Eine neue „große Transformation“ für das Weltklima wird ohne Einschränkungen nicht zu haben sein. Alle werden sich auf einen Abstieg von der Hochebene des Massenwohlstands einstellen müssen. Die unvermeidliche Abkehr vom Wachstumskurs erzeugt neue Konflikte und harte Übergänge wie soziale Erschütterungen und stellt somit den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe. So stellt sich die Frage: Wie lässt sich die Bevölkerung in den Transformationsprozess einbinden, ohne dass die Gesellschaft an den unvermeidbaren Umwälzungen zerbricht?
Die Karriere eines Begriffs
Als der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen unter Leitung des Potsdamer Klimaforschers Hans-Joachim Schellnhuber im Jahr 2011 für seinen Bericht zur Situation der Umwelt, den Gefahren des Klimawandels und seinen Empfehlungen für das politische Handeln den Untertitel „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ wählten[1], gab er damit den Anstoß für eine beeindruckende Karriere dieses Begriffs, der seither die Schlagzeilen der Presse, die Foren der politischen Diskussion und die Diskurse in großen Teilen der Gesellschaft beherrscht. Die Transformation gilt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ja als Menschheitsaufgabe, der sich niemand entziehen kann. Ob Wissenschaft oder Unternehmen, ob Medien, Erziehung, Design oder Architektur – richtig up-to-date ist nur, wer sich zur Transformation bekennt und am besten für sich reklamieren kann, selbst „transformativ“ zu sein.
Schellnhuber und seine Mitautoren knüpften mit ihrem Gutachten bewusst an die sehr einflussreiche Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Karl Polanyi „Die große Transformation“ aus den 1940er Jahren an. Darin geht es um die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die neu entstehende kapitalistische Wirtschaftsweise im 19. Jahrhundert in den Gesellschaften Europas auslöste. Polanyi zeigt, es war eine Geschichte mit großen Konflikten und harten Übergängen in eine Welt von großer Dynamik, in der es für die Menschen auf der einen Seite Gewinne an Wohlstand und Freiheit gab, auf der anderen Seite aber den Verlust von Sicherheiten und Orientierung, die mit den traditionellen sozialen Ordnungen verbunden waren. Polanyi war eher ein Pessimist, was die Errungenschaften der Moderne für das Leben der Menschen angeht. „Die große Transformation“ war bei ihm kein Fortschritt der einfach nur zu feiern ist, sondern eine hochriskante Entfesselung von sozialen und wirtschaftlichen Kräften, deren soziale und kulturelle Folgen er durchaus kritisch sah.
Transformation bringt Konflikte
Wie man es dreht und wendet, Transformationen sind immer auch Phasen der sozialen Erschütterung. Die sogenannten „sozial-ökologische Transformation“ erfasst viele Lebensbereiche, Mobilität, Wohnen, Bauen und die Art und Weise des Lebens. Die Abkehr von der fossilen Energieerzeugung löst die wirtschaftliche Basis ganzer Regionen und Branchen auf. Das Ende des Verbrennungsmotors als Antriebsquelle fordert mit der Automobilindustrie eine der Stützen der deutschen Wirtschaft heraus und es ist keineswegs sicher, dass sie die Herausforderung bestehen wird. Der Übergang zu einer Heizung ohne Verbrennung von Gas, Öl oder Kohle macht enorme Investitionen notwendig, die das Budget vieler Eigentümer und Mieter zu überfordern droht. Die Landwirtschaft muss sich umstellen. Es muss anders gebaut werden, nämlich mit mehr Recycling, mehr Holz, weniger Beton und so, dass Energie optimal genutzt und der Verbrauch von Flächen minimiert werden kann. Die Europäische Union hat mit dem „Neuen Europäischen Bauhaus“ eine eigene, breit angelegte Initiative für dieses neue Planen und Bauen gestartet.
Für viele Probleme sind technische Lösungsmöglichkeiten erkennbar, etwa durch den Umstieg von der Verbrennung fossiler Energie auf sogenannte „erneuerbare“ Energien wie Wind und Solarstrom. Für andere Probleme ist man bisher noch ratlos, etwa bei der Frage, wie Zement ohne die massenhafte Produktion von CO2 als Abfallprodukt hergestellt werden kann. Und ob tatsächlich mit Windrädern und Solarpanelen genug Strom für all die neu zu installierenden Wärmepumpen und die Millionen neuer Elektroautos erzeugt werden kann, ist mehr als unsicher, wenn man zugleich auf die Atomenergie als CO2-freie, aber riskanten und wegen der ungeklärten Frage der sicheren Entsorgung des Atommülls problematische Form der Energieerzeugung verzichten will.
Die Frage, die viele umtreibt: Ist die Transformation in dem von der Klimaforschung als notwendig erkannten Umfang überhaupt möglich, ohne den erreichten Wohlstand aufzugeben oder geht es nicht ohne drastische Einschnitte?
Müssen wir den Kapitalismus abschaffen?
In Ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ hat die Taz-Redakteurin Ulrike Hermann[2] darauf eine klare Antwort gegeben. Sie rechnet plausibel vor, dass die Idee eines „grünen Wachstums“ ohne CO2 auf tönernen Füßen steht. Die optimistischen Annahmen zur ausreichenden Produktion erneuerbarer Energie, ob mit Wind oder Photovoltaik, die Vorstellung, man könnte mit ausreichend Wasserstoff „E-Fuels“ herstellen, um eines Tages auch Autos mit Verbrennermotor und Flugzeuge klimaneutral anzutreiben, all das verweist sie auf der Basis von Daten und entsprechenden Berechnungen in das Reich der Utopie. Bei manchen Punkten mögen, wie Kritiker einwenden, die Berechnungen von Hermann angreifbar sein. Insgesamt leuchtet aber in hohem Maße ein, dass es so einfach, wie es von vielen Transformationsbefürwortern und Regierungen dargestellt wird, nicht gehen wird.
Für Hermann ist die Klimakrise zugleich eine Systemkrise des Kapitalismus. Der nämlich könne ohne Wachstum nicht bestehen. In der Tat war es bisher ein Lebenselixier dieses Systems, immer wieder neue Möglichkeiten der Kapitalverwertung zu finden und die gesamte Gesellschaft Stück für Stück durchzuökonomisieren. Darin sind sich die meisten Ökonomen einig. Marxistische Theoretiker wie Rosa Luxemburg und viele andere haben bekanntlich in diesem inhärenten Wachstumszwang die zentrale Quelle der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems gesehen. Dass es immer wieder gelungen ist, neue Wachstumsfelder zu finden macht aber deutlich, welche Dynamik mit der „großen Transformation“ entfesselt worden war und wie vital der Kapitalismus trotz aller Krisen immer noch ist.
Kontinuierliches Wachstum war jedoch stets auch die Basis der erfolgreichen Befriedung der dem Kapitalismus eigenen sozialen Konflikte und der Folgen der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen im modernen Wohlfahrtsstaat mit Umverteilung, Sozialpolitik und wirtschaftlicher Regulierung. Auch der Wohlfahrtsstaat ist auf Wachstum angewiesen. Ohne Wachstum keine Spielräume für Umverteilung, für immer mehr soziale Sicherheit und eine umfassende Vorsorge bei Bildung, Gesundheit und Lebensqualität.
Wirtschaftliches Wachstum war bisher jedoch immer auch mit wachsendem Ressourcen- und Naturverbrauch verbunden, worauf der „Club of Rome“ schon Anfang der 1970er Jahre eindrücklich hingewiesen hat. Dabei ist umstritten, ob eine Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch, insbesondere eine Entkopplung von Wachstum und CO2-Ausstoß, möglich ist. Anhänger von „Green Growth“ sind davon überzeugt. Digitalisierung und der Umstieg von Industrie und materieller Produktion als Schwerpunkt der Wirtschaft auf Dienstleistungen, Information und Wissen ließen es machbar erscheinen, weiter kapitalistisch zu wachsen und dennoch das Klima zu retten.
Wachstumskritiker sehen jedoch keinerlei Beleg, dass diese Vision jemals Praxis wird. Zu eng seien die herrschenden Konzepte von Wohlstand mit materiellem Konsum verknüpft, so dass nicht erkennbar sei, wie ein Wachstum ohne Naturverbrauch aussehen könnte. In der Tat scheint auch die Digitalisierung, die von vielen ja als der zentrale Schlüssel für mehr Ressourcenökonomie und qualitatives Wachstum gesehen wird, keineswegs umweltneutral zu sein. Auf das Internet entfallen inzwischen 20 Prozent des weltweiten Stromverbrauches. Und was in den unzähligen Smartphones, Batterien, Rechenzentren, Routern und Kabelsystemen für langfristige Umweltgefahren lauern, hat noch keiner richtig nachgerechnet. Auf jeden Fall muss auch hier viel Materie bewegt werden, um die Bits fließen zu lassen. Umwelt- und klimaneutral ist bei der Digitalisierung erst einmal gar nichts.
Wirtschaften nach Plan
Für Ulrike Hermann führt an einem Bruch mit dem Wachstumsdenken kein Weg vorbei. Zur Rettung des Klimas schlägt sie eine neue Planwirtschaft vor, nicht die gescheiterte sozialistische Planwirtschaft, sondern so etwas wie die Kriegswirtschaft, wie sie Großbritannien im zweiten Weltkrieg praktiziert hat. Dabei blieben Privateigentum und politischer Demokratie erhalten, allerdings mit klaren Vorgaben, was in welchem Umfang zu produzieren ist und was jeder Bürgerin und jedem Bürger an Nahrungsmitteln, Kleidung usw. zusteht. Der Lebensstandard müsse, so Hermann, etwa auf das Level der 1970er Jahre zurückgeführt werden. Das seien durchaus keine Hungerjahre gewesen. Aber Netflix-Abos, mehrere Urlaubsflüge pro Jahr für breite Bevölkerungsschichten, ein immer weiter steigender Wohnflächenverbrauch, Wegwerfkleidung und massenhafte Mobilität mit dem eigenen Kfz – das passe einfach nicht mehr, wenn man die Klimakatastrophe wirklich abwenden wolle.
Aber kann man erwarten, dass die Menschen einer so deutlichen Einschränkung ihres Wohlstands zustimmen? Die Analogie zur Kriegswirtschaft hinkt ein wenig. Zwar gibt es in der Situation des Abwehrkriegs gegen einen Aggressor, wie man gerade in der Ukraine sehen kann, hohe Opferbereitschaft und Loyalität zur politischen Führung. Aber das funktioniert nur auf Zeit und in der Erwartung, dass sich nach dem Krieg neue Perspektiven auftun. Die Klima-Transformation jedoch beinhaltet Selbstbeschränkung für alle Zeiten.
Noch ein wichtiger Punkt: In der Moderne war Massenmobilisierung stets sehr eng verknüpft mit der Idee der Nation, die historisch erstmals so etwas wie wirklich gesellschaftlichen Zusammenhalt über die Grenzen von Klassen, Milieus und regionalen Identitäten hinweg geschaffen hat. Die Nation hat für unterschiedliche Gruppen ein affektives Band geschaffen als Grundlage für kollektive Identität und die Bereitschaft, für das Gemeinwesen sogar das eigene Leben einzusetzen, wenn es im Krieg erforderlich ist. Der Feudalismus führte zuvor seine Kriege mit Söldnerheeren, die nur dann kämpften, wenn sie auch bezahlt wurden.
Die Nation war und ist im Übrigen auch die Basis des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates. Alles, was bisher in der Menschheitsgeschichte an sozialer Sicherheit und an Umverteilung zur Eindämmung sozialer Ungleichheit geschaffen wurde, wurde auf nationaler Basis geschaffen.
Gegenwärtig spricht nichts dafür, dass das Konzept der Nation die Funktion der umfassenden Mobilisierung noch wahrnehmen kann. Die Ukraine bildet da die, allerdings höchst bemerkenswerte, Ausnahme. Dazu kommt, dass es kaum etwas gibt, was von seinen Wirkungen her weniger national ist als die Klimaproblematik. Die Klimakrise ist ein globales Phänomen, das erfolgversprechend nur global angegangen werden kann. Dazu gibt es mit den Klimaabkommen der UN und einer Vielzahl von internationalen Vereinbarungen auch Ansätze. Die konkrete Umsetzung der Schritte zur Rettung des Klimas muss aber auf nationalstaatlicher Ebene vollzogen werden. Und auf dieser Ebene stellen sich die wirklichen Herausforderungen. Das Erreichen der Klimaziele von Paris hätte in Deutschland kaum das Potential, Massen zu elektrisieren und zu mobilisieren, vor allem dann nicht, wenn andere Nationen nicht die gleichen Opfer bringen. Allerdings bringen, wie man sieht, auch schon begrenzte Zumutungen für den privaten Geldbeutel oder die individuelle Mobilität die Bürger schnell auf die Barrikaden.
Eine radikale Drehung weiter
Noch etwas weiter dreht den düsteren Transformationsrealismus der Siegener Ökonomieprofessor Helge Peukert. Bei den Aktivisten der „Letzten Generation“, die sich für das Klima auf Straßen festkleben, moniert er in einem Interview mit Kathrin Gerlof die Diskrepanz von radikaler Aktion und handzahmen Forderungen. Für Tempo 100 und das 9-Euro-Ticket auf Dauer für alle sei die Geste des Protests doch ein wenig zu groß. Es müssten viel radikalere Forderungen auf die Agenda gesetzt werden. Peukert plädiert für Notstandsgesetze, den Rückbau von Straßen, ein weitgehendes Verbot von Flugreisen, eine strikte Zuteilungspolitik bei Energie auf niedrigem Niveau, die Reduzierung der Nutzung des energiefressenden Internets, deutliche Einschränkungen beim Konsum und eine weitegehende Entmachtung von IT-Konzernen. Im Gegenzug können die Arbeitszeit auf 25 Stunden pro Woche reduziert werden, allerdings ohne Wohlstandsausgleich.
Wenn man sich ansieht, welche Aufregung schon durch das „Heizwende“-Konzept der Ampelregierung entstanden ist, das ja nun sehr stark sozial abgefedert und mit allen möglichen großzügigen Zuschüssen verbunden ist, bekommt man vielleicht eine Vorstellung, welche Konflikte sich auftun, wenn solche Ideen tatsächlich umgesetzt würden. Man kann sich nicht recht vorstellen, dass für so radikale Konzepte wie die von Hermann und Peukert jemals demokratische Mehrheiten gewonnen werden können.
Eine neuer Gesellschaftsvertrag?
Zumindest denkbar ist jedoch, dass sich die öffentliche Meinung angesichts von immer stärker sichtbaren Folgen des Klimawandels schneller in Richtung Transformation dreht und auch konsequentere Maßnahmen als bisher mitträgt. Schellnhuber und seine Mitautoren fordern einen „Gesellschaftsvertrag“ für die Rettung des Klimas. Nur hat es so etwas in der Geschichte bisher nicht gegeben. Das Konzept des Gesellschaftsvertrags war immer eine philosophische Als-Ob-Konstruktion, um bestehende soziale Ordnungen zu legitimieren. Berühmt ist das Modell des „Leviathan“ des frühneuzeitlichen Denkers Thomas Hobbes, in dem die Menschen das Recht zu regieren und ggf. auch Gewalt anzuwenden per Gesellschaftsvertrag auf einen souveränen Herrscher übertragen, um den Kampf aller gegen alle im Naturzustand abzuwenden. Eine Idee passend zum Absolutismus, dem Leitbild feudaler Herrschaft in dieser Zeit, aber auch zum Denken der Aufklärung, denn der Herrscher bezieht seine Legitimation bei Hobbes nicht mehr von Gott, sondern aus einem freiwillig eingegangen Vertrag aller Menschen, der allerdings kein Kündigungsrecht bei veränderten Umständen oder Schlechtleistung des dienstleistenden Herrschers vorsah.
Wie müsste man sich einen Gesellschaftsvertrag heute vorstellen? Als Übertragung der Freiheitsrechte und der sozialen Rechte auf einen Expertenrat von Klimaforschern und Naturwissenschaftlern, der nicht demokratisch, sondern nur durch seine Expertise legitimiert ist? Kaum vorstellbar, auch wenn für den einen oder anderen Wissenschaftler vielleicht eine verlockende Idee. Während der Corona-Krise hatte man ja zuweilen das Gefühl, dass es so etwas wie die Souveränitätsübertragung auf die Wissenschaft zumindest in Ansätzen schon gab. Befriedet war die Situation damit, wie man heute weiß, nicht.
Das Konzept der „sozialen Kippinterventionen“ des Potsdam-Instituts für Klimaforschung sieht vor, durch eine Vielzahl von Eingriffen in die Meinungsbildung in Medien, im Erziehungssystem, der politischen und der Wirtschaftskommunikation einen Umschwung der öffentlichen Meinung zu erreichen, der eine demokratisch legitimierte Transformationspolitik möglich macht und nachhaltig absichert. Ob das funktioniert, steht jedoch dahin. Zudem könnte man kritisch fragen, ob mit einem solchen Konzept nicht freie und unvoreingenommene Beratung, an der alle Betroffenen gleichberechtigt teilnehmen können (das meint der Begriff der „Deliberation“) ersetzt wird durch „Framing“, „Nudging“ und andere Tools aus dem Repertoire der modernen Meinungs- und Sozialtechnologie.
Das Dilemma der Demokratie
Es gibt also ein offenkundiges Dilemma. Eine demokratische Transformationspolitik braucht lange Überzeugungs- und Lernprozesse und muss immer mit Rückschlägen rechnen, wenn die Bevölkerung der Transformation oder auch nur ihren jeweiligen Protagonisten ganz oder teilweise die Loyalität aufkündigt. Die Klimaforscher weisen aber mit zunehmender Dringlichkeit darauf hin, dass die Zeit für wirksame Gegenmaßnahmen zur Erderwärmung immer knapper wird. Die Argumente dafür sind plausibel und es scheint dazu einen großen Konsens in der Wissenschaft zu geben. Bleibt als Ausweg nur die Klimadiktatur, mit Experten, die der Gesellschaft sagen, wo es langgeht? Keine schöne Vorstellung! Die Corona-Krise haben manche ja argwöhnisch als Testlauf für ein solches „szientokratisches“ Notstandsregime wahrgenommen. Aber so richtig bewährt hat es sich nicht, wie wir inzwischen wissen, auch nicht in China, dessen rigide „Zero-Covid“-Strategie ja merkwürdigerweise unter linken Sozialwissenschaftlern besonderes Ansehen genoss, denen es ansonsten nicht permissiv genug in der Gesellschaft zugehen kann.
Eine neue „große Transformation“ für das Weltklima wird ohne Einschränkungen des Wohlstands nicht zu haben sein. Das erzeugt neue Konflikte und stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe, der in der Moderne mit dem Nationalstaat und den im nationalen Rahmen entwickelten Wohlfahrts- bzw. Sozialstaaten erreicht worden ist. Eine Befriedung sozialer Konflikte durch das Prinzip des Immer-Mehr geht dann nicht mehr. Vielmehr wird man sich auf einen Abstieg von der Hochebene des Massenwohlstands in tiefer liegende Gefilde einstellen müssen. Jeder Bergsteiger weiß jedoch, dass die Abstiege meist gefährlicher sind als die Aufstiege. Das gilt auch für Gesellschaften. Den entwickelten Gesellschaften des Westens werden auf der Abstiegsroute zudem Gesellschaften aus dem globalen Süden entgegenkommen, die auch mal aufs Hochplateau des Massenkonsums und der sozialen Sicherheit wollen. Hier kann es Gedrängel geben und den Absteigern werden Zweifel kommen, ob es richtig war, den Rückweg einzuschlagen.
Wenn die Politik sich von der Klimatransformation ein „neues Wirtschaftswunder“ mit einem neuen Schub für den Wohlstand verspricht, ist das ein wenig leichtfertig. Entweder wird einfach munter weiterproduziert und –konsumiert und dem Klima ist nicht geholfen oder man verschweigt der Bevölkerung, dass Transformation nicht zum Nulltarif zu haben ist. Die Transformation birgt Konfliktstoff. Um zu verhindern, dass die Gesellschaft daran nicht zerbricht, braucht es Ehrlichkeit und vor allem ein neues Nachdenken über Prioritäten.
Vertrautes ist von vielen Seiten bedroht
Am Modell von Ulrike Hermann könnte man dazu vielleicht doch etwas lernen. Die britische Kriegswirtschaft wurde von der Gesellschaft auch deshalb getragen, weil es einen klaren Fokus gab, nämlich den deutschen Angriff abzuwehren und den Krieg zu gewinnen. Übertragen auf unser Thema: wenn man für ein Ziel, die Klimatransformation, mobilisieren und die damit zusammenhängenden Konflikte bewältigen will, ist das möglicherweise für eine latent überforderte und in ihrem Zusammenhalt gefährdete Gesellschaft Herausforderung genug. Wenig sinnvoll scheint es da, große Teile der Bevölkerung durch weitere Ideen mit hohem Konfliktpotential zu überfordern, etwa der Gender- und Diversitätspolitik, Migration und dem gerade in Ansätzen erkennbaren Konfliktfeld einer „postmigrantischen“ Gesellschaft, in der Minderheiten das, was sie für ihr Recht halten, immer massiver geltend machen und sich Integration, wie man sie bisher verstand, zunehmend als obsolet erweist. Auch das hat inzwischen den Charakter einer Transformation, die im sozialen Gefüge keinen Stein auf dem anderen lässt.
Im Gespräch mit Markus Lanz im ZDF am 18. Juli hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sehr richtig darauf hingewiesen, dass die aktuellen Zerwürfnisse und der Missmut in der Bevölkerung auch damit zu tun haben kann, dass die Menschen von zu viel Transformationsankündigungen schlicht überfordert sind. Wenn zu viel an Vertrautem in Frage gestellt wird, ist es, so Gauck, eine nur zu nachvollziehbare Reaktion, sich der Veränderung zu verweigern und denen nachzulaufen, die die Krise leugnen und suggerieren, alles können so weiterlaufen wie bisher, wenn nur die Störenfriede endlich ruhiggestellt würden. Das ist ein wichtiger Punkt. Auch die Digitalisierung, die Migration und die zunehmend offensiv eingeforderte Diversität von Lebensentwürfen; Kulturen und sexuellen Orientierungen bedrohen nämlich Vertrautes, schaffen Unsicherheit und haben erhebliches Konfliktpotential. Alle zusammen können die Kräfte des Zusammenhalts in der Gesellschaft überfordern.
Vielleicht hat man größere Chancen auf Zustimmung für eine konsequente Klimapolitik, wenn man dem konservativen Teil der Bevölkerung bei diesen anderen Themen ein wenig entgegenkommt. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist eigentlich ein durch und durch konservatives Anliegen. Viele sind vielleicht eher bereit, sich dafür einzusetzen und Änderungen zu akzeptieren, wenn ihnen Vertrautes an anderer Stelle erhalten bleibt – sei es die Sprache, die sie von Kindesbeinen an sprechen, sei es auch die Möglichkeit, sein Leben weiter auch analog und nicht nur digital zu organisieren. Missachtet man diese notwendige Balance von Veränderung und Kontinuität sieht es allerdings schlecht aus für den gewünschten „neuen Gesellschaftsvertrag“ für das Klima.
1 WBGU (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, 2. Veränderte Auflage
2 Ulrike Herrmann (2022): Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden, Köln