– Eine ungewöhnliche Gewerkschaft in Argentinien organisiert informelle Arbeit in der Schattenwirtschaft und hat wachsende Bedeutung –
Informelle Arbeit stellt keinen neuen Begriff dar. Er ist eher eine Rückbesinnung auf alte Werte, als Arbeit nicht mit dem Ziel nach Bezahlung beziehungsweise Entlohnung gleichzusetzen war. Der Begriff umfasst ein sehr breites Spektrum von Tätigkeiten. In Abgrenzung zur formellen Erwerbsarbeit sind unter informeller Arbeit produktive Tätigkeiten zu verstehen für die kein Lohn gezahlt wird und/oder für die keine Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden. Darunter fallen beispielsweise in unserer unmittelbaren Wahrnehmung auch ehrenamtliche Tätigkeiten, informelle Hilfeleistungen und Pflegetätigkeiten. Um diese Art von bürgerlichem Engagement geht es in diesem Artikel aber nicht. Vielmehr liegt der Fokus auf informeller Arbeit als Haupterwerbstätigkeit, einem weltweiten Phänomen, vor allem in den unterentwickelten Volkswirtschaften.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD schätzt den Anteil informeller Arbeit am Wirtschaftsergebnis außerhalb des Agrarsektors in Entwicklungsländern und Übergangsökonomien wie Argentinien und Brasilien in einer Spanne von 30 bis 70 Prozent, in einigen Ländern sogar auf 90 Prozent und mehr. Die internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass weltweit etwa zwei Milliarden Menschen ohne Arbeitsvertrag und offizielle Registrierung erwerbstätig sind. In den entwickelten Volkswirtschaften hat die informelle Wirtschaft nach diesen Schätzungen immer noch einen Anteil von mehr als zehn Prozent der Wirtschaftsleistung, auch hier mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Die Europäische Union schätzt, dass in Deutschland mehr als 13 Prozent der Wirtschaftsleistung im informellen Sektor generiert wird. In Griechenland sind es demnach gut 18 Prozent, in Italien knapp 22 Prozent, die außerhalb des Steuersystems und der Regulierungen durch Arbeitsrecht, kollektive Tarifvereinbarungen und Arbeitsstättenverordnungen erwirtschaftet werden. Unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Pflege ist dabei nicht mitgerechnet.
“Is informal normal?” titelte die OECD im Jahr 2009 eine Veröffentlichung zur Analyse der Entwicklung informeller Wirtschaft[1]. Damals wie heute muss man das für einen großen Teil der Weltwirtschaft klar mit “Ja” beantworten.
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass ein hoher Anteil der informellen Wirtschaft ein Übergangsphänomen im langfristigen Prozess der Modernisierung ist, ein Ausdruck schwacher staatlicher Institutionen, fehlender Großunternehmen mit internationalen Verbindungen und nicht funktionierender Arbeitsmärkte. Modernisierung und Wachstum dagegen würden die informellen Strukturen überflüssig machen, sie allmählich verdrängen und in die Formalstrukturen überführen, die moderne Organisationen und Wirtschaftsbeziehungen ausmachen. Informalität wäre dann eine Übergangsphase in der Entwicklung von Gesellschaften. Von Ökonomen wird sie dagegen als Ausweichreaktion gedeutet, wenn Überregulierung, zu hohe Steuern oder zu hohe Arbeitskosten das Wirtschaften in den formal korrekten Wegen erschweren und Anreize schaffen, die Wertschöpfung in die Schattenwirtschaft zu verlagern.
In der Tat sind, nach allem, was man dazu weiß, Unterentwicklung, aber auch Schocks durch Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen Faktoren, die den informellen Sektor wachsen lassen. Der formelle Sektor kann das Überleben nicht sichern, also suchen sich die Menschen Auswege und Umwege und sind dabei durchaus kreativ, zuweilen auch erfolgreich.


Es gibt aber auch viele Hinweise, dass in bestimmten Situationen die formelle Ökonomie mit dem informellen Sektor bedeutende Austauschbeziehungen entwickelt, die den Übergang vom informellen in den formellen Bereich bremsen oder gar konterkarieren. Multinationale Konzerne können Kosten senken, wenn sie mit Zulieferern aus dem informellen Sektor zusammenarbeiten und Arbeiten nicht durch eigene Mitarbeiter, sondern durch Heerscharen informeller Arbeiter in modernen Varianten des schon von Karl Marx beschriebenen Verlagssystems und in Sweatshops mit frühindustriellen Arbeitsbedingungen erledigen lassen. Diese mögen zwar, weil weniger kapitalintensiv und auf kleinsten Größenordnungen arbeitend, unproduktiver sein. Der Arbitragegewinn aus Steuervermeidung, fehlendem Arbeitsschutz und selbstausbeuterischen Arbeitsbedingungen macht die damit verbundenen Kostenvorteile aber mehr als wett, so dass sich daraus stabile Mischsysteme von formeller und informeller Ökonomie herausbilden können.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) betrachtet die anhaltende Bedeutung der informellen Ökonomie als eine der größten Herausforderungen bei Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. In ihrer inzwischen berühmten „Empfehlung 204“ beschreibt sie, wie informelle Arbeit Schritt für Schritt in die formale Strukturen überführt werden kann, ist sich dabei aber auch sehr bewusst, dass die informelle Wirtschaft noch immer für das Überleben sehr großer Bevölkerungsgruppen unverzichtbar ist, also nicht gedankenlose wegreguliert werden kann.
In Argentinien haben sich mit einer Serie von Wirtschafts- und Finanzkrisen, staatlichem Missmanagement und dem Niedergang des peronistischen Systems der wirtschaftlichen und sozialen Regulierung Bedingungen herausgebildet, in denen der formelle Wirtschaftssektor nur für einen immer kleineren Teil der Arbeitsbevölkerung Jobs bereitstellte. Zugleich wurden im Zuge neoliberaler Reformen sozialer Sicherungssysteme geschwächt oder sie konnten gar nicht erst als Krisenbewältigungsmechanismus entstehen. Und so entstand in diesem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch durchaus wohlhabenden Land eine Konstellation, die man in einem gewissen Umfang auch in einigen europäischen Ländern kannte. Ein immer kleinerer formeller Sektor der Privatwirtschaft bietet für die dort beschäftigten und in teilweise durchaus konfliktstarken Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmern noch halbwegs akzeptable Arbeitsbedingungen und sichere Arbeitsplätze. Der Staatssektor ist finanziell als Auffangbecken für den Arbeitsmarkt überfordert und schottet sich dort, wo es starke Gewerkschaften gibt, nach außen ab. Der wachsende Rest der Bevölkerung muss sehen, wo er bleibt.
Paradoxerweise gibt es in Argentinien mit zuletzt sechs Prozent eine für europäische Verhältnisse nur sehr moderate offizielle Arbeitslosigkeit. Aber das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es aufgrund des Fehlens einer leistungsfähigen Arbeitslosenversicherung und nur schwacher Vermittlungsleistungen der Arbeitsverwaltung für die meisten kaum lohnt, sich als arbeitslos registrieren zu lassen. Um über die Runden zu kommen, muss jeder irgendetwas tun, um an Geld zum Überleben und Zugang zu existentiellen Ressourcen zu kommen. Das lässt den informellen Sektor wachsen, der inzwischen nach Schätzungen von OECD, Weltbank und ILO zwischen 20 und über 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes generiert.
Gegenentwurf zur herrschenden Wirtschaftsform
Diese Entwicklung hat eine bemerkenswerte Dynamik sozialer Selbstorganisation ausgelöst, zwar aus großer Not geboren, aber doch auch versehen mit Zügen einer selbstbewussten Profilierung als Modus der Problemlösung dort, wo die etablierten Kräfte des peronistischen Korporatismus versagt haben. Schon der Name, dem man diesem Phänomen gegeben hat, “Economia Popular” (Ökonomie des Volkes), zeigt, dass man die informelle Wirtschaft durchaus nicht nur als pathologischen Auswuchs einer degenerierten kapitalistischen Produktionsweise sieht, sondern auch als Raum erfolgreicher Selbstorganisation und Selbsthilfe, die in mancher Hinsicht als Gegenentwurf zur herrschenden Wirtschaftsform und als Ausgangspunkt neuer Formen des Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung und soziale Rechte angesehen wird[2].
Ein Ausdruck einer gewissen Normalisierung von Informalität ist nicht zuletzt die Gründung einer Gewerkschaft, Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular (UTEP), Ende des Jahres 2019, als Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen und sozialen Bewegungen, die in Reaktion auf den argentinischen Staatsbankrott in den Jahren 2001 und 2002 entstanden waren.
Eine Gewerkschaft zur Organisation informeller Arbeit – ist das nicht so etwas ein hölzernes Eisen? Schließlich ist es immer ein Kernanliegen der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften gewesen, rechtlich bindende kollektive Vereinbarungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen zu erstreiten, soziale Schutzrechte zu erkämpfen und den rechtlichen Rahmen für Arbeit und Wirtschaft zu verteidigen. In der informellen Ökonomie dagegen mag es eine Fülle von wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Machtbeziehungen geben, aber es gibt keine Arbeitgeber, mit denen man irgend etwas verhandeln könnte, schon gar nicht mit dem Ziel rechtlich bindender Vereinbarungen. Und Streiks kann man sich im informellen Sektor auch nicht so richtig vorstellen. Wie funktioniert der Kampf der UTEP?
Die Antwort gibt Marina Cardelli im Interview mit dem Autor. Die hauptberufliche Dozentin an der Universität Buenos Aires, ehren- und nebenamtliche Aktivistin und Sekretärin für internationale Beziehungen im Movimiento Evita, einer Basisorganisation der UTEP, war im März 2025 im Rahmen des vom EU-Forschungsprogramm HORIZON geförderten Projekts INSEAI für vier Wochen Gast der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (GEWAK) und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Für sie geht der Kampf der UTEP in zwei Richtungen. Zum einen bleibt es ein Ziel, die im formellen Sektor erkämpften Schutzrechte auch auf den informellen Sektor auszudehnen und so die informelle Arbeit und Wirtschaft Schritt für Schritt in das reguläre System zu integrieren, was aber angesichts der realen Verhältnisse in Argentinien allenfalls ein Langfristperspektive sein kann. Kurz- und mittelfristig müsse es darum gehen, die Situation der in der Economia Popular arbeitenden Menschen zu verbessern. Da kann es darum gehen, ergänzend zum meist sehr geringen Arbeitseinkommen soziale Unterstützungsleistungen durch den Staat zu erkämpfen, Gesundheitsdienste zur Verfügung zu stellen, den Gewerben des informellen Sektors einem gewissen rechtlichen Schutz zu sichern, etwa Straßenverkäufern, Volksküchen oder den sogenannten “Cartoneros”, den Menschen, die Müll sammeln und verwerten, von denen es allein Buenos Aires über 10.000 geben soll. Man könne zwar nicht streiken, wie traditionelle Gewerkschaften. Aber man habe inzwischen eine große Mobilisierungskraft aufgebaut. Wenn 300.000 Menschen für die Rechte der informellen Arbeiter demonstrieren, habe sich das durchaus als wirksam erwiesen und der Regierung immer wieder Zugeständnisse abgetrotzt.
Gleichzeitig sieht Cardelli in der Economia Popular aber auch so etwas wie ein Gegenmodell zur kapitalistischen Wirtschaft, in dem die Selbstorganisation von Arbeit und des Zusammenlebens, solidarische Netzwerke der Kooperation und der Inklusion benachteiligter Bevölkerungsgruppen erfolgreich erprobt und realisiert worden seien. Die Economia Popular habe der informellen Wirtschaft einen großen sozialen Eigenwert gegeben, der gesellschaftlich anerkannt werden müsse und nicht aufgegeben werden dürfe. “Wir sind ein Labor des demokratischen Wandels”, sagt Marina Cardelli. Angesichts des raschen und dramatischen Wandels der Wirtschaft und der Arbeitswelt mit seiner Dynamik des Wachstums von Ungleichheit und Prekarität sei die UTEP mit ihrem Verständnis sozialer Kämpfe und sozialer Mobilisierung sowie mit ihrer Gestaltungskompetenz in den vermeintlichen Randbereichen der Gesellschaft den traditionellen Gewerkschaften durchaus in mancher Hinsicht voraus. Möglicherweise gibt es auch für die wohlorganisierten und starken Gewerkschaften in Deutschland hier noch etwas zu lernen.
Nützliche Quellen zur Vertiefung des Themas:
Is Informal Normal? Towards More and Better Jobs in Developing Countries, Paris 2009: OECD;
World Bank: Growing in the Shadow. Challenges of Informality, in: Global Economic Prospects 2019, pp. 127-195;
The Long Shadow of Informality. Changes and Policies, Washington 2022: The World Bank Group
Zur Economia Popular und zur UTEP in Argentinien:
In Deutschland werden ordnungspolitisch leider die informell erworbenen Kompetenzen nicht anerkannt, obwohl sie einen großen Mehrwert bei einer Integration in den Arbeitmarkt für die Gesellschaft hätten. Leider geht der Autor darauf nicht ein, obwohl er dafür eigentlich die Professionalität besitzt.