„Wake me up when the apocalypse is over“

Gastbeitrag von Prof. Dr. Jens Wissel

Der von Russland völkerrechtswidrig begonnene Krieg gegen die Ukraine dauert jetzt ein Jahr und ein Ende ist nicht abzusehen. Hunderttausende mussten sterben, ein Land wird verwüstet und es wird Jahrzehnte mit den Folgen zu kämpfen haben. Aber es sind nicht nur die Verwüstungen in der Ukraine, die erschreckend sind, auch die Eskalationsdynamik des Krieges und die Art der Auseinandersetzung mit dem Krieg erschreckt. Nicht zuletzt auch, weil Russland eine Atommacht ist. Die Debatten werden beherrscht von einem moralischen Rigorismus, der jede Analyse über globale Machtverhältnisse und der hieraus folgenden Interessenpolitik in den Wind schlägt. Wenn man auf der richtigen Seite steht, muss man sich anscheinend nicht vor der Apokalypse fürchten. Es ist Zeit diese Form des Moralismus zurückzuweisen und den Raum zu öffnen für eine Auseinandersetzung darüber, wie eine zeitgemäße Antikriegsopposition aussehen müsste. Die Zeit drängt. 

Seit Mai 2016 prangt dieses Zitat des Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) am Deutschen Panzermuseum Munster. Benjamin schrieb 1926, dass ein Pazifismus nichts nutze, der nicht die Kraft habe, sich offen und kritisch mit eben jenem Krieg zu befassen, den er ablehnt. Das Reden über die Schrecken des Krieges wirkt seiner Meinung nach abschreckend.
Foto: Rudolph Duda / pixelio.de

Internationalisierung des Krieges und die deutsche Debatte

Der Krieg in der Ukraine ist mittlerweile keineswegs nur noch eine Auseinandersetzung zwischen einem überfallenen Staat und dem Aggressor Russland. Der Krieg hat sich ziemlich schnell internationalisiert. Und zwar in vielerlei Hinsicht. Mittlerweile liefern über 50 Nationen Waffen an die Kriegsparteien, die meisten an die Ukraine. Nicht nur auf ukrainischer Seite kämpfen eine hohe Anzahl ausländischer Söldner (Oberst Reisner: Der Ukrainekrieg und die neue globale Machtstruktur, 23.01. 2023). Und es gab Kampfhandlungen außerhalb der Ukraine: in Russland und auf internationaler See bei der Sprengung von Nordstream I und II. Niemand wundert sich, dass der britische Geheimdienst täglich einen Lagebericht zum Krieg in der Ukraine herausgibt. Vieles deutet darauf hin, dass ohne die Bereitstellung und Bestätigung von Koordinaten von Angriffszielen durch die USA die Schläge gegen die russischen Versorgungslinien und Kommandoposten, zur Vorbereitung der Offensiven, durch die ukrainische Armee nicht durchführbar gewesen wären („Berliner Zeitung“ vom 10.02.2023). In Polen ist eine Rakete eingeschlagen, von der die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, wusste, dass es eine russische war und dies auch gleich per Twitter kundtat. Der Tweet wurde mittlerweile gelöscht (siehe dazu „Maischberger vom 16.11.2022).

Auch auf ökonomischer Ebene hat sich der Krieg internationalisiert. Ohne China und Indien hätte Russland die Sanktionen des Westens nicht so leicht umgehen können und ohne USA und EU gäbe es nicht nur keine ukrainische Armee mehr, vielmehr wäre die Ukraine zahlungsunfähig.

Verfolgt man die deutsche Debatte, dann muss davon ausgegangen werden, dass dieser Krieg in der Ukraine in jeder Hinsicht einzigartig ist. Es scheint der erste Krieg seit 1945 zu sein, der „unsere Werte“ und das Völkerrecht bricht. 

Genau genommen ist der Krieg aber doch nicht so einzigartig: Das Völkerrecht wurde leider auch schon vorher gebrochen. Zivilpersonen wurden auch schon vorher getroffen und ermordet und gefoltert wurde auch schon vor diesem Krieg, im Übrigen auch in Europa. Mitunter auch von denen, die jetzt von unseren Werten sprechen. Erinnert sei hier nur an die mindestens 100 000 zivilen Opfer des Irakkrieges, die tausenden zivilen Toten, die der weltweiten Drohnenkrieg gefordert hat und an die Folterkammern in Abu-Ghuraib und Guantanamo. Mit anderen Worten: „Jeder moderne Krieg hat sein Massaker von Butcha“ (Raúl Sánchez Cedillo, „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“, in der Übersetzung von David Mayer, Seite 55).

Neu ist leider auch nicht, dass in Kriegszeiten jede Ambivalenz beseitigt wird und jede Form des Zweifelns denunziert wird. Das fällt besonders deswegen auf, weil wir uns alle in einer Situation des Nichtwissens befinden und bei vielen Nachrichten weitgehend unklar ist, welche Informationen Teil der jeweiligen Kriegsführung und welche tatsächlich glaubhaft sind. Der Militarismus führt in dieser Situation zu einer massiven „Ent-Differenzierung“ und „zu einer Rhetorik des Verrats“, sagt Professorin Uta Ruppert, Politikwissenschaftlerin an der Frankfurter Goethe-Universität (vgl. Ruppert, Uta 2002: „Ein bisschen Feminismus im Krieg? Über das Paradox feministischer Außenpolitik“, in: PROKLA 208, 499-507). Das musste auch Jürgen Habermas erfahren, der versucht hat darauf aufmerksam zu machen, dass die Situation nicht so eindeutig ist, wie sie manchem erscheint. Putin darf den Angriffskrieg nicht gewinnen, zugleich muss das Morden im Krieg aufhören und die Gefahr einer atomaren Eskalation vermieden werden. Diese Konstellation lässt sich nicht ungebrochen und ohne moralischen Schaden zu nehmen nach einer Seite auflösen. Wer auf dieses Dilemma hinweist und sich damit der Dichotomie der Auseinandersetzung verweigert, wird kurzerhand zugeordnet.


Dr. Jens Wissel lehrt Sozialpolitik unter besonderer Berücksichtigung von Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Jüngste Veröffentlichungen: „Materialistische Staatstheorie und die Veränderung von Staat und Politik in der Europäischen Union“, in: Dellheim, Judith/Demirovic, Alex et al. (Herzliche Grüße.): „Auf den Schultern von Karl Marx“, Münster 2021, 505-519. „Soziale Infrastruktur als Entwurf einer alternativen Sozialpolitik“, (gemeinsam mit Dirk Martin), in: Schaarschuch, Andreas; Oelerich, Gertrud; Dehm, Hannah (Hg.): „Soziale Dienstleistungen als soziale Infrastruktur: Konsequenzen und Optionen für die Soziale Arbeit“, Opladen, 2023 (im Erscheinen).


Der Krieg scheint sämtliche Unklarheiten aufzuklären, alles liegt glasklar vor uns: Gut und Böse, Helden und Schurken – alles ist eindeutig. Auch dieses Muster ist alt: Es nennt sich moralische Mobilmachung. Mario Neumann, Pressereferent bei medico, hat darauf hingewiesen, dass die Welt leider etwas komplizierter bleibt, auch im Krieg. In der Ukraine werden die demokratischen Werte verteidigt, die im Inneren längst porös und prekär geworden sind. In der neuen Konstellation ist Polen nicht mehr das Land, dass ein Problem mit dem Rechtsstaat hat und Minderheitenrechte missachtet und noch vor kurzem Deutschland beschimpfte, es wolle die EU in ein neues „Viertes Deutsches Reich“ verwandeln (Tagesspiegel“ vom 24.12.2021), sondern der tapfere Partner in der EU, der verstanden hat und vorangeht. Die Türkei, die einen völkerrechtswidrigen Krieg im Norden Syriens führt und Azerbaijan bei einem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Armenien unterstützt, bildet nun unsere demokratische Ostflanke und ist unabkömmlich. Robert Habeck reist für eine Energiepartnerschaft in die Vereinigten Arabischen Emirate, einen der Hauptakteure des Krieges im Jemen, in dessen Gefolge nach UN-Schätzungen 377 000 Menschen (Ende 2021) zu Tode kamen. Als wäre das nicht genug, wird dieses Land auch noch mit deutschen Waffen beliefert. Saul Goodman, der nicht immer mit legalen Mitteln arbeitende Anwalt in der beliebten US-Fernsehserie „Breaking Bad“, hätte wohl von moralischer Flexibilität gesprochen.

Kriege ohne Grund und Vorgeschichte

In nichts war der Neoliberalismus so erfolgreich wie darin, jede Geschichte zu beseitigen und damit Kontingenz und Gewordenheit von gesellschaftlicher Konstellation verschwinden zu lassen. Der Krieg hilft hier. Der Krieg hat keine Geschichte und er hat auch keine Gründe, es ist der uralte Kampf zwischen Gut und Böse. Es ist also müßig danach zu fragen, warum es so weit gekommen ist, weil in der Rückschau immer schon klar war, dass es so kommen musste. Alle, die vorher versucht haben, diesen Krieg zu verhindern, haben das scheinbar nicht verstanden. Verhandlungen nach der Annektion der Krim sind in der Rückschau Verrat und Minsk II hat scheinbar zwangsläufig zu dem Krieg geführt, den wir jetzt haben. Wer Frieden sagt, will Krieg und wer keine Waffen in den Krieg senden möchte, ist verantwortlich für Folter und Mord. Wer darauf aufmerksam macht, dass die Nato kein Kleingärtnerverein ist und dass sie sich – gegen die Absprachen in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen – kontinuierlich nach Osten ausgebreitet hat und, dass Moskau nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass es die Ukraine als rote Linie betrachtet hat, wird prorussischer Narrative beschuldigt.

Viele aus Politik, Diplomatie und Wissenschaft haben genau hiervor gewarnt, lange vor dem Überfall auf die Ukraine. Medien, oder NGOs, die unvorsichtigerweise darauf hinweisen, dass es Kriegsverbrechen auf beiden Seiten gibt und zwar schon vor der Invasion, wie beispielsweise Amnesty International und Human Rights Watch (siehe auch Tagesschau 07.08.2022), werden beschuldigt das Spiel Putins zu spielen. Selbst wenn es stimmt, sowas sagt man nicht. Man erfährt zwar aus den Medien, dass in den zurückeroberten Gebieten Jagd auf Kollaborateure gemacht wird und die ukrainischen Rückeroberungen ihrerseits Fluchtwellen ausgelöst haben („Der Spiegel“ 2022a, 80-84; „The Guardian“ 13.09.2022) und man kann auch erfahren, dass mittlerweile viele Parteien in der Ukraine verboten wurden (siehe Raúl Sánchez Cedillo), kommentiert oder eingeordnet wird dies aber nicht. Es sollte klar sein, dass das keinen Angriffskrieg rechtfertigt und auch nicht mit den Kriegsverbrechen Russlands zu vergleichen ist, aber ein Land, das mit schweren Waffen durch „den Westen“ beliefert wird, muss auch nach anderen Maßstäben (unsere Werte?) beurteilt werden und es macht deutlich, dass es den sauberen Krieg nicht gibt.

Singularitäten und Verschiebungen

Man kann auch lesen, dass es die Situation im umkämpften Donbass keineswegs erlaubt, von den Ukrainerinnen und Ukrainern im Singular zu sprechen. Berichte aus den befreiten Gebieten legen nahe, dass die Situation keineswegs so eindeutig ist, wie oft suggeriert wird. Die Bevölkerung scheint bezüglich der Besatzung gespalten zu sein (siehe „Der Spiegel“ 2022b). In der britischen Zeitschrift „New Left Review“ verweist Volodimir Ishchenko auf eine bestimmte Form (nationaler) Identitätspolitik in der Ukraine, in der es hauptsächlich um Symbolik gehe und nicht um gesellschaftliche Transformation. In dieser Identitätspolitik sei beispielsweise nicht Imperialismus an sich das Problem, sondern ausschließlich der russische Imperialismus. Die Abhängigkeit der Ukraine vom Westen werde in keiner Weise problematisiert. In Bezug auf die „Ukrainischen Stimmen“, die im westlichen Diskurs zu Wort kommen, fragt Ishchenko: „Sollen wir wirklich glauben, dass die englischsprachigen, mit dem Westen verbundenen Intellektuellen, die typischerweise in Kiew oder Lemberg arbeiten und sich oft sogar persönlich kennen, die Vielfalt der 40-Millionen-Nation repräsentieren?“

Sei’s drum, es bleibt dabei: Ukrainer:innen gibt es nur noch im Singular und Russ:innen auch. Russische Sportler:innen sind schuldig ebenso wie Musik oder Literatur aus Russland. Allgemein verschieben sich die Narrative nach rechts. Dass auch in Deutschland darüber diskutiert wird, ob Russland jemals wieder zur „Völkergemeinschaft“ gehören könne, ist grotesk. All diese Dynamiken sind wenig einzigartig und wer sich die Mühe machen will, kann das bei den Historiker:innen nachlesen.

Der Krieg ist zwar nicht einzigartig, aber er hat Besonderheiten, die auffallen. Es gibt kaum eine kritische Öffentlichkeit, es gibt keine handlungsfähigen Linke (das ist vielleicht nicht so besonders, unterscheidet ihn aber vom ersten Weltkrieg). Es gibt keine Friedensbewegung und bei den wenigen, die sich gegen die Krieg artikulieren, finden sich gesellschaftliche Strömungen, mit denen man nichts zu tun haben will. Leute wie Sahra Wagenknecht rahmen nicht nur ihre Aussagen so, dass sie aus einer progressiven Perspektive heraus kaum noch sagbar sind. Schlimmer noch ist, dass es offensichtlich eine Schnittmenge zwischen einem national orientierten linken und einem rechtsradikalen Hegemonieprojekt gibt. Das Problem ist, dass eine fehlende linke internationalistische Antikriegsposition das Feld diesen Kräften überlässt. (siehe Raúl Sánchez Cedillo). 

Die Desartikulation der gesellschaftlichen Linken könnte nicht größer sein, natürlich auch, weil es zunächst sehr gute Gründe gab (und zum Teil noch immer gibt), sich mit einem von einem rechten Despoten angegriffenen Land zu solidarisieren und ihm zu helfen, sich verteidigen zu können. Aber in der Ukraine scheint sich die Konstellation verschoben zu haben. Ging es anfänglich um die unmittelbare Verteidigung und um die Lieferung von „Defensivwaffen“, kamen im Sommer 2022 schon erste Aussagen, die Krim müsse zurückerobert werden. „In einem am 24. November veröffentlichten Interview bekräftigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Ziel, „alle Gebiete zurückzuholen“ „Focus“ 5.12.2022). Andryj Melnyk, ehemaliger Botschafter in Deutschland und nun Vizeaußenminister der Ukraine, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die politische Konstellation in der Ukraine in den letzten Jahren verändert hat. Es ist nicht so, dass rechtsradikale Kräfte unmittelbar politisch bedeutsam geworden wären in der Ukraine, vielmehr hat sich der gesamte gesellschaftliche Diskurs in der Ukraine nach rechts verschoben. Dass ein Vizeaußenminister (damals noch Botschafter) öffentlich seine Bewunderung für den Nazikollaborateur und fanatischen Antisemiten Stephan Bandera ausdrücken kann, ohne dass es Konsequenzen hat, macht das deutlich. Zu der oben schon angesprochenen Identitätspolitik gehört leider auch ein nationalistisch-ethnisierender antirussischer Diskurs und eine entsprechende Sprachpolitik. Schon vor der Invasion wurde versucht, auch mit rechtlichen Mitteln die russische Sprache aus der Ukraine zu verdrängen. Der weitere Ausbau von Freiwilligenverbänden dürfte die Kräfteverhältnisse in der Ukraine weiter zuungunsten emanzipatorischer Kräfte verschieben (siehe Florian Rötzer am 14.02.2023 im „Overton Magazine“). 

Mittlerweile sind Verhandlungen mit Putin per Dekret verboten und verhandelt werden kann laut Präsident Wolodymyr Selenskyj erst, wenn die Ukraine den Krieg gewonnen habe und auch die Krim zurückerobert sei. Schon im Oktober 2022 forderte Selenskyj einen Präventivschlag gegen Russland. Am 10. Oktober 2022 verlangte Andreyj Melnyk in einem Tweet: „Dieser Terror-Staat Russland muss eliminiert werden“. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz forderte der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow die Lieferung von völkerrechtlich geächteter Streumunition und Phosphor-Brandwaffen („TAZ“ 18.02.2023). 

Vielfachkrise is coming

Bisher ist es in der „Vielfachkrise“ (siehe Demirović et al. 2011) gut gelungen, die Folgen der unterschiedlichen Krisen zu externalisieren, die Kosten unserer „imperialen Lebensweise“ also zu verlagern (siehe auch Brand, Ulrich/Wissen, Markus 2017: „Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mansch und Natur im globalen Kapitalismus“, München). Für die Schuldenkrise musste Europas Süden zahlen, für die Klimakrise zahlt der globale Süden. Die Auswirkungen der Pandemie konnten im Unterschied zu anderen Weltregionen einigermaßen aufgefangen werden, aber für die lange Weigerung die Impfstoffe und Medikamente freizugeben, haben ebenfalls die Menschen im globalen Süden gezahlt. Für den Zerfall der geopolitischen Ordnung haben bisher Menschen in Libyen, Afghanistan, Irak und Syrien gezahlt, um nur einige wenige betroffene Länder zu nennen. Und auch jetzt landet ein Teil der Kriegsrechnung in Form von erhöhten Nahrungsmittel- und Energiepreisen im globalen Süden. Gleichwohl werden nicht nur die Abstände zwischen den Krisen kürzer, sie kommen uns auch immer näher. 

#freetheleos

Die Diskussion um neue Waffen ist permanent und findet auf allen Kanälen statt. Wenn Kritik zu hören ist, dann vor allem daran, dass „wir“ zu langsam liefern. So auch in den neu entstandenen Podcasts zum Krieg: „Streitkräfte und Strategien“ (NDR), „Was tun Herr General“ (MDR) und „Ukraine – Die Lage mit Christian Mölling“ (RTL+), um nur einige zu nennen. 

In der deutschen Debatte haben die zunehmend schrilleren Töne aus der Ukraine keineswegs dazu geführt, darüber nachzudenken, wie „wir“ mäßigend auf „die Ukraine“ einwirken könnten. In den deutschen Talkshows wurde anfänglich die Frage nach der Krim geflissentlich unbeantwortet gelassen. Meistens wurde sie gar nicht erst gestellt. Mittlerweile ist die Rückeroberung der Krim auch in den deutschen Talkshows nicht nur legitim, sondern notwendig. Von Mäßigung jedenfalls keine Spur: Der gern gesehene Talkshowgast und Bundeswehrprofessor Carlo Masala fordert im Überschwang der ukrainischen Rückeroberungen gar die Übernahme von Putins Kriegsführung: Die Krim müsse von der Versorgung abgeschnitten werden „damit sich die dort lebenden Menschen in ihrer Verzweiflung gegen die Besatzer richten“, was allerdings Jahre dauern könne (Tweet Masala vom 15.12.2022, mittlerweile gelöscht, hier im Foto einsehbar).

Der neue Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen erklärt in der Talkshow von Markus Lanz, dass sie eine Umfrage in der Ukraine durchgeführt haben, in der gefragt wurde: „Was machen die Ukrainer, wenn Putin taktische Nuklearwaffen einsetzt? Für unseren neuen Munich Security Report (MSCreport) haben wir sie selbst gefragt. 89 Prozent sagen: Wir machen weiter. Deutschland und Partner haben eine moralische Verpflichtung, sie dabei zu unterstützen“ (Tweet Heusgen vom 9.02.2023). Claudia Mayor von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin fordert einen Tag später an gleichem Ort „die Umstellung unserer Industrieproduktion auf die Bedürfnisse der Ukraine“ und verweist darauf, dass es bei der Unterstützung um einen Marathon ginge, Macron sprach davon schon im Juni 2022.

Wer hat Angst vorm Siegen?

Unbeantwortet bleibt auch die Frage, wie denn die Krim zurückerobert werden sollte und was für Konsequenzen dies haben könnte. Der Putin, der eben noch einen „Vernichtungskrieg“[1] zur Auslöschung der Ukraine geführt hat, wird, wenn es um die Krim geht, plötzlich zum kühlen Strategen. Erwartet wird scheinbar, dass Putin nach dem Durchbruch der ersten Leopard-Panzer zur Krim einsieht, dass sein Plan gescheitert ist und er sich entsprechend damit abfindet, dass die Krim für Russland verloren ist. Der Einsatz von taktischen Atomwaffen sei nur ein Narrativ Putins, um dem Westen Angst zu machen (Marie-Agnes Strack-Zimmermann), oder wahlweise „unwahrscheinlich“, da sie keinen militärischen Nutzen habe. Die Erkenntnis, dass in moderne Kriegen Dynamiken auftreten können, die zu Beginn eines Krieges noch für unmöglich gehalten wurden und die von den Kriegsparteien nicht kontrolliert werden können, scheint vergessen. „Unwahrscheinlich“ ist im Übrigen ziemlich wenig, wenn es um einen Atomkrieg geht. Schließt sich die Frage an, was passieren würde, wenn Putin nun doch taktische Atomwaffen einsetzen würde? Würde die Nato dann sagen, ok Mist, damit haben wir nicht gerechnet, jetzt heißt es aus der Eskalationsspirale auszusteigen und nicht zu antworten (wie auch immer konventionell oder atomar). Wohl eher nicht, denn dann wäre jede Form der Abschreckung Geschichte. 

Sanktionen und Diplomatie

Langfristig wird Russland sicherlich massiv an geostrategischer Bedeutung verlieren. Kurz- und mittelfristig haben die vom Westen verhängten Sanktionen aber offensichtlich ihre Wirkung verfehlt. Der IWF prognostiziert Russland 2023 und 2024 mehr Wachstum als Deutschland („Handelsblatt“ 31.01.2023). Russland konnte sich durch die erst nach und nach verschärften Sanktionen auf die Auswirkungen einstellen. Wichtiger aber noch scheint die Feststellung, dass die Sanktionen überhaupt kein formuliertes Ziel haben. Hierauf macht der frühere Abgeordnete der „Linken“ und heute als Referent für internationale Krisen und Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätige Jan von Aken aufmerksam. Es ist aber gerade ein klar formuliertes Ziel, das in der Vergangenheit Sanktionen erfolgreich gemacht habe, beispielsweise in Südafrika. Hinzu kommt, dass die möglicherweise entscheidenden Kräfte gar nicht von den Sanktionen betroffen sind. Der renommierte französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat vorgeschlagen die 20 000 russischen Multimillionäre mit Sanktionen anzuvisieren. Die Debatte ist allgemein so verengt auf Waffenlieferungen, dass über Sanktionen nicht diskutiert wird, geschweige denn über konkrete Vorschläge, wie dem von Piketty. Zu vermuten ist, dass ein internationales Finanzregister, als Voraussetzung der genannten Sanktionen, nicht nur in der Ampel-Koalition auf erheblichen Widerstand stößt. 

Wer das Wort „Diplomatie“ in den Mund nimmt, findet sich umgehend in einem Rechtfertigungszwang. Mit Putin kann man nicht verhandeln, so heißt es auch aus dem deutschen Außenministerium. Dass das nicht stimmt, musste ausgerechnet unser moralisch flexibler Freund Erdogan vorführen, der das Weizenabkommen vermittelt hat. Egal auch, dass es im März Verhandlungen gegeben hat, die weit fortgeschritten waren. Eventuell hat hier eine reale Chance bestanden die Dynamik des Krieges zu durchbrechen, was den Tod von hunderttausenden Menschen verhindert hätte. Bis vor kurzem galten diejenigen, die darauf aufmerksam gemacht haben, als Putinfreund:innen. Jetzt hat der damalige Ministerpräsident Israels, Naftali Bennett, bestätigt, dass die Verhandlungen im März von den USA und vor allem Großbritannien blockiert wurden. Ob die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen worden wäre, werden wir nicht mehr erfahren, klar ist aber, dass es Interessen gab den Krieg fortzusetzen. 

Olivia Mitscherlich-Schönherr, Dozentin an der Hochschule für Philosophie in München, fordert in der „Frankfurter Rundschau“ dazu auf, Länder des globalen Südens dabei zu unterstützen die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zu bringen: „Da wir de facto längst Kriegspartei geworden sind, können wir nicht mehr als Vermittler agieren. In dieser Situation täte der globale Norden gut daran, endlich seine Arroganz gegenüber den Ländern des globalen Südens aufzugeben. Wir brauchen ihre Hilfe: als wirkliche Schlichter jenseits der eingespielten Konfliktlinien… Dabei könnte der Bundeskanzler den Ball aufnehmen, den der brasilianische Präsident Lula ihm kürzlich zugespielt hat.“

Wer aber jetzt davon spricht, Putin vor ein Sondertribunal zu stellen und die russischen Truppen aus der Ukraine (inklusive der Krim) zurückzudrängen, der/die hat offensichtlich kein Interesse an einem Frieden. Nicht, dass es nicht wünschenswert wäre, aber das ist hier nicht die Frage. Die Frage ist, ob das ein realistisches Ziel ist und was der Preis wäre und wer ihn zahlen würde? Wer das fordert, baut offenbar darauf, den Krieg noch jahrelang weiterführen zu können und verfolgt wahrscheinlich die Absicht Russland ein für alle Mal aus dem Kreis der Groß- und Mittelmächte auszuschließen.[2]

Keine Sieger

Mark Milley, der Generalstabschef der USA, von dem angenommen werden kann, dass er ziemlich gut über den Verlauf des Ukrainekrieges informiert ist, hat darauf hingewiesen, dass nicht abzusehen ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann und, dass Russland nicht dazu in der Lage ist die Ukraine zu besiegen. Milley hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass auch die ukrainische Armee hohe Verluste hat. Etwas, wovon in den deutschen Medien kaum berichtet wird. Beide Armeen scheinen bisher über 100 000 Tote zu beklagen haben und in der Ukraine wird es zunehmend schwieriger die Truppenbestände aufzufüllen. Schon seit der Generalmobilmachung ist jedem männlichen Ukrainer zwischen 18 und 60 die Ausreise verboten und schon im Oktober letzten Jahres berichtete die Berliner Zeitung, dass die Zahl der erwachsenen Männer, die aus der Ukraine flüchten, steigt („Berliner Zeitung“ 13.10.2022). Mittlerweile werden 45zig Jährige eingezogen. In den Sozialen Medien mehren sich Berichte über Zwangsrekrutierungen. Nicht alle wollen offensichtlich bis zur letzten Patrone kämpfen. Letztlich werden vor allem die kämpfen müssen, die nicht die Ressourcen für die Flucht haben (u.a. für Bestechungsgelder). Insofern hat auch dieser Krieg einen Klassencharakter, auf beiden Seiten. Die Flucht von Deserteuren aller Länder müsste in jedem Fall erleichtert werden, auch das wäre ein Akt der Solidarität.

Kriegsregime

Im schon genannten Buch „Esta guerra no termina en Ukraina/ Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“) versucht Raúl Sánchez Cedillo die gesellschaftliche Militarisierung, die der Krieg mit sich bringt mit dem Begriff des Kriegsregimes zu fassen. In diesem teilt sich der soziale Raum in zwei Pole. Alles wird auf ein Freund-Feind-Schema reduziert. Die in den letzten Jahrzehnten immer stärker gewordenen inneren Widersprüche des Kapitalismus werden so gewissermaßen repressiv stabilisiert. In Russland entstand dieses Kriegsregime schon kurz nach Putins Amtsantritt, im Westen sei es gerade im Entstehen begriffen. Für eine Analyse der Situation, die versucht zu verstehen welche Dynamiken entstanden sind und wie sie unterbrochen werden könnten, bleibt in dem entstehenden Kriegsregime kein Platz, genauso wie für die Unterscheidung von Verstehen und Verständnis. Hier ist nicht der Raum, sich tiefergehend mit der These (oder Befürchtung) eines entstehenden Kriegsregimes auseinanderzusetzen. Anzeichen dafür sind sicherlich zu finden, ob sich diese verdichten und verfestigen wie im Ersten Weltkrieg ist offen. Es ist in jedem Fall wert, sich mit dieser These auseinanderzusetzen.

Die „unübersehbare Moralisierung von Politik, die wir seit Jahren erleben, leistet tatsächlich einem Autoritarismus Vorschub und nicht dem Kampf für Freiheit, Feminismus und Menschenrechte“, schreibt Mario Neumann. Im Taumel des Freiheitskrieges, in dem Deutschland endlich mal auf der richtigen Seite zu stehen scheint, ist man offensichtlich bereit „die Menschen der Ukraine diesen Krieg auch für den Westen kämpfen zu lassen und dessen Unterstützung als uneigennützige Solidarität zu verkaufen“. Alle großen Medien scheinen das mitzutragen. Es gibt nur wenig Ausnahmen.

Die Bezugnahme auf den Zweiten Weltkrieg, die auf beiden Seiten zu beobachten ist, sei rein ideologisch, so Raúl Sánchez Cedillo. Weder ist Putin Hitler, noch herrschen in der Ukraine Nazis. Er vergleicht den Krieg in der Ukraine mit dem Ersten Weltkrieg. Den entscheidenden Punkt für den Vergleich des Ukrainekrieges mit dem Ersten Weltkrieg sieht er dadurch begründet, dass der Erste Weltkrieg die Bedingungen und die Sprache der konservativen Revolution und des Faschismus hervorgebracht hat. „Im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine stehen sich keine faschistischen Staaten gegenüber: Es handelt sich vielmehr um imperialistische Formationen (ultrakonservativ und ultranationalistisch, was den russischen Block angeht) und antagonistische Hegemonen im Weltsystem (China versus USA). Ihre Auseinandersetzungen, Rhetorik und Logik bereiten wie im Ersten Weltkrieg den Rahmen, die politischen Prozesse sowie die Subjektivierungsprozesse vor, die neue Varianten faschistischer Regierungsformen und Befehlsgewalt wieder möglich und wahrscheinlich machen“ . Was auf dem Spiel stehe, sei demnach auch eine zunehmende Verschiebung hin zu Nationalismus, Antisemitismus, militärischem Kolonialismus und Autoritarismus in unseren Gesellschaften. Diese Entwicklung könne nur gestoppt werden, wenn auch der Krieg gestoppt werde. Hierfür sei eine Bewegung für einen konstituierenden Frieden von Nöten. Bisher geben die Ereignisse hier allerdings wenig Grund zur Hoffnung.

Womit wir wieder beim Titel des Artikels wären. Wecken Sie bitte diejenigen, die „schlafwandelnd am Rande des Abgrundes“ (Habermas am 15.02.2023 in der „Süddeutschen Zeitung“) auf die Katastrophe zusteuern…

Ungekürzte Version dieses Beitrags auf links-netz.de

[1] Wie die Gleichsetzung Putins mit Hitler zeigt der Terminus nur, dass die Deutschen einmal mehr gegen sich selbst kämpfen. Im Zusammenhang mit der Ukraine von einem Vernichtungskrieg zu sprechen, ist eine ungeheuerliche Relativierung des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa.

[2] Dieses Ziel wurde im Übrigen schon erreicht. Einziger Faktor, der Russland zu einer Großmacht gemacht hat war die russische Armee, deren konventionelle Möglichkeiten ganz offensichtlich, von nahezu allen Expert:innen grandios überschätzt wurden. Geblieben ist nur die Atombewaffnung. 

2 Gedanken zu „„Wake me up when the apocalypse is over“

  1. Diesen Beitrag habe ich mit großem Interesse gelesen, er wiederholt nicht nur bekannte Positionen, sondern trägt differenziert verschiedene Aspekte zusammen, die in Vergessenheit zu geraten drohen. Lohnt sich, auch zweimal zu lesen ….

  2. „Wer darauf aufmerksam macht, dass die Nato kein Kleingärtnerverein ist und dass sie sich – gegen die Absprachen in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen – kontinuierlich nach Osten ausgebreitet hat und, dass Moskau nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass es die Ukraine als rote Linie betrachtet hat, wird prorussischer Narrative beschuldigt.“

    Hallo Herr Wissel,
    ich bin nur ein dummer Leser. Aber Sie als Professor können mir sicherlich das exakte Zitat dazu im Zwei-plus Vier-Vertrag zeigen.
    Danke im Voraus

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