Zwischen Vertrauensvotum und Neuwahl

Im Wahlkampf muss Rücksicht auf die wenigen möglichen Partner genommen werden

Von Gerhard Albrecht und Frank Pröse

Allmählich bekommt die politische Agenda in Deutschland nach dem Koalitionsbruch wieder ein Korsett. Nach all der Aufgeregtheit um den vorgezogenen Neuwahltermin haben sich die Parteien auf den 23. Februar 2025 geeinigt. Noch wichtig: An Papiermangel – wie kurzzeitig von der Bundeswahlleiterin befürchtet – droht der Urnengang nicht zu scheitern. Wäre auch noch schöner, würde sich die drittstärkste Wirtschaftsmacht nach dem Debakel mit den Bundeswehrhelmen als damals erwähnungswerter Hilfe für ukrainische Soldaten ein weiteres Mal vor aller Welt blamieren. Das sei nur nebenbei erwähnt, aber die Frage, ob Deutschland in der Lage ist, aus dem Stand eine Wahl nach Verfassungsvorgaben zu organisieren, beherrschte ernsthaft zwei Tage lang die Schlagzeilen. 

Chaos und Anarchie sind nach dem Koalitionsbruch ausgeblieben Auf der politischen Bühne ist alles beim Alten: Selbstinszenierung steht auf dem Programm. Robert Habeck wirbt für sich als Kanzlerkandidat, als schwebte er über den Seinen und hätte mit dem aktuellen Schlamassel nichts zu tun. Selbst die Grünen sind ob dieser Chuzpe sprachlos. Das trifft auf Christian Lindner natürlich nicht zu. Der Chef der verzwergten FDP erklärt recht großkotzig einer Neuauflage der Ampelkoalition eine Absage, als ob es in der Polit-Blase noch jemanden gäbe, der mit der FDP ohne Not die Regierungsbank teilen würde. Dafür kann Lindner sich vorstellen, einer unionsgeführten Regierung wiederum als Finanzminister anzugehören. Das interessiert aber niemanden mehr. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Strategie „18“ (Prozent) der FDP zur Bundestagswahl 2002 mit der sie ihren Stimmenanteil von seinerzeit sechs entsprechend erhöhen wollte. Am Ende landete sie schließlich bei 7,4 Prozent.

Die oppositionellen Unionsmitglieder wollen unterdessen das Momentum der ihnen in den Schoß gefallenen Chance nutzen. Den von Demoskopen vorhergesagten Wahlsieg vor Augen können es Friedrich Merz und Markus Söder gar nicht abwarten, bis Kanzler Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellt. Von Seiten der Opposition wird scharf geschossen, mit via Umfrage ermittelter Unterstützung aufmunitioniert. Dass die Bevölkerung mehrheitlich möglichst rasch Neuwahlen befürwortet, überrascht jetzt nicht. Wer will denn nicht möglich rasch eine handlungsfähige Regierung und hegt zumindest die Hoffnung, dass die dann auch besser sein wird ihre Vorgängerin?

Allein, so einfach ist die Lage nicht, auch wenn Olaf Scholz inzwischen mehrfach erklärt hat, sich nach den von den Fraktionen ausgehandelten Terminen zu richten. Er schickt den SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit einer Liste von noch zu beschließenden Gesetzesvorhaben in die Verhandlungen mit der Union, was insofern Sinn macht, als da zwei potenzielle Koalitionspartner sich schon mal beschnuppern können. Da geht es um den Ausgleich der kalten Progression, damit dem Bürger mehr Netto vom Brutto bleibt, die Erhöhung des Kindergelds, höhere Preise beim Deutschlandticket und die stärkere Absicherung des Verfassungsgerichts; Gesetzesvorhaben, denen die Union guten Gewissens zustimmen könnte, ohne sich dabei verbiegen zu müssen. Die Rentenreform II dagegen, wird, wie so manch andere Vorhaben, Gegenstand des bevorstehenden Wahlkampfs sein.

Wer wirbt, der muss liefern

Die Lage ist so außergewöhnlich wie spannend. Das liegt in der Natur der Sache, schließlich ist das Scheitern einer Koalition in der Geschichte der Republik die große Ausnahme. Zum anderen laufen sich die Parteien schon für einen Lager-Wahlkampf warm, dessen deklamatorischen Auswüchse den Übergang von der alten zur neuen Regierung erschweren werden. Da wird dann nämlich schnell mal eine Forderung oder Position herausgehauen, die sich später als Bumerang erweisen könnte. 

Das gilt vor allem für die CDU und ihren Vorsitzenden Friedrich Merz. Im Vorgefühl eines sicheren Sieges werden vollmundig Versprechen gemacht, die die Ergebnisse der alten Regierung fundamental korrigieren sollen. Die ehrgeizige Agenda: Zurückweisung illegal Einreisender, Neustart bei der Klimapolitik, Rückkehr zum alten Staatsbürgerschaftsrecht, Bürokratieabbau, Planungsbeschleunigung, niedrige Energiepreise, Rücknahme der Cannabis-Legalisierung, schärfere Sanktionen beim Bürgergeld für Arbeitsverweigerer, eine neue Rentenformel und Steuererleichterungen für die sogenannten Leistungsträger im Mittelstand. 

Diese Pläne in allen Ehren, aber mit wem will Merz das Umsetzen und wie will er es finanzieren, wenn ihm eine ja durchaus im Bereich des Möglichen liegende Sperrminorität von AfD und BSW das Lösen der Schuldenbremse unmöglich macht, da dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag benötigt würde? Der Union bleiben mit SPD und Grünen nur zwei Partner, die nicht so ohne Weiteres eigene Positionen aufgeben werden, wofür sie gerade ihre Mehrheit hergegeben haben. 

Eingedenk dieser Voraussetzung wäre für die Union gerade jetzt in der Übergangsphase eine Strategie abseits von betriebsblind aufgestellten Maximalpositionen hilfreich. Wer mit denen wirbt, der muss auch entsprechend liefern. Das ist aber ausgeschlossen, auch wenn es die allein vom prognostizierten Wahlerfolg schon euphorisierten Hardliner in der Union nicht wahrhaben wollen. Diese Traumtänzer setzen damit das demokratische System zusätzlich unter Druck. Denn noch einmal lassen sich die Wählerinnen und Wähler in ihrer Unzufriedenheit nicht vorführen, wenn die neue Regierung nur eine andere Art von Ampel darstellen sollte. 

Jenseits der wenig inspirierenden Agenda der CDU, die sich am Hier und Jetzt und den vermeintlichen Fehlern der Ampelparteien abarbeitet, sollte der eingeschlagene Weg zu Neuwahlen doch mehr Aufbruchstimmung erzeugen. Weder Merz noch Söder noch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sind Typen für Strategien „out oft the box“, wie es so schön neudeutsch heißt. Gerade weil auch Deutschland vor den größten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg steht und die Welt multipolar geworden ist, sind auf Vertrauen basierende Partnerschaften wichtiger denn je. Da zwängen sich versuchsweise und konsensuale sowie lösungsorientierte Strategien auf, frei von jeglicher Ideologie. Wer so etwas von einer unionsgeführten Regierung erwartet, dürfte nach jetzigem Stand enttäuscht werden, denn das passt nicht zu deren DNA. So etwas lässt sich auch nicht in Koalitionsverträge gießen, die bisher ja zudem so ausgestaltet wurden, dem jeweiligen Partner möglichst schwere Ketten ans Bein zu binden. 

Auch wenn es müßig scheint, sich jetzt noch im Detail jenseits parteipolitischer Deutungshoheit mit der Suche nach Fakten zum Koalitionsbruch auseinanderzusetzen, ein Versuch sollte gestattet sein. Letztlich fehlte wohl schlicht der Wille für eine Einigung, weil die sehr gegensätzlichen wirtschaftspolitischen Ansätze der bisherigen Ampelpartner – hier das apodiktische Papier der FDP mit mehr Markt und weniger Staat, dort vor allem weniger Sozialstaat und der Ansatz von SPD und Grünen, auf eine stärkere Rolle des Staates zu setzen – nicht mehr überbrückt werden konnten. 

Zudem dürfte es lohnend sein, sich mit der zentralen Frage zu beschäftigen, ob der Bundeskanzler seinen ehemaligen Finanzminister tatsächlich zum Bruch der Verfassung nötigen wollte. Denn der ewige Streit um die Schuldenbremse lähmte die Ampelkoalition spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023. Sie war die eigentliche Fessel dieser Regierung und letztlich auch die Ursache für ihr Scheitern. Sparen bis es knallt, das war das Motto von Christian Lindner. Er war am Ende der Sprengmeister für diese Koalition.

Hintergrund der jüngsten Auseinandersetzung war die vom Bundeskanzler vorgesehene Ukraine-Hilfe, die er nach Trumps Wahlsieg über die bereits im Haushalt vorgesehenen zwölf Milliarden Euro um weitere drei Milliarden aufstocken will. Dafür sieht er eine Aussetzung von der Schuldenbremse als verfassungskonform an, um gleichzeitig Sozialleistungen aufrecht und die Renten stabil zu halten sowie in Wirtschaft und Infrastruktur zu investieren. Lindner jedoch sah darin einen leichtfertigen Umgang mit dem in dem Grundgesetz verankerten Schuldenbremse und argumentierte, dass eine Zustimmung zu Scholz‘ Plan seinen Amtseid verletzt hätte. Damit impliziert er, dass die Aussetzung der Schuldenbremse einen Bruch der Verfassung bedeutet hätte. 

Notfall als Grenzfall

Über diesen Dissens ist das Ampel-Bündnis zerbrochen. Dabei hatte die Bundesregierung vor gut einem Jahr, im Dezember 2023, bei der Einigung auf den Bundeshaushalt 2024 ausdrücklich offengelassen, welche Reaktion bei einer Verschärfung der Lage in der Ukraine nötig sein könnte. In der Regierungsvereinbarung heißt es wörtlich: „Sollten im Laufe des Jahres 2024 weitere erhebliche Aufwendungen für die Unterstützung der Ukraine auch mit internationalen Partnern über das bisher veranschlagte Maß hinaus nötig werden, wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vorschlagen, einen Überschreitungsbeschluss nach Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 des Grundgesetzes zu fassen“. Christian Lindner hat diese Vereinbarung damals mitgetragen.

Die Frage bleibt, warum der Bundeskanzler erst jetzt die Notlage erklären wollte und nicht schon früher, da der Krieg seit fast drei Jahre andauert. Olaf Scholz hat offenbar die geopolitische Gesamtsituation nach der Wahl von Donald Trump zum nächsten Präsidenten der USA neu bewertet, weil er fürchtet, dass die Republikaner unter Donald Trump ihre Ankündigungen wahr machen und die Ukrainehilfen kürzen oder gar einstellen könnten. Deshalb will er vorausschauend die Ukrainehilfen um zusätzlich drei Milliarden auf insgesamt 15 Milliarden erhöhen und kommt vor dieser aktuellen politischen Lage, die den Befürchtungen der beschriebenen Situation vor einem Jahr entspricht, zu dem Ergebnis, dass die Hilfen für die Ukraine sowie die weiteren finanzpolitischen Herausforderungen für den Haushalt so erheblich sind, dass eine Ausnahme von der Schuldenbremse gerechtfertigt wäre. 

Staatsrechtler wie Alexander Thiele und Armin Steinbach vertreten laut ZDF „heute“ beziehungsweise im Rechtsmagazin „Legal Tribune Online“ (LTO) die Auffassung, dass die aktualisierte finanzpolitische Bewertung des Kanzlers in ihrer Gesamtheit eine „Beeinträchtigung der Finanzlage“ im Sinne von Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 des Grundgesetzes darstellt und einen Überschreitungsbeschluss rechtfertigen könnte. Steinbach weist darauf hin, dass die rückwirkende Neubewertung in Bezug für die im Haushaltsentwurf 2025 vorgesehenen 12 Milliarden Euro Finanzhilfen nicht unzulässig sei beziehungsweise neue finanzpolitische Umstände eine neue Beurteilung der Finanzlage rechtfertigen. Allerdings dürfe diese Ausnahmeregelung ausschließlich auf die zur Abwendung der Notsituation eingesetzten Ausgaben gelten. Sie betreffen demnach nur die Finanzhilfen für die Ukraine in der aktuell vorgesehenen Höhe von 15 Milliarden Euro. Alle anderen Ausgaben des Haushalts sind laut Steinbach weiterhin an die Schuldenbremse gebunden. 

Steuerrechtsexperte Hennig Tappe wird in ZDF „heute“ dahingehend zitiert, dass ein Überschreitungsbeschluss „sicherlich nicht verfassungswidrig“ gewesen wäre, auch wenn es sich um einen Grenzfall handle. Es käme dabei auf die Begründung an, weil es nicht ein klassischer Fall für das Aussetzen der Schuldenbremse nach einem plötzlichen Ereignis wie einer Naturkatastrophe oder Pandemie sei. 

Im Ergebnis halten die Experten fest, dass der Bundeskanzler seinen Finanzminister nicht zum eindeutigen oder offensichtlichen Bruch von Verfassung und damit seinem Amtseid aufgefordert hat. 
Gleichwohl war es für Lindner aber die Begründung für seinen Ausstieg aus der Koalition. Damit konnte er sich in besonderer Weise staatsmännisch in Szene setzen: Hier der Hüter der Verfassung, da der Anstifter zum Verfassungsbruch. Mit der reinen Faktenlage hat dies zwar wenig zu tun, darauf kam es Lindner aber auch nicht an. 

Deshalb hat der Bundeskanzler die für seine Verhältnisse sehr klare Entscheidung getroffen, mit der Entlassung des Finanzministers den Bruch der Koalition herbeizuführen. Damit hat er auch verhindert, Christian Lindner zu einem späteren Zeitpunkt die Bühne für die Bekanntgabe des Endes der Koalition zu bieten. Denn die FDP wollte raus aus dieser Koalition, weil sie insbesondere nach den desaströsen Ergebnissen bei den zurückliegenden Landtagswahlen fürchtete, unterzugehen. Nach übereinstimmenden Presseberichten soll Lindner vorgehabt haben, ein, zwei Tage später, diesen Beschluss bekannt zu geben. Ihm hat Olaf Scholz damit auch die Möglichkeit genommen, sich erneut zu inszenieren, sich und seine Partei als Retter der Staatsfinanzen, als Impulsgeber für mehr Wirtschaftswachstum zu inszenieren.

 Olaf Scholz hatte es offenbar satt und vielleicht fehlte ihm auch mittlerweile die Kraft, ständig zwischen den unterschiedlichen Interessen der Koalitionspartner zu moderieren, angesichts der immensen Herausforderungen, den „Kindergarten“ zusammenzuhalten, den Egomanen Lindner zu zügeln. Denn die Vorstellungen der FDP hätten natürlich auch schlicht Geld gekostet, die Lindner zu Lasten der Rentner, der Geringverdiener, der Empfänger von Bürgergeld finanzieren wollte. Und Olaf Scholz hat völlig zu Recht in seiner Erklärung zum Ende der Koalition darauf verwiesen, dass er nicht bereit sei, die Unterstützung für die Ukraine und Investitionen in die Verteidigung zulasten des sozialen Zusammenhalts zu finanzieren; dies sei Wasser auf die Mühlen der Feinde der Demokratie.

In diesem Zusammenhang, und dies nur am Rande, zeigt nach einem Bericht der „WirtschaftsWoche“ eine Studie, dass Superreiche wie Milliardäre und Multimillionäre 26 bzw. 29 Prozent Steuern zahlen, während Mittelstandsfamilien 43 Prozent zahlen müssen. Das Thema Steuergerechtigkeit muss deshalb insbesondere für die Sozialdemokraten künftig mit vorn auf der Agenda stehen. 
Auch eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung zur sozialen Ungleichheit kommt zu dem Ergebnis, dass die Ungleichheit bei den Einkommen größer wird, die Angst der Menschen vor dem Abstieg wächst und das Vertrauen in die Institutionen zu sinken droht. 

Aber, dies gehört auch zur Wahrheit: Angesichts der immensen auch finanziellen Herausforderungen müssen die Grenzen des Sozialstaats neu ausgelotet werden. Es ist an der Zeit sich von der Vorstellung eines all umfassenden Sozialstaats, der alle Lebensrisiken seiner Bürgerinnen und Bürger absichern soll, zu verabschieden.

Wie geht es nun weiter? Olaf Scholz wird am 16. Dezember die Vertrauensfrage stellen, Wahltermin ist der 23. Februar 2025. Vermutlich wird Olaf Scholz für seine SPD als Kanzlerkandidat noch den Wahlkampf bestreiten. Nach den aktuellen Umfragen wird er jedoch scheitern. Wunder gibt es eben nicht immer wieder. Es dürfte das Ende seiner politischen Karriere sein, die vor mehr als 40 Jahren begann. Verteidigungsminister Boris Pistorius, immer noch der beliebteste Politiker, dürfte im Falle einer Koalition aus CDU und SPD sicher eine gewichtige Rolle spielen, vielleicht sogar als Vizekanzler. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht – wie von manchen Genossinnen und Genossen gefordert – als Kanzlerkandidat angetreten. Dabei hätte er nur verlieren können.

Aufmacherfoto: Stefan Schweihofer / Pixabay

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