Die meisten Konflikte auf dieser Welt machen keine Schlagzeilen. Irgendwo dahinten oder da unten interessiert kaum, es sei denn, europäische oder amerikanische Interessen sind berührt. Viele dieser Auseinandersetzungen sind eine Folge kolonialer Herrschaft. Zwischen Indien und Pakistan wabert so ein Konflikt. Seit über 75 Jahren. Mal mehr, mal minder kriegerisch. Hier 1,4 Milliarden Einwohner, dort 230 Millionen und dazwischen prall gefüllte Kernwaffenarsenale. Beide Länder ignorieren sich im Alltag tatkräftig. Mit einer Ausnahme. An ihrem einzigen Grenzübergang zelebrieren sie jeden Abend vor 20.000 und mehr Menschen ein absurdes Hochamt für Patriotismus und Nationalstolz. Ein Match, das viel über die Ursachen von Konflikten erzählt, das Anlass zur Hoffnung gibt, das aber auch Ängste weckt, wie Matthias Müller empfindet, der Anfang des Jahres vor Ort war.
Parade paradox, Chauvi-Comedy, Gockel-Stadel? Im World Wide Web ist die Flaggenzeremonie, die Indien und Pakistan an ihrem einzigen offenen Grenzübergang pünktlich zum Sonnenuntergang zelebrieren, immer wieder Ziel von Spötteleien. Die Bühne der allabendlichen Show: ein Stadion mitten in der Einöde zwischen den Dörfern Attari und Wagah. Eine Arena: kastriert, als sei dem Bauherrn nach dem Richtfest das Geld ausgegangen. Einst ein öder Rastplatz am Highway von Kalkutta nach Kabul lockt der Ort heute Tag für Tag 20.000 und mehr Besucher aus beiden Ländern zu einem bizarren Happening. Ein einstündiges Match für Heimatliebe und Vaterlandstolz. Das geneigte Publikum darf -fein säuberlich getrennt nach Nationen und im pakistanischen Teil auf den hinteren Plätzen auch nach Geschlechtern – das Spektakel in je einer Halbarena links und rechts der Grenze verfolgen. Ohne Platzwahl: Beide Teams haben immer ein Heimspiel.
Unser Autor Matthias Müller reiste 2018 das erste Mal nach Indien. Der Eisenbahn zuliebe. Im Februar 2023 besuchte er die Nachbarn Indien und Pakistan. Die Grenze zwischen beiden Staaten konnte er am einzigen offenen Straßenübergang nur zu Fuß passieren. An diesem Ort zelebrieren allabendlich beide Länder die Flaggeneinholung mit Pomp und Getöse. Matthias Müller hat diese Zeremonie innerhalb einer Woche auf beiden Seiten als Zuschauer verfolgt. Seine Erlebnisse und Einschätzungen zum Spektakel hat er für Bloghaus.eu beschrieben. Seit 2008 ist Müller häufig in Asien unterwegs. Mit dem Rucksack. Per Bus und Bahn: „In den Abteilen ist Zeit, mit den Menschen zu reden, ihr Leben zu erfahren“. 2016 reiste Müller in regulären Zügen in 36 Tagen mit 25-mal Umsteigen entlang der Seidenstraßen von Offenbach am Main nach Saigon an den Mekong. Im März 2023 hat er die Fahrt in Etappen auf der längsten Schienenstrecke der Welt zwischen der Algarve in Portugal und Singapur vollendet.
Hohe Ränge säumen die indische Hälfte. Bundesligastandard. Die pakistanische Seite gibt sich mit Tribünen auf Regionalliga-Niveau bescheiden. Quer über den Platz ein dicker weißer Strich, links und rechts beschützt von zwei Maschendrahtzäunen. Quasi eine Mittellinie im Hochsicherheitstrakt. Im Anstoßkreis krönen vergoldete Spitzen zwei schmiedeeiserne Schiebetore, davor je ein Fahnenmast. Oben flattern bei Tag die Tücher der beiden Nationen, bis sie beim letzten Sonnenstrahl -feierlich inszeniert – eingeholt werden: „Ein Volksfest“, so der Deutschlandfunk, „zwischen Stacheldrähten, Grenztürmen, Flutlichtmasten und Maschinengewehren“.
Indien und Pakistan sind -vorsichtig formuliert- Rivalen. Beide Länder bunkern in ihren Arsenalen reichlich Atomwaffen. Zwei Nationen, die die Region Kaschmir für sich beanspruchen. Zwei Staaten, die in der Vergangenheit bereit waren, für die Annexion dieses strategisch wichtigen Landstrichs zu kämpfen. Blutig aber bislang -„zum Glück“- nur konventionell.
Drei Stunden vor Beginn des Spektakels setzt sich aus den je dreißig Kilometer entfernten Millionenstädten Amritsar (Indien) und Lahore (Pakistan) eine Autokarawane zum Schlagbaum in Bewegung. Über den staubigen Pisten wabern bläuliche Abgase aus voll besetzten Bussen, bunt geschmückten Taxen und knatternden Tuk-Tuks. Dazwischen lavieren livrierte Chauffeure, nervös hupend, Limousinen. Die Nomenklatura gibt sich gerne patriotisch und volksnah. Um die Blechlawine zu bändigen, bauten die Inder eigens ein mächtiges Parkhaus zwischen Niemandsland und einem Vergnügungspark. Auch Familienbelustigung mit Karussell, Riesenrad, Schiffschaukel, Hüpfburgen und reichlich Streetfood können zu einem patriotischen Trip motivieren. Die Kirmeswelt für die Anhänger des Teams Pakistan 500 Meter weiter präsentiert sich mit einem Café und drei kleinen Schaukelraketen deutlich schlichter.
In Indien leben etwa 1,4 Milliarden Menschen, in Pakistan rund 230 Millionen. Direkte Flug- oder Schiffsverbindungen zwischen den Nachbarn existieren nicht mehr. Die Signale der Eisenbahnen stehen seit 2019 auf Halt. In diesem Jahr eskalierten die Spannungen im Kaschmir wieder einmal. Der pakistanische Eisenbahnminister schwor, solange er im Amt sei, werde sich das Tor für Personenzüge und Busse nicht mehr öffnen. Noch bezieht der Mann sein Salär. Für den dürftigen Lkw-Transit reicht eine Zollstation an einer Umfahrung neben der Arena. Touristen und Einheimische müssen die Grenze zu Fuß passieren. Täglich von 9 bis 15 Uhr. Eine Stadionrunde vorbei an leeren Rängen inklusive.
Es sind kaum dreißig Personen, die mit mir an einem angenehm sonnigen Morgen im Februar 2023 die Grenze von Indien nach Pakistan überqueren. Alle Überläufer werden am Eingang sorgfältig gelistet: Passnummer, Geburtsdatum, Heimatort, Arbeitgeber, Hotelübernachtungen und viel unnützes Wissen mehr. Das Prozedere ist bürokratisch aufwändig aber nicht unfreundlich. Siebenmal sind die Papiere aus der Plastikhülle zu klauben, dreimal gilt es zu warten bis ein Beamter die Daten aufs Neue mit einem Finger in die Tastatur hackt. Dazu die immer gleichen Routinefragen. Das Gepäck wird doppelt gescannt und „sicher ist sicher“ von einem Hund beschnüffelt.
Ein gepanzerter Bus transportiert die Grenzgänger die letzten 200 Meter bis zu einem Partyzelt am Rand der Arena. Ein abschließender Zählappell, eine finale Geduldsprobe, wenn der Ausweis noch einmal handschriftlich kopiert und das Visum für das Nachbarland kontrolliert wird. Dann endlich: ein letztes „Good bye, nice to meet you“ an den indischen Soldaten hart an der weißen Linie.
„Salaam Aleikum – welcome in Pakistan“ begrüßt mich sein Kollege mit Pudelmütze kaum zwei Meter weiter in einer anderen Welt. Während ich noch für ein Selfie posiere, lädt ein Träger meinen Rucksack auf seine Karre. Chance vertan, den Preis zu verhandeln. Dennoch ein Segen: Der Weg bis zum Zoll ist einige hundert Meter lang. Zeit genug, um bei meinem Gepäckträger, ein unternehmerisches Multitalent für Hotel und Taxi, meine letzten indischen Scheine in Pakistanische Rupien zu tauschen, wenn auch zu einem Katastrophenkurs. Pass- und Gepäckkontrolle verlaufen auf der pakistanischen Seite entspannt. Der junge Beamte interessiert sich mehr für meinen nicht vorhandenen Netflix-Vorlieben und unsere (blödes Thema) National-Kicker denn für meinen Pass. Einzig die Frage, ob ich Christ sei, irritiert. Nach einem kurzen Check durch einen der allgegenwärtigen Geheimdienste -zu erkennen an der modischen Kleidung und dem teuren Schuhwerk der Beamten hier im Nirwana – sitze ich in einem Klein-Transporter Richtung Lahore. Noch ist die Straße frei, jedenfalls bis zum allabendlichen Match Day.
Die routinierte Gelassenheit auf einem Außenposten fern der Hauptstadt endet täglich gegen 15 Uhr. Dann ist die Zeit gekommen für die peniblen Kontrollen an den Zugangsschleusen vor den Stadionrängen. Nur das Handy und ein Fotoapparat dürfen die Metalldetektoren passieren. Kugelschreiber, Notizblock, Batterien, Ersatz-Akku und Rucksäcke bleiben draußen. Im Jahr 2014 hat ein Selbstmordattentäter hier 45 Menschen in den Tod gerissen. Gleich ob in Indien oder Pakistan: Die wenigen Ausländer werden vor dem Spektakel persönlich zum VIP-Block begleitet. Von hier habe man den besten Blick auf das Geschehen, so die treuherzige Begründung. Widerspruch zwecklos. Denn genau auf diese Sitzreihen haben die Überwachungskameras freie Sicht.
Bis zum Beginn von Show und Schlachtgesängen nerven auf riesigen LED-Videowänden endlose und vor allem laute Werbeblöcke. Eliteeinheiten der benachbarten Nationen demonstrieren in den Clips Einsatzwillen und Kampfkraft. Egal ob in den eisigen Höhen im Himalaya oder in sengender Wüstenhitze: die Grenzen sind sicher, so die subtile Botschaft der Mimen. Jeder von ihnen ein waschechtes Double für Rambo, Steven Seagal oder Arnold Schwarzenegger. Während über den Köpfen die Displays in grellen Bonbon-Farben Stärke und Power verheißen, beginnen unten in den Manegen die Darsteller mit dem Warm-up.
Präludium: Lächeln statt Drill. Die Akteure posieren für unzählige Selfies. Freundlich oder majestätisch, mit oder ohne Flinte und quasi als Apercu mit Kind oder Waffe auf dem Arm: kein Wunsch bleibt unerfüllt. Je näher an den VIP-Tribünen umso besser.
Erster Akt: die Gladiatoren laufen ein. Voraussetzung für ihren Auftritt: Gardemaß und Muskelpakete. Auch die deutlich kleiner gewachsene weibliche Riege wirkt durchtrainiert. Mächtige Fächerhüte machen aus Soldaten Riesen. Symbolik und Effekthascherei allenthalben. Die Bärte der Kämpfer hat die Maske sorgfältig gewichst und gezwirbelt; ein Zeichen von Würde und Erhabenheit ebenso wie die weißen Gamaschen und Stulpen über den penibel gebügelten Uniformen.
In Indien erinnern die gelb-rote Farbe der Fächer auf den Helmen an den Ausflug einer Gockelherde zum Hahnenkampf. Auf pakistanischem Gebiet ähneln die Männer mit ihren schwarzen Federbüschen Putern. Mein pakistanischer Begleiter erzählt, viele der Darsteller kämen aus seinem Nachbardorf. Dort leben überproportional viele groß gewachsene Menschen. Das mag genetische Gründe haben. Vielleicht liegt es aber auch nur an den (wirklich) guten Orangen seiner Heimat, mit denen er mich pausenlos füttert.
Zweiter Akt: Mit der Abenddämmerung wächst die Euphorie. Die Stunde der Stimmungskanonen naht. Auf der indischen Seite tragen die Entertainer Kampfmontur, schusssichere Weste inklusive. Nebenan in Pakistan kleiden sich die Animateure in Landestracht. Ein folkloristischer Kontrast. Ihr Job: Wie Gaudiburschen auf dem Oktoberfest sollen sie die Hütte zum Kochen zu bringen. Klatschend und hüpfend wie Mick Jagger in seinen Blütejahren macht der Showkönig aus Indien den ersten Aufschlag. „India, India“ hallt es durch das Rund.
Nimmermüde fordern die Vorturner auf beiden Seiten ihr Publikum zum Schwur auf ihre Nation: „Pakistan Zindabad“ – „Lang lebe Pakistan“ – skandiert die Menge hier. „Hindustan Zindabad“ – „Lang lebe das Land der Hindus“ – antwortet die Masse dort. Immer und immer wieder. Sobald der Elan des Auditoriums hörbar nachzulassen droht, halten die Einpeitscher, man kennt es vom Frontman einer Rockband, die Hand wie eine Muschel ans Ohr. So eine Art „Ich höre nichts“, ein verzweifeltes Buhlen um Zugabe. Nebenbei: Die Soundmaschinen diesseits und jenseits der Grenze würden jedes ACDC-Konzert unbeschadet überstehen. Auffallend: Die Anlagen sind hüben wie drüben so ausgesteuert, dass sie den eigenen Anhängerblock bespaßen, ohne den Gegenüber zu übertönen.
Dritter Akt: Es wird exerziert. Endlich beginnt der Höhepunkt. Dreißig Minuten Show, opulent wie eine Oper mit einem Hauch von Sandhurst. „Schattentango ohne Anfassen“ witzelte ein Spötter im Netz über den Reigen. Jeder Seite versucht mit akrobatischen Übungen den Gegenüber zu beeindrucken. Stechschritt im Takt der Trommeln, Fußspitzen bis an die Nasenspitze, wirbelnde Arme. Immer neue überraschende Pirouetten und Drehungen, Linksrum, Rechtsrum, vorwärts zurück, Gewehr bei Fuß, Augen links: Jedes neue Kommando bringt die Ränge in Rage. Ein Publikum außer Rand und Band inmitten eines Fahnenmeers. In Indien in Orange, Weiß und Grün, in Pakistan nur in Grün-Weiß. Immerhin: Weiß, die Farbe des Friedens, darf sich auf den Flaggen behaupten.
Das Ensemble bietet Line Dance der Spitzenklasse. Zur Olympiareife fehlen nur noch wie beim Eiskunstlauf der doppelte Axel, der dreifach Flip oder der eingesprungenen Toeloop. Simultan der Aufmarsch der Kompanien. Jede Drehung, jede Figur scheint über den weißen Strich hinweg perfekt geübt. Auf die Zehntelsekunde genau starten die männlichen und weiblichen Bataillone von ihren Blöcken, die rund 100 Meter voneinander entfernt stehen, die Schrittfolge exakt aufeinander abgestimmt. „Choreographiert wie beim Synchronschwimmen“, so ein Blogger. Zum Glück hasten dienstbare Geister durch die prall gefüllten Reihen. Ein Blockbuster ist ohne Popcorn und Cola nur halb so schön.
Forsch paradieren die Truppen bis zur weißen Grenzlinie, um im letzten Moment abzudrehen. Direkt vorne stehen sich zwei Soldaten Aug in Aug gegenüber. Starrer Blick. Kein Lächeln. Immerhin hat sich diese Situation gegenüber der Zeit entspannt, als der Kaschmir-Konflikt heiß war. Vor fünf Jahren erinnerte die Mimik der beiden Akteure am Schützengraben an Wrestler vor dem Finalkampf. Mit Muskelspiel und Gesten versuchten sich die gegnerischen Waffenbrüder lächerlich zu machen. Auch aus dem Publikum waren abwertende Gesänge Richtung Nachbarland zu hören, wie mein Nachbar damals übersetzte. Jetzt pflegen beide Lager wieder zivilisierte Umgangsformen. Mein Nebenmann auf der indischen Seite versicherte mir 2023 ebenso wie eine Woche später sein pakistanisches Pendant, aktuell seien nur Gesänge angesagt, die das eigene Land preisen. „They only want to make the people happy“, so der Hindu. Vulgo: „Brot und Spiele“.
Letzter Akt: die eigentliche Flaggenzeremonie. Sie ist eher kurz und schmerzlos. Trotzdem hält das Publikum die Luft an. Die Fahnen müssen auf den Millimeter genau zeitgleich sinken, so ist in den Reiseführern nachzulesen. Hängt ein Tuch eine Sekunde lang niedriger als das andere, ist die Schmach groß. Den Sünder erwartet dann wahrscheinlich die Aufgabe, sämtliche Latrinen in den Kasernen mit der Zahnbürste zu schrubben. Mit dem letzten Sonnenstrahl werden die Flaggen abgenommen und penibel auf Falte gelegt. Zwei Offiziere, offensichtlich keine Angehörigen der Spaßkompanien, salutieren korrekt und mit militärischem Respekt. Immerhin ein fester Händedruck zwischen zwei Atommächten, die sich trotz der gemeinsamen Farbe in ihren Flaggen nicht „grün“ sind. Noch zwei Unterschriften für das Protokoll und das Tor wird auf beiden Seiten für eine Nacht fest verschlossen. Schnell kehrt wieder Ruhe zwischen Stacheldraht und Maschinengewehren ein.
Aufbruchstimmung. Die Menschen eilen zu ihren Autos, um dem befürchteten Stau zu entfliehen. Draußen verramschen Devotionalienhändler Kappen, DVDs und Fähnchen. Nur wenige Besucher eilen für einen letzten Blick zum Tor. Hier könnten die Menschen, so ein Beobachter, quasi wie in einen Spiegel schauen. Viele der Anwesenden auf beiden Seiten sprechen eine gemeinsame Sprache: Panjabi. Nirgendwo auf dem Subkontinent sind sich die Nachbarn so nahe wie in dieser Arena. Trotzdem können sie sich nicht direkt begegnen oder gar in den Arm nehmen. Meine häufig gestellte Frage, ob meine Gesprächspartner das andere Land schon einmal besucht haben, verneinen alle unisono. Ihre Begründungen sind oft ausweichend: Keine Zeit, zu viel Bürokratie, aber auch die Furcht, nach der Reise ins Visier von Polizei und Geheimdiensten zu geraten.
Links und rechts der Grenze leben Sikhs, eine religiöse Minderheit unter Muslimen und Hindus gleichermaßen. Während der britischen Kolonialherrschaft gehörte der Landstrich zur Provinz Punjab. Sikhs, Hindus und Muslime lebten Tür an Tür vereint im Kampf gegen den Besetzer. Im Jahr 1919 massakrierten die Engländer aus nichtigem Anlass 379 Demonstranten aller drei Religionen in einem Park in Amritsar nahe der heutigen Grenze. Flucht unmöglich. Die fünf Zugänge sind kaum mehr als einen Meter breit. Heute ist die Anlage eine Gedenkstätte. Einschusslöcher vermitteln immer noch eine bedrückende Vorstellung von dem Geschehen vor mehr als hundert Jahren.
Die gemeinsame Erfahrung hat nicht auf Dauer getragen. Die Engländer teilten vor ihrem Abzug den Punjab mit einem dicken Bleistift auf der Landkarte, ohne Rücksicht auf Stämme und Religionen. Je eine Hälfte wurde Indien und Pakistan zugeschlagen. Die Folge: die wechselseitige Vertreibung von rund zehn Millionen Männern und Frauen wegen ihrer Religion, die Ermordung von einer Million Menschen und die Vernichtung ganzer Städte und Dörfer. Tausende Flüchtlinge starben elend am Wegesrand. Ein Museum im pakistanischen Lahore vermittelt eindrucksvoll die Grausamkeiten dieses De-Facto-Bürgerkriegs. Der Bahnhof von Wagah, dem Dorf nahe der Grenzzeremonie, war Schauplatz von einem der schlimmsten Massaker.
Seit 75 Jahren haben die Nachbarländer die Folgen der Teilung nicht überwunden. Seit 1965 trennt sie ein Stacheldraht. Moslems und Hindus versichern in persönlichen Gesprächen immer wieder, mit den Sikhs könne man prima zusammenleben. Aber den Moslems beziehungsweise den Hindus sei, je nach Religionsangehörigkeit des Gegenübers, nicht zu trauen. Sie trachteten nur danach, den jeweils anderen zu unterdrücken. Dieses Misstrauen prägt die Beziehungen beider Länder nachhaltig. Viele Milliarden Rupien sind von Militär und Atomwaffen gebunden. Geld, das zur Versorgung der Bevölkerung mit Bildung und Nahrung fehlt.
Ein Zusammenwachsen der Länder des Subkontinents von Pakistan bis Bangladesch und von Nepal bis Sri Lanka ähnlich der Europäischen Union könnte eine Entwicklung hin zu mehr Wohlstand einleiten. Wer durch Pakistan reist, ist erstaunt über die Fruchtbarkeit des Bodens. Die Wasser des Himalayas garantieren mehrere Ernten im Jahr. Die Länder sind reich an Bodenschätzen und kulturellen Raritäten. Das Eisenbahnsystem gilt als gut ausgebaut. Die Eliten sind technikaffin. Das tägliche Flaggenritual, das seit dem Jahr 1951 (andere sagen seit 1959) zelebriert wird, ist heute neben der Flugsicherung eines der raren gemeinsamen Glieder zwischen den Rivalen. Ein Ritual, das irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Dennoch: Die Seifenoper ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Der Hoffnung, dass die Menschen eines Tages in einem gemeinsamen Stadion feiern und Sitz an Sitz den bunt gemischten und gefederten Truppen zuwinken, gleich aus welcher Kaserne sie kommen.
Eine persönliche Anmerkung
In vielen Ländern Asiens stören kriegerische Konflikte den wirtschaftlichen Alltag der Menschen kaum. Zu hart ist der tägliche Kampf um das Existenzminimum. Ich habe in einer Schlange am Schlagbaum zwischen Thailand und Kambodscha gestanden, während kaum dreißig Kilometer weiter Soldaten im Kampf um ein paar verlassene Tempel an der Grenze starben. Business as usual. Am Rand des Himalayas nahe der Grenze gewöhnt man sich an die Posten mit MG vor dem Hotel und auch daran, dass man in einem mit Soldaten besetzten Bus mal eben das Schnellfeuergewehr seines Nachbarn halten muss, weil der ein Tempo-Taschentuch sucht. Trotzdem: Wie viele andere Westler habe ich die Zeremonie an der Grenze mit Unbehagen verfolgt. Man mag es „Europäische Angst“ nennen: aber ich habe mich während der gesamten Inszenierung jedes Mal und immer wieder gefragt: Was ist denn, wenn hier beim patriotischen Hochamt mal was aus dem Ruder läuft, bei all den Nuklearwaffen, die in den Raketensilos der Nachbarn nur wenige Kilometer entfernt lagern.