– Vom Bürgergeld zur „Neuen Grundsicherung“ – Rolle rückwärts oder Schritt nach vorn? –
„Hartz 4“ bleibt ein Aufreger. Kaum im Jahr 2023 eingeführt, soll das Bürgergeld bald schon Geschichte sein, wie es CSU-Chef Markus Söder nach dem Aushandeln des Kompromisses zur Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende formulierte, so seit 2005 der offizielle Titel des Sozialgesetzbuches II (SGB II). Ebenso so vollmundig wie heute das Ende des Bürgergelds verkündet wird, hatte die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und Liberalen 2022 eine „Ende von Hartz 4“ und einen Neuaufbruch bei der Grundsicherung versprochen. Man wollte weg vom paternalistisch-bevormundenden Sozialstaat und hin zu einer Unterstützung „auf Augenhöhe“, weg von strengen Sanktionen bei Pflichtverletzungen, hin zu offen ausgehandelten Kooperationsplänen zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten, weg von „work first“, hin zu Qualifizierung und nachhaltiger Integration ins Arbeitsleben.
Genau besehen war die Bürgergeld-Reform jedoch alles andere als ein „Paradigmenwechsel“. Ja, die Grundsicherung wurde mit dem Bürgergeld großzügiger gestaltet, vor allem bei der Anrechnung von Vermögen der Leistungsberechtigten und bei den Wohnkosten. Hier hatte man Sonderregelungen aus der Corona-Krise mehr oder weniger auf Dauer gestellt. Auch hatte man den Vermittlungsvorrang abgeschafft, also die Regel, dass es bei der Förderung der Arbeitsuchenden vor allem um die schnelle Aufnahme einer Arbeit gehen soll. Stattdessen sollten Ausbildung und Qualifizierung eine größere Rolle spielen. Mit am stärksten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde seinerzeit die Lockerung der Regelungen für den Fall, dass Leistungsberechtigte ihre Pflichten zur Mitwirkung bei der Überwindung ihrer Notlage verletzen, Gesprächstermine im Jobcenter versäumen, Arbeitsangebote ablehnen oder Fördermaßnahmen verweigern. Hier hatte man beim Doppelimperativ des Gesetzes „Fördern und Fordern“ in der Tat die Gewichte verschoben. Das „Fordern“ wurde heruntergeschraubt, aber keineswegs abgeschafft. Aus „Sanktionen“ wurden „Leistungsminderungen“. Die Kürzung von Geldleistungen bei Pflichtverletzungen wurde deutlich gemildert. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber in einem Urteil vom November 2019 zwar ohnehin Änderungen im Sanktionsregime der Grundsicherung auferlegt und Kürzungen von über 30 Prozent als verfassungswidrig erklärt. Die Ampelkoalition war in der Reform allerdings deutlich über die Auflagen des Verfassungsgerichts hinausgegangen und die Möglichkeiten der Behörde zur Reaktion auf Pflichtverletzungen stärker abgeschwächt. Insgesamt blieb Grundkonzeption der Grundsicherungsleistung bei der Bürgergeld-Reform jedoch erhalten. Eine fundamentale Neuausrichtung brachte sie nicht.

Die zum Bürgergeld umfirmierte Grundsicherung war Anfang 2023 in Kraft getreten, in einigen Teilen sogar erst Mitte dieses Jahres. Nach nicht einmal zwei Jahren ist es eigentlich zu früh für ein abschließendes Urteil über Erfolg oder Misserfolg der Bürgergeld-Reform. In der Praxis erkennbar waren Schwierigkeiten der Jobcenter bei der Förderung der Leistungsberechtigten. So wurde vielfach davon berichtet, dass 50 Prozent der Gespräche mit den Arbeitsuchenden ausfielen, weil diese wohl aufgrund der neuen lockeren Kürzungsregeln nicht zum Termin erschienen. Auch wurden Fördermaßnahmen heruntergeschraubt. Die Integration in den Arbeitsmarkt ging zurück. Ob das eine Wirkung der Bürgergeld-Reform oder einer sich seit 2023 eintrübenden Konjunktur ist, ist schwer zu sagen. Die Arbeitsmarktforschung sieht Hinweise, dass der Verzicht auf Kürzungen die Wahrscheinlichkeit der Integration in Arbeit reduziert. Eine umfassende Evaluation der Wirkungen der Reform steht allerdings noch aus.
Unglücklicherweise hatte die Ampelregierung die Mittel zur Beratung, Förderung und Qualifizierung bei den Jobcentern noch während der Umstellung zum Bürgergeld empfindlich gekürzt. Konsequent wäre eigentlich gewesen, die Jobcenter gerade nach einer solchen Reform personell besser auszustatten, in Beratungsqualität zu investieren und Fördermaßnahmen hochzufahren. Aber der seinerzeitige Arbeitsminister Hubertus Heil hatte andere Prioritäten, knickte in den Haushaltsverhandlungen ein und ließ die Jobcenter mit den Herausforderungen des Bürgergeldkonzepts mehr oder weniger alleine. Das „Fordern“ wurde abgeschwächt, fürs „Fördern“ war kein Geld mehr da. Dass man damit den Kritikern der Reform Steilvorlagen liefert, nahm man wohl in Kauf.
Gericht setzt die Leitplanken
Die neue schwarz-rote Koalition hatte auf Drängen von CDU und CSU eine erneute Reform der Grundsicherung vereinbart. Der in der Tat etwas missverständliche Titel „Bürgergeld“ sollte wieder verschwinden. Man wollte klarstellen, dass dieses System mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nichts zu tun hat. Nun hat die Koalition sich auf Eckpunkte der geplanten Reform geeinigt.
Bei der Anrechnung von Vermögen will man zu den Regelungen vor den Sonderregelungen in der Corona-Krise und vor der Bürgergeld-Reform zurückkehren. Eventuell vorhandenes Vermögen bei den Leistungsberechtigten soll erst einmal eingesetzt werden, bevor der Staat mit finanziellen Hilfen einspringt, wobei Ersparnisse für das Alter in einem gewissen Umfang weiterhin geschützt bleiben sollen.
Verabredungen zwischen Jobcenter und Arbeitsuchenden sollen verbindlicher gestaltet, der Vermittlungsvorrang wieder hergestellt werden. Leistungsberechtigte, die ihren Pflichten nicht nachkommen, werden nach dem Beschluss des Koalitionsausschusses wieder strenger behandelt. Die vom Bundesverfassungsgericht eingeräumten Spielräume bei Kürzungen will man anders als zuvor beim Bürgergeld weitgehend ausschöpfen. Schon beim zweiten Terminversäumnis würden dann Leistungen zum Lebensunterhalt um 30 Prozent gekürzt. Wird auch ein dritter Termin ohne wichtigen Grund verpasst, ist sogar eine vollständige Streichung der Geldleistungen vorgesehen. Wie das gehen soll, ohne die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen roten Linien für Kürzungen zu überschreiten und erneute Verfassungsklagen zu riskieren, bleibt erst mal schleierhaft. Das Gericht hatte zwar eingeräumt, dass es zulässig sein kann, die Leistungen komplett zu streichen, wenn sich Leistungsbezieher weigern, eine ihnen angebotene Arbeitsstelle anzunehmen. Die Voraussetzungen dafür hatte es aber sehr eng definiert, sodass es in Praxis kaum eine Rolle spielen dürfte. Man könnte etwas trickreich auf eine allgemeine Regelung für alle Sozialleistungen im Sozialgesetzbuch I zurückgreifen. Danach können Leistungen vorerst versagt werden, wenn sich Antragsteller der Mitwirkung bei der Prüfung der Leistungsansprüche verweigern, also zum Beispiel trotz Hinweisen und Mahnungen Unterlagen nicht einreichen oder zu notwendigen ärztlichen Untersuchungen nicht erscheinen. Ob ein Terminversäumnis darunter subsumiert werden könnte, bleibt jedoch offen. Man kann also gespannt sein, wie diese politische Absicht in einen konkreten Vorschlag zur Gesetzgebung gegossen wird.
Gleichzeitig will man Schwarzarbeit und Leistungsmissbrauch strenger verfolgen. Erfreulicherweise denkt man hier auch daran, die Nutznießer von Schwarzarbeit auf der Arbeitgeberseite stärker in Haftung zu nehmen. Auch Vermietern von Schrottimmobilien an Leistungsberechtigte soll das Geschäft deutlich erschwert werden.
Weiterhin will man an ein paar Stellen den Verwaltungsaufwand in der Grundsicherung durch pauschale Regelungen reduzieren. Die Beratung der Arbeitsuchenden soll intensiviert und verbessert werden.
Insgesamt ist es eine Mischung von Symbolpolitik und einigen überfälligen Korrekturen, was der Koalitionsausschuss beschlossen hat. Man will wieder strenger sanktionieren – ein Signal an die konservative Politikkulisse, dass man den Unmut über vermeintlich leichtfertig ausgereichte Sozialleistungen verstanden hat. Aber, wie gesagt, die Leitplanken des Bundesverfassungsgerichts gelten weiterhin. Die Bäume werden für Anhänger eines strengen und etwas geizigeren Sozialstaats nicht in den Himmel wachsen. Der SPD ist es gelungen, alles zu vermeiden, was man irgendwie als Kahlschlag bezeichnen könnte. Auch beim sozialdemokratischen Klientel kamen manch allzu generöse Regelungen beim Bürgergeld nicht gut an. Insofern schwenkt man zurück auf die Linie der Vernunft, die von den Sozialreformen vor 20 Jahren unter Kanzler Gerhard Schröder eingeschlagen worden war. Ebenso wie zuvor bei der Bürgergeld-Reform bleibt das meiste beim Alten, wenn auch unter neuem Label.
Kein Grund zur Aufregung also?
Ja, wenn da nicht ein kleiner Punkt wäre, der im Kopf zumindest ein gelbes Lämpchen flackern lässt. In den Zeilen 132 und 133 des Koalitionspapiers heißt es, man wolle „den Erwerbsfähigkeitsbegriff realitätsnäher definieren, damit Menschen, die auf Dauer nicht in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können, die für sie richtige Hilfe erhalten können“. Klingt unverfänglich, kann aber problematische Folgen haben. Es droht ein neuer Verschiebebahnhof zwischen Jobcentern und kommunalen Sozialämtern und neuer Streit, wer in diesem Sinne als vermittelbar gilt und wer nicht. Wenn es darum geht, auch arbeitsmarktferne Menschen zu fördern, damit sie näher an den Arbeitsmarkt heranrücken können, sind kommunale Sozialämter die falsche Adresse. Das können Jobcenter besser. Letzten Endes braucht man dafür einen sozialen Arbeitsmarkt, der auch Schwachen eine Perspektive gibt. Davon liest man im Koalitionspapier leider nichts. Hier sollte man noch einmal nachdenken.
Ein Letztes: Konservative Blütenträume, dass man mit den neuen Regelungen Milliarden an Steuermitteln einsparen könnte, werden sicher nicht in Erfüllung gehen. Da spielen andere Faktoren wie Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt eine größere Rolle. Im Vergleich dazu ist das Bürgergeld ein Nebenkriegsschauplatz, wenn auch ein wichtiger, bei dessen Gestaltung man durchaus einen gewissen Ehrgeiz entwickeln sollte.
Lesen Sie dazu auch die Studie: Wer sind die Menschen im Bürgergeld?