Ökonomik des fairen Tauschs

Gastbeitrag von Prof. Dr. phil. Mathias Schüz

Viele Ökonomen sehen in Adam Smith (1723- 1790) den Vater eines wirtschaftsliberalen Kapitalismus: Wenn jeder Geschäftsmann seine Selbstsucht befriedigt und seinen Eigennutzen maximiert, so sei damit der Wohlstand eines Landes auf Grund einer „unsichtbaren Hand“ gesichert. So sieht der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman (1912-2006) in der „Gier“ des Menschen die Urkraft erfolgreichen Wirtschaftens. Möglichst entfesselt von politischen oder ethischen Vorgaben sollte man ihr freien Lauf lassen („laissez-faire“), um den Wohlstand für alle zu gewährleisten.

Adam Smith

Nichts könnte irreführender sein, als Adam Smith eine solche Räuberökonomik zu unterstellen. Denn im Kern hat er mit seinem berühmten Werk „Wohlstand der Nationen“ („Welfare of Nations“) von 1776
unausgesprochen eine soziale Marktwirtschaft vorgezeichnet. Ihr Fundament ist eine „Ökonomik des fairen Tauschs“, die sich als ein Spezialfall der Ethik erweist.

Adam Smith war vor Erscheinen seines ökonomischen Grundlagenwerks zwölf Jahre Ethikprofessor an der Universität von Glasgow. Als Krönung seiner Lehrtätigkeit veröffentlichte er 1759 die „Theorie der moralischen Gefühle“ („Theory of Moral Sentiments“). Schon hier hat er die sozialen Verhältnisse zwischen Menschen als ein Tauschverhältnis gekennzeichnet. Sinngemäss etwa so: Ich (lateinisch: Ego) sorge im Umgang mit dem Anderen (lateinisch: Alter) für Ausgleich von Geben und Nehmen. Eine gute Gemeinschaft funktioniert nur auf der Basis der Goldenen Regel der Ethik: „Behandle den anderen so, wie Du gerne behandelt werden willst“: Wenn Du gut behandelt werden willst, behandle den anderen auch gut. Selbst eine Räuberbande muss diese Art von Gegenseitigkeit (Reziprozität) beachten, wenn sie nicht im „Kampf aller gegen alle“ (Thomas Hobbes) untergehen soll. 

„Grober Interessenausgleich“

Reziprozität bestimmt auch alle Verhältnisse in der Wirtschaft. Denn sie hat ihren Ursprung im Tausch, der die Mitte zwischen Raub und Geschenk darstellt, also auch die Mitte zwischen Egoismus und Altruismus. Dabei opfern die Tauschpartner ein Gut, um dafür ein für sie werthaltigeres Gut einzutauschen. Der Tausch ist nur dann fair, wenn alle Tauschpartner einen Mehrwert realisieren. Sonst würden sie sich auf ihn ja gar nicht einlassen.

Der freie Wettbewerb am Markt sorgt für einen fairen Tauschwert durch Angebot und Nachfrage. Je mehr Anbieter eines Produktes auftreten, desto größer die Chance für eine faire Preisbildung. Umgekehrt führt die Knappheit eines Gutes nur kurzfristig zu höheren Preisen, denn neue Anbieter sorgen bald wieder für niedrigere Preise. Grundlage für die Preisbildung ist dabei der Wert der Arbeit, die für die Wertschöpfung aufgewendet werden muss. Das „wirkliche Maß für den Tauschwert aller Waren“ ist dabei für Smith kein „exaktes Maß“, sondern wird als „grober Interessenausgleich“ durch „Aushandeln und Feilschen“ bestimmt.

Das alles funktioniert dann am besten, wenn alle Marktteilnehmer auf Augenhöhe und freiwillig miteinander interagieren. Dies ist aber, wie Adam Smith feststellt, längst nicht immer der Fall. Denn das Gleichgewicht am Markt kann durch Machtasymmetrie empfindlich gestört werden. Wer über große Reichtümer, etwa viel Landbesitz oder Kapital verfügt, der kann leicht das Gleichgewicht von Geben und Nehmen stören. Der kann zum Beispiel mit Hilfe von stillschweigenden „Absprachen“ mit anderen Unternehmern die Löhne ihrer Arbeiter drücken oder mit Hilfe von heimlicher Kartellbildung hohe Preise diktieren. Der nimmt mehr, als er gibt. Der zieht seine Tauschpartner über den Tisch. Der missbraucht den Tausch als Täuschung und wird zum Räuber. Zwar könnten im Gegenzug die Arbeiter streiken, um die Löhne wieder nach oben zu zwingen. Wie Smith aber lapidar feststellt, verboten die Gesetze zu seiner Zeit das Recht auf Streik, unternahmen aber nichts gegen die Absprachen der Unternehmer.

Mit solchen Ausführungen greift der philosophisch hoch gebildete Adam Smith implizit auf alte Einsichten des ersten großen Theoretikers der Ökonomik zurück, nämlich auf Aristoteles (384 – 322 v. Chr.). Auch er sah im „gerechten Tausch“ die Grundlage einer gesunden Wirtschaft. Damit aber die Wucherer das Gleichgewicht von Geben und Nehmen nicht stören, sollte die Politik mit entsprechenden Gesetzen und Kontrollen sie davon abhalten. Und die Ethik liefert die Maßstäbe dafür, was einen gerechten Tausch ausmacht. Wer Smith sorgfältig liest kann ähnliche Forderungen bei ihm erkennen. Die Politik sollte Rahmenbedingungen einführen, die heimliche Absprachen seitens der Unternehmer verhindern, ja sogar Vorgaben machen, wie hoch Mindestlöhne sein sollten. „Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn […] muss … sogar noch höher sein“, um eine Familie gründen zu können.

Der Maßstab für faire Tauschverhältnisse ist für Smith eine „Vorstellung von Humanität“, wie sie Jahrhunderte später in den Menschenrechten noch wesentlich genauer bestimmt wurden. Hier wird in den Artikeln 23 bis 25 ausgeführt, was man für ein menschenwürdiges Leben benötigt: „gerechte Entlohnung“, „Bildung von und Beitritt zu Gewerkschaften“, „Begrenzung der Arbeitszeit“, „Erholung und Freizeit“, „Lebensstandard zur Wahrung von Gesundheit und Wohl der Familie, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung, soziale Leistungen, Sicherheit usw.“.

Die nächste Stufe ist der „Green Deal“

Die Kosten zur Sicherstellung eines solchen Lebensstandards mögen in jedem Land unterschiedlich sein. Deshalb können die Kostenunterschiede für globale Lieferketten durchaus ausgenutzt werden, solange eben die Bezahlung jeweils menschenwürdig ist. Auch das hat Smith erkannt. Der Wohlstand der Nationen komme am besten dadurch zustande, dass sie arbeitsteilig ihre individuellen Fähigkeiten bei der Produktion und niedrigeren Arbeitskosten in den internationalen Wettbewerb einbringen. Wenn jedes Glied in der Wertschöpfungskette als fairer Tausch realisiert wird, dann sorgt in der Summe die „unsichtbare Hand“ für den Wohlstand aller. Das ist der tiefere Sinn von Smiths oft missverstandenen Begriff, der übrigens in seinen beiden Hauptwerken jeweils gerade einmal vorkommt.

Die Kolonialpolitik Englands zu Zeiten von Smith war weit davon entfernt, ihre Politik auf die Sicherstellung solch fairer Tauschverhältnisse auszurichten. Sie nutzte die Schwächen ihrer Tauschpartner zur Maximierung ihres Eigennutzens schamlos und räuberisch aus. Hingegen der Versuch der Europäischen Union mit Lieferkettengesetzen die Rücksichtnahme der Menschenrechte etwa bei der Bezahlung von Lieferanten zu globalisieren, ist voll und ganz im Sinne der Ökonomik des fairen Tausches, wie sie Adam Smith und vor ihm Aristoteles intendierte.

Mit dem „Green Deal“ geht die EU sogar noch weiter, als Adam Smith es angedacht hatte. Denn auch die Natur soll mit ihren Ressourcen als Tauschpartner auf Augenhöhe angesehen werden. Circular Economy, der zufolge von der Natur nicht mehr genommen als wieder zurückgegeben werden soll, ist die Grundlage einer anzustrebenden nachhaltig sozial-ökologischen Marktwirtschaft.


Dr. phil. Mathias Schüz ist emeritierter Professor für Responsible Leadership und Unternehmensethik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er studierte Physik, Philosophie und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Nach seiner Promotion mit einer Doktorarbeit zu den philosophischen Konsequenzen der Quantenphysik war er zunächst bei IBM tätig. Anschließend war er Mitinitiator und langjähriges Mitglied der Geschäftsleitung der Gerling Akademie für Risikoforschung, Zürich. Neben zahlreichen (Buch-) publikationen hat er mit seinem in zweiter Auflage beim renommierten Pearson-Verlag erschienenem Grundlagenwerk „Angewandte Unternehmensethik – Grundlagen für Studium und Praxis “ die Möglichkeiten einer Geschäftsethik theoretisch begründet und mit praktischen Beispielen belegt.


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