Die Anklage ist „Bild“-typisch schrill und bedient des Volkes Seele: „Warum macht ihr nicht, was das Volk will?“, lautet eine Schlagzeile nach der Wahlschlappe der Ampel-Parteien. Die Stoßrichtung ist klar. Die Regierung solle endlich eine andere Asyl- und Migrationspolitik machen, gleiches gelte für Wirtschafts- und Klimapolitik. Und schließlich – das darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen – gehe das Gendern einer Mehrheit nur noch auf die Nerven. Volkes Wille werde stur ignoriert, klagt „Bild“. Unterm groben Raster stimmt das schon, zeigen die Wahlergebnisse in Hessen und Bayern doch eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Kurs der Regierung, speziell in Migrationsfragen. Doch was ist Volkes Wille konkret über den pauschalen Wunsch einer Eindämmung von Einwanderung hinaus? Die Richtung ist klar, der Rest ist die Arbeit am Detail in einer auf Kompromissen des gesellschaftlichen Diskurses aufbauenden repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Alle Anläufe zum Umbau in eine parlamentarisch-plebiszitäre Variante sind gescheitert. Bisher gibt es nur eine Ergänzung durch reglementierte plebiszitäre Komponenten bis hin zum Volksentscheid.
Ein Mehr an direkten Beteiligungsformen wird von den Bürgern in Umfragen immer befürwortet. Doch wenn direkte Beteiligungsformen – wie Direktwahlen von Stadtoberhäuptern, Volksabstimmungen oder Partizipationsangebote bei Planungsmaßnahmen – angeboten werden, macht nur eine Minderheit davon Gebrauch. Die Bürger wollen in Wirklichkeit von den Politikern nicht mit Entscheidungen behelligt werden, für die sie eigentlich die Politiker gewählt haben. Es besteht überdies die Gefahr, dass durch plebiszitäre Elemente Partikularinteressen über eine wirksame Inszenierung als Interessen der Mehrheit interpretiert werden (siehe Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“) und so einen so großen Einfluss auf Entscheidungen erlangen, dass der Frust und die Wut der Mehrheit der Bürger über die politischen Akteure weiter erhöht wird.
Klientel-Politik
An sich gut gemeinte Partizipationsangebote bewirken somit oft das Gegenteil dessen, was sie eigentlich sollen, nämlich den Bürgern eine Möglichkeit zu bieten, ihre Interessen entsprechend einzubringen. Da sich aber an vielen der heute angebotenen Partizipationsmöglichkeiten eher Randgruppen und Minoritäten beteiligen, die keinen Querschnitt aller Bevölkerungsgruppen darstellen, trifft die Politik (vor allem auf kommunaler Ebene) oft Entscheidungen, die nur einer bestimmten Klientel, nicht aber den Interessen der Mehrheit dienen. Das verstärkt den Frust vieler Bürger über die Politik. Auf politischer Ebene reagieren sie dann mit immer größerer Wahlabstinenz. Abgebaut werden kann dieser Unmut nicht mit Hilfe von noch mehr plebiszitären Angeboten, sondern nur dadurch, dass die politischen Akteure sich Informationen über die Probleme, Sorgen, Nöte, Ängste und Interessen der Mehrheit aller Bürger beschaffen und diese auch in ihre politischen Entscheidungen einfließen lassen.
Als gesichert gilt, dass die parlamentarische Demokratie der Ja-Nein-Demokratie deshalb überlegen ist, weil mehrheitsfähige Interessen oder Emotionen nicht immer identisch sind mit der besten Lösung für das Land. Und es gibt Mehrheitsinteressen, die noch verbessert werden können und sollen, indem auch Expertenwissen oder Minderheitsvoten in einem parlamentarischen Prozess einfließen. Und schon gar nicht gibt es akzeptable Resultate, wenn sich eine Mehrheit ohne Regeln und nach dem Prinzip der lautesten Stimme bildet. Demokratie bedeutet nicht etwa Diktatur der Mehrheit, sondern einen ständigen Kompromiss zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen des Landes.
Denen, die behaupten, den Willen des sogenannten wahren Volkes zu vertreten, sei gesagt: Das „wahre Volk“ hat in wahren – nämlich freien, gleichen und geheimen – Wahlen seine Repräsentanten legitimiert. Sie sind die Vertreter unterschiedlicher politischer Richtungen. Sind die Bürger mit deren Arbeit unzufrieden, dann können ihre Stimme bei den nächsten Wahlen anderweitig vergeben. Es hindert sie auch niemand daran, in der öffentlichen Debatte ihre Stimmen zu erheben, um zwischen den Wahlterminen Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf Regierungs- und Parlamentsentscheidungen zu nehmen. Außerdem: Der politische Alltag beweist auch: Bei wichtigen politischen Themen haben sich deutsche Gesellschaft und Politik schon mehrfach für selbstkritische Fragen geöffnet. Auch aktuell deutet sich eine Zusammenarbeit von Ampel-Parteien mit der CDU-Opposition in Asylfragen an.
Aktive Meinungspflege
„Warum macht ihr nicht, was das Volk will?“, fragt „Bild“. Nun ergibt sich öffentliche Meinung nicht automatisch aus der Addition individueller Meinungen. Sie ist nicht die statistische Anhäufung demoskopisch erhobener Bevölkerungseinstellungen. Die politische Öffentlichkeit ist nicht allein ein Querschnitt der Meinungen und Wünsche des Volkes, sondern auch ein Produkt aktiver Meinungspflege. Durch die Redaktion von Problemkomplexität werden politische Sachverhalte durch Vereinfachung nachvollziehbar und so erst entscheidungsfähig. Merke: Öffentlichkeit im Sinne von herrschender Meinung entsteht nicht einfach, sondern wird gemacht. Und sie ist aus sich heraus dynamisch, weil Bürger mit ihren Auffassungen hinterm Berg halten, wenn sie nicht dem sogenannten Meinungsklima entsprechen, umgekehrt aber zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Überzeugungen tendieren, wenn sie die Mehrheitsmeinung auf ihrer Seite sehen: Die abnehmende Meinungsfraktion erscheint schwächer als sie wirklich ist, die zunehmende hingegen als stärker.
Es wird wohl keinen Dissens darüber geben, dass der politische Meinungsbildungsprozess hochgradig politisch organisiert ist. Akteure und Institutionen des politischen Systems selbst sowie aus dem politischen Vorfeld und aus der Gesellschaft konkurrieren um Aufmerksamkeit. Alle versuchen durch politische Öffentlichkeitsarbeit die Themen und deren Deutungsrahmen der Berichterstattung zu beeinflussen. Dabei ist die Besetzung von maßgeblichen Positionen in den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten nach parteipolitischem Proporz ein viel kritisiertes Steuerungsinstrument, das politischen Einfluss sichern soll.
Zur öffentlichen Meinung werden Meinungen auch nur dann, wenn sie als herrschende Meinungen die Einschätzungen bedeutender Akteure oder Institutionen zu gesellschaftlich relevanten Fragen bestimmen und in den Massenmedien ihren Niederschlag finden. Insgesamt führt verschärfter Wettbewerb um Leser, Hörer, Zuschauer und Internetnutzer dazu, dass sich die Medien von den politischen Akteuren entfernen und sich verstärkt am Publikum orientieren. Eine unmittelbare Folge der zunehmenden Ökonomisierung des Medienmarktes ist allerdings auch, dass die Zugänge zu den Medien für nicht etablierte Akteure erleichtert werden. So stehen auch politische Akteure in einer verschärften Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Der daraus resultierende Zwang zur Professionalisierung und Ausweitung politischer Öffentlichkeitsarbeit korrespondiert dabei zugleich mit einer wachsenden Unsicherheit über den Erfolg des gesteigerten Aufwandes, zumal auf Seiten der Journalisten die Professionalität wegen wachsender Kommerzialisierungs- und Konzentrationsprozesse leidet.
Trotz fortschreitender Medienkonzentration, Auflagenrückgang und zunehmender Verflechtung von Print- und elektronischen Medien repräsentieren die überregionalen Tageszeitungen und großen Wochenzeitungen zusammen mit den politischen TV-Magazinen noch weithin das politische Meinungsspektrum in Deutschland. Im Hinblick auf Themensetzung, Meinungsmache und politische Mobilisierung haben allerdings Boulevardmedien an Bedeutung gewonnen. Immer mehr Einfluss nimmt das Internet. Es liefert als Medium und Plattform – und unter Umgehung des professionellen Journalismus – prinzipiell jedermann die Chance, mit geringen Mitteln in den klassischen Medien Themen zu setzen und damit große publizistische Wirkung zu erzeugen. Nicht selten entsteht so eine Art parallele Öffentlichkeit, in der ein entsprechend vernetztes Teilpublikum wie in einer Art Filterblase mit Informationen versorgt wird und sich damit dem kritischen Diskurs einer öffentlichen Meinungsbildung entziehen kann.
Aktiv um Zustimmung werben
Demokratisches Handeln bedarf der ständigen Rückkoppelung mit den Meinungen der Bürger. Politik kann jedoch nicht nur Meinungen beobachten und eventuell exekutieren. Denn politische Führungskompetenz erschöpft sich nicht in Kommunikation und schon gar nicht im Surfen auf den Wellen des jeweiligen Meinungsklimas. Demokratische Politik im repräsentativen System bedeutet auch, für einen hypothetischen Volkswillen, um Zustimmung zu kämpfen und nicht selten gegen den aktuellen empirischen Volkswillen zu entscheiden. Die freie Meinungsbildung in der repräsentativen Demokratie bietet dabei den Spielraum, dass durch politische Führung und Überzeugung aus einer ablehnenden Mehrheitsmeinung eine mehrheitlich zustimmende öffentliche Meinung werden kann.
Allerdings gilt auch: Auf Dauer ist politisches Handeln in der Demokratie gegen die öffentliche Meinung nicht ungestraft möglich. Dabei ergibt sich das Dilemma, dass für die Lösung der zentralen innerstaatlichen und globalen Herausforderungen auch schmerzhafte Einschnitte in individuelle und gesellschaftliche Besitzstände und Ansprüche notwendig sind. Demokratische Politik wird deshalb nur zukunftsfähig sein können, wenn sie nicht reaktiv an demoskopischen Momentaufnahmen ausgerichtet ist, sondern aktiv die Meinungsbildung vorantreibt und um die Zustimmung der Öffentlichkeit durch die Überzeugungskraft von Lösungsansätzen für die großen Herausforderungen der Zeit wirbt. Dazu ist kommunikative Kompetenz im Sinne politischer Führungskompetenz nötig, also die Steuerung der Meinungsbildung nach außen und die Durchsetzung von sach-, personen- und situationsspezifischen Positionen nach innen.
Quelle u.a.: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021., Beitrag von Ulrich Sarcinelli
Fotos: Stephan Bratek / Alexander Hauk, beide pixelio.de
Auch wenn ich dem Beitrag vollumfänglich zustimme (es ist ja auch nicht mehr als die Klarstellung unserer Demokratie), müssen wir uns eingestehen, dass sich das Parlament und die Regierung zu wenig um die drängenden Notwendigkeiten in der Migrationspolitik gekümmert hat und nicht entschieden gehandelt hat. Das Sozialsystem wurde dadurch übermässig strapaziert.