Behörden wie Asylbewerber sind auf Dolmetscher angewiesen. Die Übersetzung kann über Bleiben oder Ausweisung entscheiden. Doch zu oft übernehmen in Hessen Laien den Job, die den Aufgaben nicht gewachsen sind. Leittragende sind Asylbewerber und Verfahrensbeteiligte, es leidet auch das Vertrauen in den Rechtsstaat. Letztlich werden auch höhere Kosten verursacht, wenn sich Verfahren verzögern oder sogar neu aufgerollt werden müssen. Der zuständige Hessische Sozialminister Kai Klose (Grüne) weiß um den unhaltbaren Zustand, unternimmt aber nichts.
Dia Farrag und sein Bruder Ahmed kennen die Szene aus dem Effeff. Seit 40 Jahren managen sie erfolgreich das Dolmetscherbüro ad´dalil nahe der Hauptwache im Frankfurter Steinweg, haben die durch Balkankonflikt und Flüchtlingskrise ausgelösten Boomzeiten miterlebt. Beide kämpfen seit etwa zwei Jahren gegen den Einsatz von Laien als Übersetzer für die hessischen Behörden, die Folge einer Neuausschreibung der Dolmetscherleistungen an den Standorten der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen durch den Regierungspräsidenten in Gießen. Die beiden Experten äußern keine Kritik an der ja auch Planungssicherheit bietenden neuen Rahmenvereinbarung. Sie stören sich vielmehr daran, dass Dolmetscherbüros die dort formulierten Anforderungen an ihre Mitarbeiter aus Kostengründen ignorieren dürfen. Dabei geht es im Wesentlichen um das geforderte Mindest-Sprachniveau der Kompetenzstufe C1 (mündlich wie schriftlich in beiden Sprachen) und die Anmeldung der Mitarbeiter bei der Berufsgenossenschaft.
Qualität für 25 Euro?
Um alle für die Qualität der Übersetzung elementaren Vorgaben der Ausschreibung zu erfüllen und unter Berücksichtigung sich ergebender Synergieeffekte und Einsparungen bei der Administration, benötigen die Farrags nach Berechnungen auch befreundeter Büros einen Stundensatz von 37 Euro inklusive Anfahrtskosten. Den Zuschlag haben jedoch Büros erhalten, die ihre Leistung zum Dumpingtarif von 25 Euro die Stunde anbieten. Dia Farrag: „Diese Büros müssen Laiendolmetscher anbieten und darauf vertrauen, dass deren Nicht-Qualifikation nicht festgestellt wird. Die Ersparnis von etwa 15 Euro entspricht dem Abstand zum von uns kalkulierten Stundensatz.“
Gegen die Ausschreibung haben die Farrags und drei befreundete Büros vor der für die Nachprüfung der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen zuständigen Kammer in Darmstadt unter anderem mit dem Hinweis geklagt, dass die geforderte Leistung für 25 Euro Stundensatz nicht legal zu erbringen ist. Die Kammer konzentrierte sich jedoch auf mögliche Verfahrensfehler. Und die konnte sie nicht feststellen.
Bisher geht die Rechnung der „Billigheimer“ mit ihrer Einschätzung zum Behördenalltag auf: Das prüft eh niemand! Doch selbst dann kommen offenbar nicht alle Dolmetscher-Dienstleister über die Runden oder müssen unseriös arbeiten. So schreibt die Hessische Landtagsabgeordnete und Rechtspolitische Sprecherin Marion Schardt-Sauer (FDP) im Dezember 2022 an Kai Klose: „ Aktuell habe ich Informationen darüber, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für das Marburger Übersetzungsbüro Afase arbeiten, seit Monaten auf ihre Bezahlung warten. Auch werden Zahlungen in bar, in anderen Fällen mit Rechnungen, aber ohne Ausweis der Mehrwertsteuer geleistet. Das Regierungspräsidium, das bis heute zentrale Nachweise, die in der Ausschreibung gefordert waren, nicht erhoben oder überprüft hat, hat sich auf Anfrage von Dolmetscherinnen und Dolmetschern für nicht zuständig erklärt.“ Jetzt ist es zu spät, denn Afase-Geschäftsführer Aare Afase ist mitsamt der Firmenkasse untergetaucht.
Schardt-Sauer kämpft nach einem uns vorliegenden Schriftwechsel seit August 2020 darum, Minister Klose davon zu überzeugen, dass die nach der Ausschreibung ausgewählten Unternehmen den Anforderungen genügen und ihren Verpflichtungen nachkommen müssen: „Dies zu überprüfen, ist Aufgabe des Regierungspräsidiums und des Ministeriums, wenn es Hinweise gibt, dass das Regierungspräsidium seinen Aufgaben nicht nachkommt“, heißt es im Schreiben vom 8. Dezember 2022.
Kontrolle und eventuelle Sanktionierung der schwarzen Schafe sind aber offensichtlich vom Minister nicht erwünscht, zumal er in einem Schreiben an Schardt-Sauer darlegt: „ …wird auch auf Sprachermittlerinnen und Sprachermittler zurückgegriffen,“ „… Besonders in seltenen Sprachbereichen sind auch Fremdsprachenstudentinnen und Fremdsprachenstudenten als geeignet zu bewerten, sofern sie über fachkundige Sprachkenntnisse verfügen.“ Der Minister bestätigt damit Schardt-Sauers Aussage, „dass Kräfte eingesetzt werden, die nicht den Ausschreibungsanforderungen entsprechen“.
Minister vertraut auf Unterschriften
Wurden die Anforderungen an Dolmetscher heimlich gesenkt? Dafür gibt es keine Hinweise. Gleichwohl irritiert schon, dass Schardt-Sauer folgenden Verstoß gegen die Anforderungen gegenüber Minister Klose dokumentiert: „Mit Datum vom 19. Januar 2021 sucht das von Ihnen beauftragte Dolmetscherbüro per Internet Dolmetscher für die Einrichtungen in Hanau, Marburg, Flughafen, Gießen und Gelnhausen. Voraussetzungen sind: Arbeitserlaubnis, keine Vorstrafen und ein eigener Pkw. Es wird keine Fachkompetenz gefordert, auch kein Sprachdiplom C1.“ Offensichtlich vertraut Minister Klose blind auf die von den beauftragten Büros per Unterschrift unter der Rahmenvereinbarung dokumentierten Versicherung zur Einhaltung der Kompetenz- und Sprachniveau-Vorgaben.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, zumal auf sensiblen juristischen Feldern. Das meint auch Dia Farrag: „Der Minister müsste doch nur eine zweizeilige Mail an die Büros schicken und diese auffordern, die entsprechenden Kompetenzen nachzuweisen.“ Mohamad El Asmar, Freelancer im Büro ad´dalil, vermutet in einer Mail an Marion Schardt-Sauer, dass es „womöglich deshalb zu keiner Beschwerde und Prüfung durch das zuständige Fachdezernat des Regierungspräsidiums kommt, da bekannt ist, dass die DolmetscherInnen lediglich 25 Euro erhalten. Vor der Ausschreibung war der Stundensatz fast doppelt so hoch…“ Insider des politischen Betriebs in Wiesbaden vermuten die Hintergründe eher in einer Art vorauseilender Political Correctness. Die strenge Überprüfung migrantisch geführter Dolmetscherbüros könnte in der grünen Community für einen grünen Minister zu Konflikten führen, wird gemutmaßt.
Kontrolle wird an Büros delegiert
Ungeachtet dieser Spekulationen ist Fakt: Aufsichtsbehörden kommen ihrem Kontrollauftrag nicht nach und lassen sich von den Dolmetscherbüros in betrügerischer Absicht vorführen. Wider besseren Wissens stellt das Sozialminister Klose bei der Beantwortung einer Kleinen Anfrage von Martin Schardt-Sauer in Abrede: „Zwecks Belehrung und Ausstellung eines Dolmetscherausweises findet der Erstkontakt mit den einzusetzenden Dolmetscherinnen und Dolmetschern bereits vor dem ersten Einsatz in der Erstaufnahme Einrichtung im Regierungspräsidium Gießen statt. Sollten im Rahmen dieses ersten Gesprächs Verständnisprobleme bei der deutschen Sprache bemerkt werden, werden die Dolmetscherbüros angewiesen, die Sprachkompetenz erneut zu prüfen beziehungsweise das eingesetzte Personal zu ersetzen.“
Die Behörden delegieren ihren Kontrollauftrag an die eigentlich von ihnen zu kontrollierenden Büros, die ja belegbar über Suchanzeigen auf Digital-Plattformen das C1- Niveau gar nicht verlangen! Außerdem fallen in diesen Erstgesprächen offensichtlich nur Defizite in der deutschen Sprache auf. Was ist aber mit der für C1 ebenfalls nachzuweisenden fremdsprachlichen Kompetenz, die beispielsweise bei in Deutschland aufgewachsenen Dolmetschern mit Migrationshintergrund nicht einmal für die Sprache aus dem Herkunftsland der Familie einfach vorausgesetzt werden kann?
Im weiteren Verlauf seiner Antwort schreibt Sozialminister Klose, dass eine „fortwährende Überprüfung des Sprachniveaus der eingesetzten Dolmetscherinnen und Dolmetscher durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen“ erfolgt. Bei Beschwerden werde „durch das zuständige Fachdezernat des Regierungspräsidiums Gießen ein Prüfverfahren betrieben, welches als letzte Konsequenz auch einen Tätigkeitsausschluss der Dolmetscherin beziehungsweise des Dolmetschers zur Folge haben kann.“ Der auch fürs Dolmetscherbüro ad´dalil tätige Mohamad El Asmar widerspricht: Es gebe keine ausreichenden Kontrollen und Prüfungen des C1-Niveaus. Er selbst sei ohne Prüfung freigeschaltet worden, er habe lediglich eine Verpflichtungserklärung unterschreiben müssen. Ebenso sei dies bei allen ihm bekannten Dolmetschern passiert.
Lese- und Schreibschwächen
Soll der Rechtsstaat funktionieren, muss auf eine korrekte Sprachübertragung geachtet werden. Wenn die Erstaufnahmeeinrichtungen wegen „der enormen Anzahl an Aufträgen“ nicht ausschließlich diplomierte und beeidigte Dolmetscher beauftragen können und auf Studierende „mindestens mit Sprachniveau der Kompetenzstufe C1“ zurückgreifen müssen, wie Klose schreibt, dann sollte das „mindestens“ auch kontrolliert werden. In manchen Fällen dürfte es sogar ausreichen, die Annoncen auf Studierenden-Portalen zu scannen, um die schwarzen Schafe auszusortieren.
Jemand, der mehrere Sprachen spricht und versteht, kann nicht automatisch auch dolmetschen (oder übersetzen). Dolmetscher müssen auch Nuancen übersetzen, dürfen nichts hinzufügen und nichts weglassen. Zu ihrem Berufsethos gehört es auch, neutral und loyal zu sein, kulturelle Besonderheiten mit einzubeziehen und korrekt zu erklären. Diese Verantwortung darf doch an nicht an Laien delegiert werden, zumal sich darunter auch gescheiterte Kandidaten der staatlichen Dolmetscherprüfung tummeln können: Achmed Farrag: „Die fallen bei der Prüfung für die staatliche Anerkennung durch, verdienen sich dann durch den Einsatz als Laien das Geld für einen neuen Anlauf.“ Schlimmer noch: Die Farrags wissen von eingesetzten Dolmetschern, die weder lesen noch schreiben können. Dia Farrag:“ Ich weiß gar nicht, wie diese Leute sich aus ihrer Not herauslavieren, wenn Ihnen im Verfahren ein kleinen Textschnipsel zur Übersetzung vorgelegt wird.“
Marion Schardt-Sauer kämpft weiterhin um eine funktionierende Fachaufsicht der Dolmetschertätigkeit in Flüchtlingsfragen. Dabei hofft sie auf Unterstützung durch den Hessischen Rechnungshof, dessen Präsident Dr. Walter Wallmann im Februar 2022 über den Sachverhalt informiert wurde. Laut Schardt-Sauer hat Wallmann die Feststellung auf Einhaltung staatlicher Vorgaben nicht gerade überraschend als „elementar“ bezeichnet und einen Senat angeregt, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Nachdem ein Jahr verstrichen ist, sieht Schardt-Sauer jetzt die Zeit für eine Nachfrage gekommen.
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