 25 Milliarden Euro prognostiziert. Auch im Klima- und Transformationsfonds, mit der die Regierung die Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität fördern wollte, klafft ein Loch von 15 Milliarden Euro. Und da ist dann noch die Bundeswehr. Zwar wurde unmittelbar nach Ausbruch des Angriffs von Russland auf die Ukraine ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen beschlossen. Allerdings gehen alle einmütig davon aus, dass dieses zusätzliche Geld aus dem Sondervermögen bis Ende 2027 nahezu vollständig verausgabt sein wird. Nach aktuellem Stand müsste die Anschlussfinanzierung durch den regulären Verteidigungsetat erfolgen, womit der Bundeswehr ab 2028 jährlich mindestens 20 Milliarden Euro fehlen würden.
Deshalb fordert Verteidigungsminister Pistorius einen Finanzierungsplan noch in diesem Jahr. Dies könnte ein erneutes schuldenfinanziertes Sondervermögen für die Bundeswehr bedeuten. Und auch diesbezüglich bräuchte die Regierung die Hilfe der CDU/CSU-Fraktion. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat auf die Dringlichkeit in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ verwiesen. Aktuell sei die Bundeswehr nicht „kriegstauglich“. Er fürchtet, dass Russland eines Tages sogar ein NATO-Land angreifen und damit den „Verteidigungsfall“ auslösen könnte. Experten rechnen damit, dass dies in einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren möglich sein könnte.
Eine Überlegung am Rande: Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob es klug ist, dass Deutschland gut daran täte, sich nicht in eine Kriegsgefahr hineinzusteigern, wie Gabor Steingart in „Focus online“ zu bedenken gibt. Aber auch er weist darauf hin, dass Europa, und damit auch Deutschland, mehr für sein Verteidigung tun muss. Beantwortet werden muss auch die Frage nach der künftigen und möglicherweise notwendigen noch umfangreicheren Unterstützung für die Ukraine. Dies dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn Donald Trump die Präsidentschaftswahlen gewinnen sollte, und die USA die bisherigen erheblichen Unterstützungsleistungen wie von ihm angekündigt kürzt oder ganz einstellt.
Gemeinsames Handeln notwendig
Die exemplarisch beschriebene gegenwärtige politische Situation in Deutschland, einhergehend mit den Massenprotestesten, die sich primär noch gegen „Rechtsradikalismus“ wenden, sollten die Ampelparteien und die CDU endlich wachrütteln. Es muss deutlich werden, dass ohne eine punktuelle Zusammenarbeit der demokratischen Parteien, das Land nicht aus der Krise herausgeführt, nicht nach vorne gebracht werden kann. Vielleicht können die vielfältigen Demonstrationen ihren Beitrag dazu leisten, dass die Ängste der Menschen und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht endlich ernstgenommen und Krisen nicht kleingeredet werden.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik jetzt Orientierung, produktive Lösungen für die anstehenden Probleme und nicht erst in ein oder zwei Jahren, nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr und eventuell langwierigen Koalitionsverhandlungen. Ein gemeinsames Handeln der demokratischen Parteien in Berlin ist zwingend notwendig, um zum Beispiel Lösungen für eine „Wirtschaftswende“ aufzuzeigen, die die Finanzierung der Bundeswehr langfristig sichert oder damit beginnt, die Transformations- und Infrastrukturdefizite zu beheben. Die außerdem die Sorge für eine geordnete Zuwanderungspolitik trägt, ohne die der Fachkräftemangel nicht behoben werden kann.
Dies alles würde den demokratischen Zusammenhalt und vor allem das Vertrauen in die Politik stärken und damit den Menschen das Gefühl geben, dass die demokratischen Parteien ihre Verantwortung gemeinsam übernehmen, indem sie auch beispielsweise auf parteipolitisch motivierte Machtspielchen verzichten. Deshalb sollte die Politik auf den Weckruf, der von den Demonstrationen ausgeht, hören. Natürlich ist es leicht zu sagen „Macht mal!“, wie Robert Habeck in der Sendung „Caren Miosga“ anmerkte. Trotzdem sollten sie in Berlin mit dem „gemeinsamen Machen“ wenigstens beginnen.