Wenn das der hessischen SPD mal nicht auf die Füße fällt: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihren Fraktionsvizechef Marius Weiß wegen Urkundenfälschung, aber die Partei zieht aus falsch verstandener Solidarität keine Konsequenzen. Strafrechtlich dürften die Vorwürfe für den Juristen Weiß keine besonders schwerwiegenden Folgen haben. Auf Urkundenfälschung steht eine Geldstrafe oder in schweren Fällen Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Politisch sind die Ermittlungen aber durchaus brisant, weil Weiß zwar den Vorsitz des Hanau-Untersuchungsausschusses abgegeben, sein Mandat aber behalten hat und ein weiteres mithilfe der Partei anstrebt, als wäre nichts geschehen.
Weil Weiß erneut für den Landtag kandidieren und mit einem vorderen Listenplatz für die Landtagswahl im Herbst abgesichert werden wollte, musste im Vorfeld des SPD-Landesparteitages in Hanau der „leidige“ Fall möglichst geräuschlos abgeräumt werden, sollte doch Weiß gegenüber Solidarität bekundet werden und gleichzeitig kein Schatten auf die „Krönung“ der Vorsitzenden Nancy Faeser zur Spitzenkandidatin der Landtagswahl fallen.
Die wenig nachhaltige Strategie der Parteiführung ist vordergründig aufgegangen: Mit Platz 14 hat sich Weiß im Vergleich zur letzten Landtagswahl zwar um drei Plätze verschlechtert. Der sichere Listenplatz – und nur darauf kam es Weiß an – war aber gerettet. Über die Rangfolge selbst wurde übrigens während des Parteitages nicht ansatzweise diskutiert. Nach unseren Informationen scheiterten auch Bemühungen, einen Gegenkandidaten oder eine Gegenkandidatin aufzustellen. Das Gelände war wohl zu vermint.
Symbolpolitik auf dem Parteitag
Letztlich ist die Zurücksetzung von Weiß lediglich ein symbolischer Akt; ein bisschen Strafe sollte schon nach außen vermittelt werden. Und jetzt? Ende gut, alles gut? Im Gegenteil: Die Affäre um Marius Weiß dürfte die hessische SPD noch länger verfolgen und sie zunehmend in Erklärungsnot bringen.
Apropos Erklärungsnot; zunächst äußerte sich Weiß – sein gutes Recht – nicht zum Vorwurf der Urkundenfälschung. Er soll seinen Parkausweis für den Hessischen Landtag kopiert und anschließend seiner als Justiziarin der SPD-Fraktion beschäftigten Ehefrau überlassen haben, die während der Sitzungswochen im Parkhaus des Landtags aus eigenem Recht dort nicht parken darf. Nachdem die Affäre in den Medien hoch und runter gespielt wurde, legte Weiß Anfang Juni schließlich den Vorsitz des Hanau- Untersuchungsausschusses nieder, der das rassistische Attentat vom 19. Februar 2020 Hanau aufarbeitet. In seiner schriftlichen Stellungnahme hierzu äußerte sich Weiß unter anderem wie folgt: „Als Mensch habe ich einen Fehler gemacht, den ich zutiefst bereue. Dieser Fehler tut mir unendlich leid, denn schlimmer als der rechtliche Vorwurf ist, dass ich das Vertrauen von Menschen enttäuscht habe, innerhalb und außerhalb meiner Partei.“
Ein bemerkenswertes Statement: Als Mensch! In welcher Gestalt macht man sonst Fehler? Ein „rechtlicher“ Vorwurf? Er meint wohl einen strafrechtlichen Vorwurf, möchte dieses Wort aber offensichtlich nicht in den Mund nehmen. Und dann: Schlimmer als der Vorwurf gegen rechtstaatliche Grundsätze verstoßen zu haben und mit einer Straftat konfrontiert zu sein, sei die Enttäuschung der Menschen um ihn herum. Was für ein Rechtsstaatsverständnis hat der Jurist Weiß?
Er führte weiterhin aus, dass es in dem Untersuchungsausschuss auch um eine Fehlerkultur in der Politik und um Übernahme einer politischen Verantwortung gehe, die er nun selbst praktiziere, für den Fehler, den er begangen habe. Gleichzeitig bat Weiß um die Chance, alles in seiner Macht Stehende tun, um verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen zu können.
Meine Lesart:
Die Floskeln „Übernahme der politischen Verantwortung“ und „alles in seiner Macht Stehende, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen“ hätten zwingend einen Verzicht auf eine erneute Kandidatur als Abgeordneter bedeutet.
Sein Verständnis:
Lasst mich nicht fallen, war doch bloß ein einziger Fehler, gebt mir einen sicheren Listenplatz.
Diese persönliche Konsequenz „light“ nebst öffentlicher Entschuldigung erfolgte gerade noch rechtzeitig vor dem Landesparteitag und den abschließenden Beratungen der Gremien über die Kandidatenliste. Der einflussreiche Vorsitzende des SPD-Bezirkes Hessen Süd, Kaweh Manssori, wollte Weiß eine Chance einräumen und stellte fest, dass es am Ende darum gehe, den Grad einer einmaligen Verfehlung ins Verhältnis zum Gesamtwerk der Person zu setzen. Ernsthaft? Ist das die Arithmetik der Politik oder nur der SPD? Man könnte auch sagen: Donald Trump lässt grüßen!
Und was sagt Spitzenkandidatin Nancy Faeser zum gesamten Vorgang? Gegenüber der FAZ erklärte sie, dass Weiß einen Fehler gemacht und eingeräumt habe. Im Übrigen gelte auch für Weiß die Unschuldsvermutung. Das ist eine sicher mehr als formale Stellungnahme, die den Kern der Sache in keiner Weise trifft! Es geht um sehr viel mehr als nur um das Verhalten eines gewählten Abgeordneten. Es geht schlicht um die politische Hygiene der Partei. Es geht darum, wie die Partei mit einem solch – von ihm eingeräumten- eklatanten Fehlverhalten, das die Unschuldsvermutung natürlich nicht aufhebt, aber relativiert, umgeht.
Entschuldigungsritual
Marius Weiß hat ja nicht nur einen „Fehler“, nein, er hat offensichtlich und zwar vorsätzlich eine Straftat begangen. Die Niederlegung des Ausschussvorsitzes begründete Weiß zwar mit der Übernahme der politischen Verantwortung für den von ihm begangene „Fehler“ auch gegenüber den Opferfamilien des Hanauer Attentats. Das ist eine Entscheidung, die noch mehr Respekt verdiente, wenn Weiß seiner politischen Verantwortung gegenüber dem Wähler gerecht würde. Da war die Niederlegung des Vorsitzes des Untersuchungsausschusses das kleinere Opfer und auch dafür hat Weiß mehrere Wochen gebraucht. Da drängt sich schon die Frage nach der Wahrhaftigkeit eines solchen Entschuldigungsrituals auf.
Und wenn die Landesvorsitzende während ihrer Rede auf dem Landesparteitag der Regierungspartei CDU eine „Arroganz der Macht“ vorwirft, so muss man sich doch verwundert die Augen reiben: Ist Marius Weiß nicht das Sinnbild der „Arroganz der Macht“? Er soll auf die entsprechenden Hinweise und Bitten des Sicherheitspersonals des Hessischen Landtags nicht reagiert haben. Nach Berichten mehrerer Medien war diesen Bediensteten die Fälschung aufgefallen und man habe ihn deshalb mehrfach aufgefordert, dieses Fehlverhalten zu unterlassen. Aber Marius Weiß wähnte sich offenbar, wie die FAZ in einem Beitrag zutreffend formuliert, „in einer Sphäre, in der die für jedermann geltenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches von ihm selbst ohne Folgen missachtet werden konnten“. Was sagt solches Verhalten über die Persönlichkeitsstruktur von Weiß aus? Er handelte ja nicht spontan aus einer bestimmten Situation heraus. Sind ihm bei der gewissenhaften Vorbereitung dieser Tat keine Selbstzweifel gekommen? Glaubte Weiß tatsächlich über dem Recht stehen zu können?
Mit ihrer Entscheidung, Weiß auf einen sicheren Listenplatz zu platzieren, toleriert die hessische SPD das Verhalten von Weiß und übernimmt gar dessen Semantik, er habe „einen Fehler“ begangen. Deshalb muss auch die Frage gestellt werden, wie es um die politische Hygiene der hessischen Sozialdemokraten bestellt ist. Der Parteivorstand hat zunächst eher zurückhaltend, wenn nicht gar zögerlich reagiert. Weder die Landesvorsitzende noch der Fraktionsvorsitzende haben sich vor dem Landesparteitag klar und eindeutig zu dem Vorgang geäußert. Und man muss davon ausgehen, dass die hektischen Aktivitäten kurz vor dem entscheidenden Landesparteitag, die schließlich in dem Rücktritt von Weiß vom Vorsitz des Untersuchungsausschusses mündeten, einzig darauf angelegt waren, der Öffentlichkeit eine scheinbar positive Fehlerkultur zu suggerieren und gleichzeitig Weiß einen sicheren Listenplatz zu retten.
Über Werte und Moral
Weiß geht davon aus und hat dies auch entsprechend kommuniziert, dass er sich mit der Staatsanwaltschaft einigen möchte. Das Verfahren soll gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt und dann endgültig der Mantel des Schweigens über die Angelegenheit gedeckt werden. Dies mag für Weiß persönlich eine saubere Lösung sein. Aber gilt dies auch für seine Partei? Welche Bedeutung haben noch die Werte der SPD, denn sie selbst versteht sich ja als Wertepartei, der es darum geht, den mit ihrem Namen verbundenen Wertehorizont „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ zu bewahren. Dabei geht es auch um moralisches Handeln, dabei geht es auch um Tugenden wie Anstand, Haltung, und Glaubwürdigkeit, es geht vor allem es geht um den Respekt vor gesellschaftlichen Regeln und Gesetzen.
Warum hatten die Parteiverantwortlichen nicht den Mut zu sagen: Sorry, dieses Verhalten kann die Partei – bei aller Wertschätzung für eine erbrachte Leistung als Abgeordneter – nicht tolerieren. Und die Chance auf Wiedergutmachung, verlorenes Vertrauen neu aufzubauen, wäre auch als einfacher „Parteisoldat“ möglich gewesen. Es ist deshalb mehr als bedauerlich, dass Nancy Faeser und mit ihr der gesamte Landesverband nicht den Mut hatten, dem Fall Weiß mit einer klaren und eindeutigen Haltung zu begegnen. Es wurde die Chance vertan zu zeigen: Die politische Hygiene der hessischen Sozialdemokraten lässt es nicht zu, ein solches Verhalten zu tolerieren. Damit hätte man eine klare und vor allem glaubwürdige Haltung gezeigt, die wichtig ist, auch um die im Wahlprogramm benannten wichtigen Themen wie Bildung, Gesundheit oder Wohnen den Menschen verlässlich zu vermitteln. So aber hat nicht nur Marius Weiß seine Glaubwürdigkeit verloren. Auch die der SPD hat in dieser Hinsicht zumindest einen erheblichen Kollateralschaden erlitten und auch Vertrauen eingebüßt.