SMSgate im Augiasstall EU

Die inzwischen von der Europäischen Staatsanwaltschaft untersuchten Milliarden-Geschäfte via SMS zwischen Pfizer und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bleiben undurchsichtig. Bisher scheiterte die geforderte Aufklärung an einer Mauer des Schweigens innerhalb der EU-Behörden. Mit einer Klage vor einem Strafgericht im belgischen Lüttich könnte sich das ändern. Unterdessen werden munter abenteuerlich anmutende neue Deals ausgehandelt – wie bisher hinter verschlossenen Türen. Die außergewöhnlich zurückhaltende Berichterstattung hält die Affäre auf kleiner Flamme. 

Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen liebäugelt bereits zwei Jahre vor dem Termin mit ihrer Wiederwahl. In der EU-Administration und bei ihren Parteifreunden wird Zustimmung signalisiert, obwohl die oberste Repräsentantin der EU in ihrer bisherigen Amtszeit überwiegend glücklos agiert und obendrein wegen gigantischer Impfstoff-Deals mit Pfizer die EU-Staatsanwaltschaft am Hals hat. Alles kein Problem. Holt sich von der Leyen wegen der Umgehung von Verfahrensvorschriften vor Gericht Beulen und wird sie so auch beim Establishment für diesen EU-Spitzenjob untragbar, so hat sie sich schon für den Job der NATO-Generalsekretärin ins Gespräch bringen lassen. Sie präsentiert sich wieder einmal als Allzweckwaffe für die verschiedensten Ämter, glaubt in der eigenen Hybris nach den Politressorts Familie, Arbeit, Verteidigung und EU schließlich auch NATO zu können. Dabei glänzte sie bisher auf nahezu allen Positionen eher als Schaumschlägerin, für die nach einer gewissen Zeit anderweitig Verwendung gefunden werden musste.  

Erste Strippen quer durch Europa hat von der Leyen schon gezogen, denn Chancen auf den Vorsitz in der EU-Kommission bekommt nur eingeräumt, wer beim Ringen der EU-Mitglieder um hohe Posten in der Gemeinschaft politische Schwergewichte auf sich zu vereinen weiß. Das dauert, entscheidet sich situationsbedingt aber auch mal ganz schnell, was Manfred Weber als EVP-Spitzenkandidat 2019 erfahren musste, der am Gegengeschäft zwischen Paris und Berlin mit der Installation von Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) scheiterte. Lagarde war als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht mehr tragbar, nachdem sie in der Affäre um eine Millionen-Zahlung an den Unternehmer Bernhard Tapie von einem französischen Gericht wegen fahrlässigen Handelns im Amt der französischen Finanzministerin zur Veruntreuung öffentlicher Gelder beigetragen und dafür schuldig gesprochen worden war. Auf eine Strafe verzichteten die Richter allerdings mit Rücksicht auf die „Persönlichkeit“ Lagardes und ihr „internationales Ansehen“. 

Für den IWF reichte Lagardes Reputation dann doch nicht mehr, aber der EU-Administration scheint nach einem Hinweis des französischen Präsidenten Emmanuel Macron die Resozialisierung der Dame wichtig. Frei nach deren Motto „Fahrlässigkeit ist ein Delikt ohne Vorsatz“ wird Lagarde mit deutscher Unterstützung in eines der wichtigsten Ämter der Gemeinschaft gehievt. Von der Leyen wurde zugleich die Top-Position in Brüssel zugestanden, Manfred Weber als Kandidat der größten Fraktion im Europaparlament war aus dem Spiel.  

„Hinterzimmerdeals“

Auch wenn es Inhabern international renommierter Positionen offensichtlich leichtfällt, immer wieder auf die Füße zu fallen, ein Selbstläufer wird die Wiederwahl von der Leyens für das EU-Spitzenamt nicht, „ist ihre Amtszeit doch geprägt von Hinterzimmer-Deals und Missmanagement“, wie Journalist und Medienunternehmer Gabor Steingart so treffend bilanziert. Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin habe in sieben entscheidenden Politikfeldern versagt, schreibt er in „Focus“. Was er vergessen hat, aufzuzählen, ist der Verdacht strafbewehrter Handlungen im Amt.

In der täglichen Nachrichtenflut ist es fast untergegangen: Die EU-Staatsanwaltschaft EPPO ermittelt gegen die EU-Kommission und Ursula von der Leyen, die nach Recherchen der „New York Times“ im Februar 2021 für die Gemeinschaft mit dem US-Pharmariesen Pfizer an den Gremien vorbei allein einen 35 Milliarden Euro schweren Impfstoffdeal per SMS besiegelte – und dem Konzern zugleich auch das Quasi-Monopol gesichert hat. Die Ermittlungen erfolgten „aufgrund des extrem hohen öffentlichen Interesses“, hieß es im Oktober 2022. Seitdem herrscht Schweigen.

Von der Leyen stützte sich Anfang 2021 vielleicht auf eine Empfehlung der EU-Kommission aus dem April 2020, wonach die Beschaffungsbemühungen für eine koordinierte europäische Pandemiebekämpfung durch beschleunigte Verfahren, Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung und den Verzicht auf wettbewerbliche Ausschreibungen in dringenden Situationen zu erleichtern seien. Vielleicht ist sie so in eine juristische Falle gelaufen. Allgemein hat eine Studie der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit Universitäten in Rotterdam und Rom festgestellt, dass es aufgrund der Empfehlung für vereinfachte Verfahren bei unklaren Regeln zu dieser drastischen Lockerung eine Zunahme der Korruption im öffentlichen Beschaffungswesen gegeben hat. 

Die Liste der offiziell erhobenen Vorwürfe gegen die EU-Kommissionspräsidentin ist lang: Korruption, Machtmissbrauch, Wettbewerbsverzerrung. Freilich müssten noch Verschleierung und Behinderung angefügt werden, verstehen es von der Leyen und die von ihr geführte Kommission doch, seit dem Vertragsabschluss im Mai 2021 alle damit verknüpften Auskunftsbegehren von EU-Abgeordneten und Journalisten, ja sogar vom EU-Rechnungshof entgegen allen hehren EU-Transparenzregeln abzuwimmeln. Und Parlament wie Untersuchungsausschuss haben nach langem Kampf bisher nur durch Schwärzung weitgehend unkenntlich gemachte Ausfertigungen der abgeschlossenen teuersten Verträge der EU-Geschichte zu Gesicht bekommen. Zu den bisher nur grob geschätzten 35 Milliarden Euro müssen noch die Kosten für die Nachfolgeverträge in Höhe von mindestens 5,6 Milliarden Euro bis 2026 gezählt werden, für Impfdosen in Größenordnungen, die keiner benötigt! 

Doch damit nicht genug. Streng genommen müssen noch die von der EU für die Erforschung der Impfstoffe zur Verfügung gestellten 1,4 Milliarden Euro addiert werden. Nach einer Studie der Harvard Medical School sind so weltweit insgesamt 32 Milliarden Dollar aus öffentlicher Hand in die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen geflossen. Also hat der Steuerzahler dreimal für seine Immunisierung in die Tasche greifen müssen: Für die Forschung, zur Finanzierung der aufgeblähten Preise und ein letztes Mal für die kreativen Steuervermeidungsmodelle der Pharmariesen. 

Der offizielle Grund für die ausufernde Heimlichtuerei in der Causa von der Leyen / Pfizer war der „Schutz der Geschäftsgeheimnisse von Pfizer“ – der offenbar höher eingestuft wurde als das Recht auf Information der Bürgerinnen und Bürger der EU, etwas über den Verbleib der europäischen Milliarden zu erfahren. Doch der Datenschutz ist nur vorgeschoben: Schließlich sind inzwischen einige „schützenswerte Geheimnisse“ längst in den Geschäftsberichten von Pfizer zu besichtigen. 

Es passt in dieses Bild der groß angelegten Verschleierung, dass von der Leyen vorsorglich zumindest einen Teil des SMS-Austauschs mit dem Pfizer-Chef Albert Bourla gelöscht hat. Ob das als Vernichtung von Beweismitteln strafrechtlich verfolgt werden kann, ist juristisch umstritten. Doch die Verschleierung hat Methode. Schon einmal stand die Kommissionspräsidentin wegen ihres Umgangs mit Handydaten in der Kritik. Noch in ihrer Zeit als deutsche Verteidigungsministerin gingen Gesprächsprotokolle mit ihrem Diensthandy „verloren“. Kritiker monierten, dass dadurch Beweise in der sogenannten Berateraffäre verloren gegangen seien. Verträge in Höhe von etwa 155 Millionen Euro waren damals an private Beraterfirmen geflossen. Der Verdacht, dass die Aufträge zum Teil illegal vergeben worden waren und Vetternwirtschaft mit im Spiel war, konnte nie ganz entkräftet werden. 

Gefahr familiärer Interessenskonflikte

Und wenn wir schon auf Nebenkriegsschauplätzen sind: So hat die EU-Kommission laut „Welt“ der von Heiko von der Leyen geleiteten italienischen Niederlassung des amerikanischen Biopharma-Unternehmens Orgenesis Inc. nach einer Ausschreibung 320 Millionen Euro Fördergelder zugebilligt.  Da diese italienische Firma zum Zeitpunkt der Ausschreibung erst in Gründung war, wird darum gestritten, ob sie schon geschäftsfähig war. Fakt ist, dass Orgenesis Italia eine Beteiligung an der Stiftung Gentherapie und Arzneimittelentwicklung mit RNA-Technologie der Universität Padua erlangte. Konkret flossen 320 Millionen Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU nach Padua, und ein Teil davon – 383.000 Euro – gingen direkt weiter an Orgenesis Italia. Im Aufsichtsrat der genannten Stiftung saß damals Heiko von der Leyen, der sein Mandat zurückgab, als die parteilose italienische EU-Abgeordnete Francesca Donato die Vorsitzende des Corona-Sonderausschusses Kathleen van Bremp über „unmoralische Tätigkeiten“ Heiko von der Leyens informiert hatte.

Olivier Hoedeman von der NGO Corporate Europe Observatory, die sich für Transparenz bei Einflüssen auf die EU-Politik einsetzt, äußert gegenüber der „Welt“ Kritik am Ehemann der EU-Kommissionspräsidentin: „Die Position von Heiko von der Leyen in der Stiftung der Universität Padua zum Zeitpunkt der Fördermittelvergabe birgt die Gefahr eines Interessenkonflikts.“ Als Ehemann der Kommissionspräsidentin sei es „unklug, dass Heiko von der Leyen eine offizielle Führungsrolle in einem Projekt mit so umfangreichen EU-Mitteln übernimmt“. Im EU-Hauptquartier wollte freilich niemand einen Interessenkonflikt bemerkt haben. Die Behörde soll sogar behauptet haben, man habe nicht bemerkt, dass es sich bei Herrn von der Leyen um den Ehemann von Ursula von der Leyen gehandelt hatte. Ist auch ein Allerweltsname!

Damit nicht genug, wird Heiko von der Leyen doch auch mit anderen fragwürdigen Förderungen in Verbindung gebracht. Denn seit seiner Bestellung zum medizinischen Direktor bei Orgenesis Inc. sind im EU-Raum mindestens vier Tochtergesellschaften entstanden, die teils mit Millionenzuschüssen bedacht wurden. Die EU-Abgeordnete Donato warf in ihrem Brief jedenfalls die Frage auf, ob es bei der Vergabe von Fördergeldern an Orgenesis mit rechten Dingen zugegangen sei. Aber noch wichtiger: Sind die Tätigkeiten von Heiko von der Leyen in der Pharmaindustrie mit dem Amt seiner Frau vereinbar? Die Diskussion um die Geschäftstätigkeiten von Heiko von der Leyen sind nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) wegen der milliardenschweren Covid-19-Impfstoff-Deals der EU brisant. 

Institutionelle Intransparenz

Im deutschen Blätterwald rauscht es normalerweise kräftig, wenn Affären ohne größere Mühen in Schwarz und Weiß dargestellt werden können und die nicht beteiligten politischen Parteien nur genügend Wirbel machen. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass der Bevölkerung Namen von Staatssekretären geläufiger sind als die von Regierungsmitgliedern. Im vorliegenden Fall aber verwundert die vornehme Zurückhaltung deutscher Medien aber schon, geht es doch mit Ursula von der Leyen erstens um eine 1-A-Prominente und zweitens um sehr viel Geld. 

Zuletzt kritisierte der fraktionslose EU-Abgeordnete Martin Sonneborn Ursula von der Leyen und sagte an die EU-Kommissionspräsidentin gerichtet: „Wussten Sie, dass wegen Ihrer gelöschten Pfizer-SMS mittlerweile nicht nur Ihre Kommission von der New York Times verklagt wird, sondern auch Sie persönlich? (…) Beschuldigt werden Sie wegen Amtsanmaßung und Titelmissbrauch, Vernichtung öffentlicher Dokumente und Korruption. Während jedes Käseblatt in Deutschland vom Spiegel bis zur FAZ über Ihr dahingeschiedenes Pony berichtet hat, interessiert sich niemand dafür, dass sogar die Europäische Staatsanwaltschaft gegen Sie ermittelt.“ 

Vielleicht liegt es an der institutionellen Intransparenz in diesem Fall, dass sich die Medien mit der Berichterstattung so schwertun. Wir wollen dennoch versuchen, einen möglichst umfassenden Überblick zu geben, schließlich geht es um ein geschätztes Vertragsvolumen von mindestens 35 Milliarden Euro aus Steuergeldern. 

Mehr als zwei Jahre nach den in Frage stehenden Vertragsabschlüssen kommt die weitere Aufrechterhaltung dieser institutionellen Intransparenz allmählich einem Akt böswilliger politischer Behinderung gleich, einer „Obstruktion“, so die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly, die es in höchstem Maße „verwirrend“ findet, dass von der Leyen sich immer noch weigert, auf die zahllosen Beschwerden und Klagen unter anderem von der „New York Times“ auch nur einzugehen. Die renommierte Zeitung moniert, dass ihrem Reporter der Inhalt des SMS-Austauschs mit Pfizer nicht offenbart wurde, obwohl die Grundrechte-Charta der EU eindeutig das Recht jedes EU-Bürgers festschreibt, jedes offizielle Dokument der EU einzusehen, und zwar „gleich auf welchem Medium“, was auch SMS einschlieβt.

Wie schwer Transparenz herzustellen ist, schildert folgender Fall: Der österreichische Journalist Alexander Fanta verlangte Einsicht in den Schriftwechsel und berief sich dabei auf das Informationsfreiheitsgesetz der EU, das einen bedingungslosen Zugang zu amtlichen Informationen garantiert. Doch Fanta blitzte ab. Man besitze die Korrespondenz nicht, hieß es vonseiten der Kommission. SMS und andere Kurznachrichten seien „von Natur aus“ kurzlebig. Formelle Entscheidungen oder verbindliche Zusagen würden über Textnachrichten nicht getroffen. Und überhaupt gebe es, anders als bei E-Mails, gar kein technisches System, das es erlaube, Kurznachrichten zu archivieren. Eine solche Dokumentenerfassung sei also „prinzipiell ausgeschlossen“. 

„Misswirtschaft“ in der EU-Kommission

Das kann man auch anders sehen. So veröffentlichte die EU-Ombudsfrau O’Reilly einen Untersuchungsbericht über die angeblich unauffindbaren Nachrichten. Darin geht O’Reilly mit von der Leyen und der Kommission scharf ins Gericht: „Nicht alle Textnachrichten müssen registriert werden, aber sie fallen eindeutig unter das EU-Transparenzgesetz.“ Gehe es um das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu EU-Dokumenten, dann seien nicht das Gerät oder die Form des Dokuments, sondern der Inhalt ausschlaggebend, stellt die Irin klar.

Unerträglich findet die Bürgerbeauftragte auch, dass die Kommission das Kabinett der Präsidentin erst gar nicht gebeten habe, nach Textnachrichten zu suchen. Stattdessen sei von der Leyens Kabinett nur aufgefordert worden, nach Dokumenten zu suchen, welche den „internen Registrierungs-Kriterien der Kommission“ entsprächen – wozu SMS und andere Kurznachrichten nicht gehörten. Hier liege ein klarer Fall von „Misswirtschaft“ in der Kommission vor. 

Die ganze Geheimniskrämerei um den Milliardendeal hat den belgischen Lobbyisten Frédéric Balda mit Schwerpunkt chinesisch-europäische Handelsbeziehungen dazu veranlasst, beim erstinstanzlichen Gericht in Lüttich und damit einem unabhängigen Strafgericht Klage einzureichen: „Jeder, der die Gesetze kennt, sieht doch, dass Ursula von der Leyen vor aller Augen die Transparenzregeln der EU verletzt.“ Balsa ist der Ansicht, dass die mutmaßlichen Verstöße der Kommissionspräsidentin „die öffentlichen Finanzen seines Landes und das öffentliche Vertrauen untergraben haben“. Da muss sich gehörig Frust aufgestaut haben, schließlich ist Baldans beruflicher Erfolg von der Akkreditierung bei den EU-Institutionen abhängig. 

Baldan wirft von der Leyen die Straftatbestände der Aneignung von Funktionen, der Vernichtung öffentlicher Urkunden sowie Kompetenzüberschreitung und Korruption vor. Sie sei nicht autorisiert gewesen, mit Pfizer zu verhandeln, weil sie nicht Mitglied der dafür zuständigen Steuerungsgruppe gewesen sei. Mit seiner Klage in Lüttich glaubt er nun, die Immunität von der Leyens aufheben zu können, um so endlich Einsicht in die begehrten Unterlagen zu bekommen. Baldan und seine Anwältin Diane Protat argumentieren: Wenn von der Leyen die Nachrichten nicht herausgeben wolle, sei das in Belgien strafbar, sofern sie als offizielle Dokumente gewertet werden. Aktuell wartet der zuständige Ermittlungsrichter in Lüttich noch auf Antwort der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg.

Unterdessen steigt auch innerhalb des EU-Apparates der Druck auf von der Leyen. Die Europaabgeordnete Michèle Rivasi (Grüne/EFA) schrieb in Anlehnung an den Watergate-Skandal auf Twitter: „SMSgate nimmt eine kriminelle Wendung. Die Präsidentin der Europäischen Kommission wird der ‚widerrechtlichen Aneignung von Funktionen und Titeln‘, der ‚Vernichtung von öffentlichen Dokumenten‘ und der ‚illegalen Interessenwahrnehmung und Korruption‘ beschuldigt. Die laufenden Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft sind zu verfolgen.“ 

Um was geht es?

Es geht um Milliarden-Deals, die im Februar 2021 von der Leyen direkt mit Pfizer-Chef Albert Bourla verhandelt hat, mutmaßlich getrieben vom öffentlichen Druck wegen der bis dato stockenden Beschaffung rettender Vakzine in der EU. Der Europäische Rechnungshof schreibt in seinem Sonderbericht von „Vorverhandlungen“ und: „Dies war der einzige Vertrag, bei dem das gemeinsame Verhandlungsteam entgegen dem Beschluss der Kommission über die Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen nicht in diese Verhandlungsphase einbezogen wurde.“

Foto: Tim Reckmann / pixelio

Es geht außerdem um den Verdacht, dass von der Leyen und Bourla über Textnachrichten direkt eine Vertragsverlängerung über die Lieferung zusätzliche Dosen an EU-Länder ausgehandelt haben. Das Geschäft war von spektakulärem Umfang, sowohl hinsichtlich seiner Menge – 1,8 Milliarden (!) Corona-Impfstoff-Dosen sollen bis 2023 zugeliefert werden – als auch hinsichtlich seines finanziellen Umfangs: Er kostet die Steuerzahler sage und schreibe 35 Milliarden Euro. Nun haben viele EU-Länder Probleme mit der Bezahlung, sondern auch mit der viel zu großen Bestellung. Denn niemand benötigt heute die Unmengen an Impfdosen, die die EU geordert hat. Bis zu 4,62 Milliarden Dosen sollen es laut Europäischem Rechnungshof mittlerweile sein – macht bis zu zehn Dosen für jeden Bürger! Verbraucht aber wurden bisher nur knapp 1 Milliarde. Und die Nachfrage stagniert seit Monaten. Abermillionen Dosen müssen entweder vernichtet oder an andere Länder verschenkt werden, wodurch die öffentlichen Haushalte zusätzlich belastet werden. 

Nebenbei half die EU-Kommission Pfizer, Alternativen vom Markt zu verdrängen – ein offener Verstoß gegen das ansonsten mit Argusaugen gehütete EU-Wettbewerbsrecht. Trotz hoher Nachfrage wurde ein Bestellauftrag von Valneva-Totimpfstoffen storniert, während sich Pfizers Umsatz verdoppelte. Letztlich sollen sowohl Herstellerhaftung als auch (spätere) Vertragsanpassungen und Ausstiegsklauseln weitestgehend ausgeschlossen worden sein. 

Höhere Preise statt Rabatt

Zu diesem „megawürdigen“ Deal passt, dass der Preis pro Biontech-Impfdosis von zuvor 15,50 Euro auf 19,50 Euro kletterte. Das wissen wir vom ehemaligen bulgarische Premier Boyko Borrisov, der sich über die Teuerung so aufregte, dass er diese Info nicht mehr hinter dem Berg halten wollte. Die Verbraucherorganisation SumOfUs in Washington wirft Ursula von der Leyen vor, in persönlichen Gesprächen mit Albert Bourla dieser kräftigen Preiserhöhung zugestimmt zu haben, obwohl bei der enormen Menge eigentlich ein Rabatt naheliegend gewesen wäre.

Wer glaubt, ungeschickter ließe sich nicht verhandeln, den lehren die Recherchen des Politmagazins „Jacobin“ eines Besseren. Die Amerikaner mit deutschem Ableger stützen sich auf Berichte der britischen „Financial Times“ und der Nachrichtenagentur „Reuters“ zum Zwischenergebnis der Nachverhandlungen von EU-Kommission und Pfizer, Stand Ende Mai 2023. Wenn deren Berichte zutreffen, dann schlägt die Kommission vor, die Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro durch eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro zu ersetzen. Hä?

Ratlosigkeit allerorten. Außer bei der EU-Kommission, die wieder hinter verschlossenen Türen und unter Umgehung ihrer Rechenschaftspflicht über die Verwendung von EU-Geldern zum EU-weiten Ankauf von Produkten eines einzigen US-Herstellers entscheidet. Laut „Jacobin“ geht es um die „Anpassung“ des gigantischen (dritten) von-der-Leyen-Pfizer-Vertrages, mit dem die Kommission sich zur Abnahme von 900 Millionen Dosen bis Ende 2023 verbindlich verpflichtet hat. Etwa 400 Millionen dieser Einheiten wurden bereits geliefert, die restlichen 500 Millionen müssen in diesem Jahr von den EU-Mitgliedern noch abgenommen werden.“ Das Problem: Die Nachfrage ist praktisch zum Stillstand gekommen, die Lager aus allen Nähten platzen und alle Verfallsdaten verstreichen allmählich. 

Schon lange versuchen die Mitgliedsstaaten nun schon, sich aus ihrem Vertragsschicksal herauszuwinden, bitten um Preisnachlass, bieten die Abnahme alternativer Pillen an oder schicken die Sendungen à la Amazon-Retouren zurück. 

Doch alle Kreativität hilft nichts. Pfizer besteht auf die Einhaltung des Vertrags, wonach für die 500 Millionen Dosen jeweils 20 Euro, also in Summe 10 Milliarden Euro fällig werden. Der „Financial Times“zufolge sieht der nachverhandelte Vertrag nun vor, die abzunehmende Impfstoffmenge von 500 Millionen Einheiten auf insgesamt 280 Millionen zu reduzieren. Abgenommen werden sollen künftig 70 Millionen Dosen pro Jahr bei gleichzeitiger Streckung des Lieferzeitraums bis 2026. Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine „Stornogebühr“ von 10 Euro pro Dosis zu streichen – aber nur, wenn die EU im Gegenzug einen höheren Preis für die bis 2026 zu liefernden Dosen akzeptiere. Bei 220 Millionen Dosen Abweichung vom ursprünglich vereinbarten Volumen macht das 2,2 Milliarden Euro – für eine nicht zu erbringende Leistung!

„Money for nothing“

„Jacobin“ zitiert hierzu Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides wie folgt: Man habe neben dieser „erheblichen Verringerung der Dosen“ (für eine „Stornogebühr“ von 2,2 Milliarden Euro) auch die „Verlängerung unseres Vertrags bis weit über das Jahr 2023 hinaus erreicht“. Eine solche Stellungnahme ist nur möglich nach den nur schwer vermeidbaren Verirrungen im institutionellen EU-Gestrüpp. „Wir rechnen nach: Für viermal jeweils 70 Millionen Dosen bis 2026 und einem Preis von jeweils 20 Euro wären zusätzlich zu den 2,2 Milliarden weitere 5,6 Milliarden Euro fällig. Da Pfizer aber mit einem „angepassten“ höheren Preis rechnet und aktuell in den USA mindestens 100 Euro pro Dosis verlangt werden, können im schlimmsten Fall auch zusätzlich 28 Milliarden Euro fällig sein. Damit ersetzt sie eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro durch eine in Höhe von (mindestens) 10 Milliarden Euro – für 44 Prozent weniger Ware´!

Weil „Money for nothing“ ein irrer Deal ist, haben sich Polen, Bulgarien, Ungarn und Litauen lange geweigert, den angeblich verbesserten Vertrag zu unterzeichnen. Und auch Österreich scheint noch Fragen zu haben. Zumal auch der neue Deal einer Monopolstellung von Pfizer in der EU gleichkäme. Allerdings, und das gehört auch zur Wahrheit: Laut „Financial Times“ liegen bereits heute 90 Prozent der Konkurrenzprodukte ungenutzt in europäischen Lagerhallen – oder sie wurden bereits vernichtet. „Wenn BioNTech/Pfizer in den nächsten Jahren etwa 70 Millionen Dosen pro Jahr liefern, ist das so ziemlich der gesamte Markt!“, wird „eine mit den Verhandlungen vertraute Person“ in der FT zitiert. Das ist nicht nur ein erneuter Verstoß gegen das EU-weit heilige Wettbewerbsprinzip, sondern steht auch in krassem Gegensatz zum Gebot der Diversifizierung, das für die EU-Beschaffungspolitik nicht weniger gilt als für ihr Gesundheitsportfolio. 

Unter anderem die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Kathrin Vogler, beschäftigt sich mit den Nachverhandlungen. In einem Interview kritisierte die Linken-Politikerin die Vorgänge scharf. Dass wertvolle Impfstoffe verfielen und Pfizer zugleich weitere Milliarden Euro kassiere, sei das Ergebnis einer Politik, „die sich statt am Gemeinwohl konsequent an den Profitinteressen der Pharmaindustrie orientiert“. Damit ist die Affäre auf den Punkt gebracht. 


Titelbild: Wegen eines umstrittenen mindestens 35 Milliarden Euro schweren Impfdeals mit Pfizer steht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unter Druck. Mittlerweile ermittelt die Europäische Staatsanwaltschaft. Foto:  Etienne Ansotte / European Union

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