Politik als Therapeutikum

– Unions-Kanzlerkandidat Merz will sich mit dem zentralen Narrativ der AfD den Job sichern –

Der schreckliche Angriff auf eine Kindergartengruppe in Aschaffenburg erschüttert das Land. Ein zweijähriges Kind und ein zur Hilfe eilender Mann wurden von einem ausreisepflichtigen und psychisch kranken Afghanen getötet. Die Bluttat verändert den Wahlkampf in Deutschland. Die jetzt schon lange Jahre geschürte Stimmung der Straße gegen Migranten und Flüchtlinge aufnehmen zu können, ist zu verlockend. Was schert es die Union, dass die von ihr jetzt beantragte Verschärfung der Migrationspolitik den Anschlag verhindert hätte. Ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der Migrations- und Flüchtlingsfragen aus diesem Wettstreit um Wählerstimmen heraushalten wollte, setzt nun mithilfe der AfD den Paukenschlag, fordert unter anderem nicht nur einen faktischen Einreisestopp für Menschen ohne gültige Papiere, sondern auch alle ausreisepflichtigen Personen in Gewahrsam zu nehmen. 

Ersteres ist zwar nicht so ganz mit Asyl- und Europarecht vereinbar, entspricht aber der Sehnsucht eines nicht unbeträchtlichen Teils dieser Gesellschaft, der gerade nach den Messerangriffen und Amokfahrten von Tätern mit ausländischer Herkunft die harte Abgrenzung zu allem Fremden verlangt. Am liebsten nach einem Motto ohne Durchkommen: „No Trespassing“. Weil die AfD konsequent auf dieser Klaviatur spielt und sogar den kompletten Einreisestopp verlangt, ist sie so erfolgreich. 

Und Erfolg macht neidisch. So ist Merz, der unzählige Demütigungen in seiner politischen Karriere endlich mit dem Comeback an die Unionsspitze und der Kanzlerschaft heilen will, aus lauter Verzweiflung über stagnierende Umfragewerte und wegen des ihm eigenen Kontrollverlusts bei der Aussicht auf taktische Geländegewinne in die von AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel aufgestellte Falle getappt. Zunächst ist es unerheblich, ob da im weiteren Verfahren die vielzitierte Brandmauer zur AfD fällt. Einige Steine sind mit der Absage an politische Kompromisse mit SPD oder Grünen ohnehin schon aus diesem Blendwerk herausgebrochen. Letztlich wird der Umgang mit der AfD vom Wahlergebnis abhängen. Im Fall des Falles könnte sich die Union eher von den Blauen tolerieren lassen, statt das Wagnis einzugehen, sich jedes Mal neue Mehrheiten suchen zu müssen. „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen“, hat Merz gesagt. So lassen sich in Zukunft immer wieder Mehrheiten mithilfe der AfD rechtfertigen…

Den Weg dahin bereitet der CDU-Chef persönlich vor, indem er mögliche Koalitionen schon vor dem Urnengang sprengt und wenn er, um Tatkraft zu beweisen, sagt, dass ihn rechtsstaatliche Vorgaben nicht interessieren, denn jetzt müsse gehandelt werden. Da verfängt sich der von einer wertkonservativen Partei erwählte Kandidat für den Spitzenjob in einem Rechtsstaat in den Fängen von Rechten und Trumpisten, die mit ihren geforderten oder bereits vollzogenen Grenzüberschreitungen offensichtlich Massen mobilisieren. Das verführt zum Nachahmen, selbst wenn man wegen des Einbiegens auf diesen Weg mit dem Triumphgeheul der AfD rechnen muss.  

Der Kandidat der Union hat sich wie ein politischer Grünschnabel für den Posten als Kanzler und den Aufstieg in die Liga mit Trump, Putin & Co. disqualifiziert, weil er ein Heißsporn ist und bleibt, den Kompromiss nicht kennen will, scharfmacht statt moderiert, sich auf die Stimmung der Straße beruft, statt sich mit demokratischen Partnern sachlich und vernünftig mit Fakten und Lösungen im Rahmen der Verfassung und internationaler Verträge zu beschäftigen. 

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Einhaltung von schriftlich fixierten Vereinbarungen gerade in der Frage der Sicherung von Außengrenzen in der EU nicht von allen Mitgliedern ernst genommen wird. Statt dieser unsäglichen Willkür zu begegnen, trägt der designierte Kanzler das für den Wohlstand in Europa ursächliche Schengen-Abkommen zu Grabe. Interessant dabei ist: Merz hat Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeworfen, nicht in der Lage zu sein, Europa zusammenzuhalten; jetzt präsentiert er sich sogar als Spaltpilz. Wenn er sich durchsetzt und die Nachbarn ebenfalls die Zugbrücken hochziehen, ist Europa tot. Und das in einer Zeit, in der sich dieser Kontinent beinharten Angriffen aus USA, Russland und Asien zu erwehren hat. Mit dem Rückfall in die Kleinstaaterei sind die Länder der EU den Großmächten hilflos ausgeliefert. Manchmal kann es hilfreich sein, die Konsequenzen einer politischen. Forderung auch vom Ende her zu denken. Von einem Kanzlerkandidaten sollte man das erwarten können. 

Merz, der Macher

Merz´ Vorhaben zur Sicherung der Abschiebung gehören in die Kategorie Nebelkerzen. Die juristischen Vorgaben im Umgang mit ausreisepflichtigen Personen sind erst im Jahr 2024 verabschiedeten Rückführungsverbesserungsgesetz angepasst worden. Die Abschiebehaft bei Fluchtgefahr und der etwas niedrigschwelligere Ausreisegewahrsam lassen den Behörden ausreichend Spielraum, eine geordnete Ausreise zu veranlassen. Der Alltag zeigt, dass Abschiebungen vor allem an fehlenden Papieren und unklaren Zuständen in den Zielländern scheitern. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Kanzler Olaf Scholz und der Ampel der politische Wille fehlte, Abschiebehürden zu beseitigen und Illegale wie versprochen „massiv“ auszuweisen. Scholz stufte die beschlossene Verschärfung des Asylrechts sogar als „sehr historisch“ ein. Den so geadelten Beschluss zierten aufgrund fehlenden Wagemuts Freiraum schaffende Prüfaufträge für Maßnahmen, die mit Blick auf juristische Zwänge, Durchsetzbarkeit und Wirkung kaum noch Fragen offenlassen. Die Ampel verabreichte mit großem Tamtam Placebos, weshalb ihr auch die Partnerschaft der CDU beim angestrebten Deutschlandpakt versagt blieb. 

Merz hat nun das Heft in die Hand genommen und bei seinem Rundumschlag schon mal vergessen, gesetzestreu zu bleiben. Wenn er allen ausreisepflichtigen Personen mit Gewahrsam droht, verstößt er nämlich gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Denn das setzt freiheitsentziehenden Maßnahmen strenge Regeln. Die dürfen nämlich nicht zur generellen Abschreckung gegen alle Ausreisepflichtigen, nicht präventiv und nicht unbegrenzt angeordnet werden. Ausnahmen gibt es nicht. 

Was hat das alles mit der Bluttat in Aschaffenburg zu tun, die ja weniger wegen zu lascher Gesetze, sondern wieder einmal wegen Behördenversagens möglich wurde? Der Tatverdächtige, ein psychisch kranke Afghane, hätte eben wegen seiner Krankheit trotz amtlich verfügter Rückführung nicht vorsorglich in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Die richtige Vorgehensweise wäre eine präventive Unterbringung auch gegen den Willen des Patienten gewesen, ebenso wie sie jetzt vom Amtsgericht veranlasst wurde. Das Ziel: Stabilisierung und Heilung sowie zugleich Gefahrenabwehr. Das ist freilich auch keine Dauerlösung. Die gibt es letztlich in einem psychiatrischen Krankenhaus. 

Die Bluttat von Aschaffenburg hat bisher im Bundestag lediglich zum Beschluss von Appellen an die künftige Regierung geführt. Am Freitag aber geht es in der letzten Sitzung des Bundestages um ein Gesetz, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz der CDU/CSU-Fraktion. Die Union dringt darin auf eine „Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland“. Danach solle das „Ziel der Begrenzung der Zuwanderungssteuerung wieder als ausdrückliche übergeordnete Vorgabe für die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes festgelegt“ festgelegt werden. Auch will die Unionsfraktion den Familiennachzug zu Personen mit subsidiärem Schutz bis auf Weiteres beenden. Ferner soll die Bundespolizei eine eigene Zuständigkeit für die Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen erhalten.

Damit bricht Merz sein vor wenigen Wochen gegebenes Wort, wonach keine Beschlussfassung im Bundestag angestrebt wird, die auf die AfD-Stimmen beziehungsweise Zufallsmehrheiten angewiesen ist. Mit seinem Kurswechsel hat der Unions-Kanzlerkandidat die AfD letztlich ins Zentrum des Wahlkampfs gerückt und damit einer leblosen SPD wieder Hoffnung gemacht. Erste Umfrageergebnisse sollten den Unionswahlkämpfer die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. CDU/CSU verlieren und nähern sich ihrem historischen Tief und SPD sowie die beim Migrationsthema führende AfD gewinnen Stimmen dazu. Und das, obwohl eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eine schärfere Flüchtlingspolitik wünscht. Merz und die Seinen scheinen aber Stand heute den Bogen aber überspannt zu haben.

Übrigens : Die Straße hat nicht immer recht, wie ein Blick in die deutsche Geschichte der 30er Jahre zeigt. Franz von Papen, Ex-Kanzler und Steigbügelhalter Hitlers, lässt grüßen. Aber Merz hat ja nicht Geschichte, sondern Jura studiert…

Wer mehr über Friedrich Merz wissen will, dem seien folgende Artikel auf den „Nachdenkseiten“ und im „Spiegel“ empfohlen:

Wer ist Friedrich Merz? https://www.nachdenkseiten.de/?p=127365

Friedrich Merz, der Scheinriese https://www.spiegel.de/wirtschaft/friedrich-merz-und-seine-wirtschaftskompetenz-der-scheinriese-a-da2a1add-5a60-490d-b798-22c267f64f92

Ein Gedanke zu ”Politik als Therapeutikum

  1. Wer jetzt noch nicht gemerkt hat, dass sich grundsätzlich in der politischen Kultur Deutschlands etwas weiter nach rechts verschiebt?!
    Wir erleben zur Zeit weltweit mit Unterstützung mächtiger Kapitalfraktionen ein Zurückdrängen demokratischer und zivilisatorischer Werte, eine global zu beobachtende Rückabwicklung der Demokratie und ihrer Standards. Der 29.1. 2025 war diesbezüglich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und historisch epochal: Erinnerung an die Befreiung der Menschen in Auschwitz im Deutschen Bundestag, Demonstration der
    Unternehmerverbände vor dem Brandenburger Tor zur Änderung der
    Sozialgesetze und die demonstrativ neuen Mehrheiten von CDU/CSU, FDP und AfD wiederum im Parlament. Phänomene mit Tiefgang politischer Heuchelei.
    Dies fügt sich ein in eine weltweit zu machende Beobachtung, dass die Lobbyisten der Kapitalfraktionen verstärkt an die Steuern der Bürgerinnen und Bürger wollen, da die Märkte – von Ausnahmen abgesehen – keine hohen Renditen mehr versprechen.
    Neben der Zerstrittenheit des linksliberalen Lagers produziert dies eine fehlende Gegenöffentlichkeit. Das politisch Heimatlose von Vielen ist die Folge, gleichzeitig das Erschreckende und das Bedrohliche, das über den gestrigen Tag hinausgeht. Was ist zu tun? Antworten auf diese Frage finden sich in der zur Zeit im Berliner Historischen Museum präsentierten Ausstellung, die der Frage nachgeht „Was ist Aufklärung?“. Belege für die Begabung zur Vernunft, zur rationalen Abwägung von Entscheidungen und zu dem an der Menschenwürde orientierten moralischen Handeln sind dort zu finden. Eine Ermutigung all derer, die am 23. Februar 2025 zur Wahlurne gehen, um als Bürgerinnen und Bürger den faschistoiden Tendenzen in der Gesellschaft die Stirn bieten.

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