Wenn das keine Zeitenwende ist: Zwei Drittel der Bevölkerung misstrauen der Regierung und ihrer Politik! Das ausgestellte miserable Zeugnis resultiert aus einer gefühlten Ohnmacht angesichts der Häufung und Überlappung massiver Krisen. Eine Mehrheit sieht sich bedroht und nicht wenige sind in einer Endzeitstimmung, auch weil sie beispielsweiser beim Ukrainekrieg und dem Klimawandel kein Licht am Ende des Krisen-Tunnels erkennen können. Zukunfts-Zuversicht scheint nur noch im Privaten möglich. Die Zeitenwende erfordert aber eher eine Neuorientierung hin zum Schulterschluss für ein kollektives Entscheiden und Anpacken.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag den Begriff der Zeitenwende prägte und feststellte, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe ist wie davor, setzte er diesen Begriff in unmittelbaren Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und begrenzte ihn damit primär auf eine neue Ausrichtung der künftigen Sicherheitsstrategie in Deutschland und Europa.
Diese Fokussierung beleuchtet das gesamte Spektrum der Veränderungen aber nicht hinreichend, denn „dieser Krieg wirkt wie eine „zukunftsverändernde Explosion, der großen Trends in Politik, Wirtschaft und Technologie verschiebt“, so die Politikwissenschaftlerin Claudia Major in einem Beitrag der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“.
Und diese „zukunftsverändernde Explosion“ nehmen die Menschen eineinhalb Jahre nach dieser Regierungserklärung auch zunehmend wahr. Sie spüren, dass unter dem Eindruck des Angriffskrieges auf die Ukraine zusätzlich eine neue gesellschaftspolitische Entwicklung in Gang gesetzt worden ist, dass diese Zeitenwende weit über eine künftige nationale Sicherheitsstrategie hinausgeht, dass es um mehr geht als um das 100 Milliarden Euro schwere „Sondervermögen“ für die Bundeswehr oder die Aufstockung des Verteidigungsetats.
Nach den durch die Pandemie bedingten Einschränkungen geht es unter dem Eindruck des andauernden Angriffskrieges auf die Ukraine nunmehr auch um Energiekrise, Folgen des Klimawandels, Migration und Flüchtlingsströme, Rückgang des Wirtschaftswachstums oder nachhaltigen Fachkräftemangel, um nur einige Stichworte zu nennen. Für den Zukunftsforscher Horst Opaschowski ist historisch neu, dass aktuell viele Krisen gleichzeitig stattfinden, während Krisen wie beispielsweise die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl, der Golfkrieg, der Anschlag auf das World Trade Center oder die Nuklearkrise in Fukushima nacheinander, das heißt jeweils in einem Jahrzehnt stattfanden.
Die in den letzten Monaten sehr emotional geführte Debatte um das Gebäudeenergiegesetz (GEG) mag beispielhaft dafür sein, wie verunsichert die Menschen sind. Viele verstehen nicht mehr wirklich was um sie herum auf einmal geschieht und schauen orientierungslos in die Zukunft. Die Menschen merken nachhaltig, dass bisherigen Denkmuster, Verhaltensweisen, Problemlösungen und Planungen nicht mehr richtig funktionieren. Die Zeitenwende ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Es ist eine Phase großer Unsicherheit und geringer Stabilität eingetreten.
Und die Angst der Menschen, auch dies hat spätestens das politische Gezerre um das GEG deutlich gemacht, wird von der Politik nicht aufgenommen. Da ist es wenig hilfreich, wenn der Bundeskanzler versucht die Bevölkerung mit Aussagen wie „You never walk alone“ oder „Wir lassen niemanden allein“ zu beruhigen.
Flucht vor der Wirklichkeit
Diese negative Stimmungslage in der Bevölkerung wird an einer tiefenpsychologischen Studie und repräsentativen Befragung, die das Rheingold Institut Köln im Auftrag der gemeinnützigen Stiftung für Philosophie Identity Foundation durchgeführt hat, mehr als deutlich. Danach ist ein Großteil der Bevölkerung mit Blick auf Politik und Gesellschaft desillusioniert und hat auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück reagiert. Der Vorsitzende der Identity Foundation, Paul J. Kohtes, resümiert die Erkenntnisse aus dieser Studie dahingehend, dass man diese als dramatisch bezeichnen kann und diese tiefe Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten das nationale Zusammenleben bedrohe.
Die Erkenntnisse der Studie kann man als dramatisch bezeichnen. Eine tiefe Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten, wie sie sich hier zeigt, bedroht unser nationales Zusammenleben. Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik in klein-klein verheddern.
Paul J. Kohtes, Vorsitzender der Identity Foundation
Nach dieser bemerkenswerten Studie empfinden 23 Prozent der Befragten beim Blick auf die Politik Zuversicht, dagegen stimmen 56 Prozent der Aussage zu, dass sie am liebsten auswandern würden, wenn sie die Entwicklung der Politik und gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland betrachten.
59 Prozent fühlen sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert und nur 39 Prozent sagen von sich, dass sie sich noch ausführlich über das Weltgeschehen informieren. Zwischen großem privatem Optimismus (87 Prozent) und nahezu gleich ausgeprägtem politischen Pessimismus (77 Prozent) blicken lediglich 55 Prozent eher zuversichtlich in die Zukunft. Und nur 34 Prozent vertrauen dem Handeln der Regierung. Aber, und dies stimmt dann auch wieder optimistisch, stimmen nach der erwähnten Studie immerhin 83 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass auch in diesen Zeiten politischer Herausforderungen unsere Demokratie nach wie vor die beste Lösung ist.
Als Reaktion auf die empfundene Aussichtslosigkeit ist der Rückzug in das private Glück bzw. findet eine große Mehrheit von 87 Prozent der Befragten Zuversicht in der Familie, bei Freunden und Bekannten. Dieses Verhalten kommentiert der Gründer des Rheingoldinstituts Stephan Grünewald damit, dass diese Empfindung „wie ein Vorhang der Verdrängung wirkt, der das private Leben zusehends von der öffentlichen Sphäre trennt“. Zu dieser Einstellung mag auch passen, dass Befragungen im Zusammenhang mit der Diskussion um die Viertagewoche zeigen, dass viele Vollzeitbeschäftigte insgesamt etwas weniger arbeiten wollen und mittlerweile der „Zeitwohlstand“ eine ähnlich hohe Präferenz genieße wie die Gehaltsvorstellung.
Was braucht es nun für einen optimistischeren Blick in die Zukunft?
Was bietet noch Orientierung, vor allem in Zeiten wie diesen?
Vielleicht haben wir alle in den letzten Jahren zu sehr in einer „Blase“ gelebt, ging es uns lange Zeit zu gut, haben uns in unserem vermeintlichen Wohlstand eingerichtet und sich andeutende Veränderungen nicht wahrnehmen wollen. Dazu passt, dass die oben genannte Studie auch feststellt, dass „die Deutschen sich psychologisch betrachtet nicht in einer (visionären) Zeitwende, sondern in einer gedehnt wirkenden Nachspielzeit befinden“ und hoffen „dass die Verhältnisse, die sie kennen und schätzen, wenigstens noch eine gewisse Zeit fortbestehen“ so Institutsgründer Grünewald.
In dieser Wohlfühlphase ist es versäumt worden, nach der Agenda 2010, deren Reformprogramm weitgehende Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik, im Gesundheitswesen und dem Rentensystem in Gang setzte, weitere grundlegende Transformationen auf den Weg zu bringen. So kann es nicht verwundern, dass Deutschlands wirtschaftliche Aussichten aktuell schlecht sind. Nach der Wachstumsprognose des Internationale Währungsfonds haben sich in allen großen Industrieländern die Aussichten verbessert, nur Deutschlands Prognose wurde gesenkt. Außerdem ist der Geschäftsklimaindex im Juli zum dritten Mal in Folge gefallen, die Investitionen sind auf einem Tiefstand.
Verantwortung allein bei der Politik?
Deutschland müsse wieder umschalten, sein Bewusstsein ändern, so der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel Schularick. Es müsse weg von dem Gefühl, der starke Mann Europas zu sein, der es lange war und erkennen, dass es wieder ein kranker Mann sei. Er führt weiterhin aus, dass sich die Frage stellt, wer in den nächsten Jahren die Staatsschulden und die Renten, den klimafreundlichen Umbau oder den Ausbau der Kindergrundsicherung finanzieren soll, wenn die Wirtschaft weiter schrumpft.
Noch existiert kein in sich schlüssiges Mosaikbild, wohin Deutschland sich in Zukunft weiterentwickeln könnte. Einzelne Mosaiksteine aus den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Wirtschaft und Finanzen, Klima, Energie, Technologie sind zwar bekannt beziehungsweise wurden von der Regierung benannt. Diesbezüglich mögen die Reform des Gebäudeenergiegesetzes, die Notwendigkeit des Ausbaus der Windenergie, die Loslösung von der langen Abhängigkeit von Russland in den Bereichen fossiler Energieträger, oder das Bemühen der EU, die illegale Migration zu begrenzen, beispielhaft sein.
Für Claudia Major ist ein Jahr Zeitenwende denn auch ein Jahr der Neuvermessung all dessen, was sich verändert hat und sich weiter verändern wird. Sie stellt weiterhin fest, dass vor allem vorhandene und zukünftige Abhängigkeiten ins Bewusstsein gerückt sind, die Sicherheit, Wohlstand und politische Teilhabe begrenzen können.
Aber was braucht es, um diesen Veränderungsprozess nachhaltig in Gang zu setzen? Reicht es aus, die Verantwortung allein der Politik zuzuschieben? Um es mit dem ehemaligen Präsidenten der USA, John F. Kennedy zu sagen: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt was ihr für euer Land tun könnt“.
Vielleicht könnte eine neue sogenannte „Ruckrede“ weiterhelfen, die der damalige Bundespräsident Herzog 1997 in Berlin hielt, weil er Deutschlands Wirtschaftsentwicklung mit wachsendem Unbehagen verfolgte: Fast vier Millionen Menschen waren arbeitslos, weitere drei Millionen bekamen Sozialhilfe. Mit dieser Rede wollte Herzog die Deutschen aufrütteln. Seine Kernthese: „Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung etwa zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin“.
Der Ökonom Christian Hagist bescheinigt Herzog, damals die Finger in die richtige Wunde gelegt habe. Als Beispiel nennt er die Notwendigkeit des auch heute noch aktuellen Problems des Bürokratieabbaus oder die Klage über zu geringe Risikofreudigkeit der Unternehmer in Deutschland. Der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das Kabinett unter Bundeskanzler Gerhard Schröder während der Entwicklung der Agenda 2010 viele Punkte indirekt angesprochen habe, die von Roman Herzog in seiner Rede thematisiert worden waren.
Dies zeigt, dass ein Aufrütteln, ein Aufzeigen von Visionen durchaus Möglichkeiten bieten kann, den Menschen eine neue Orientierung zu geben. Darauf verweist auch die bereits erwähnte Studie des Rheingoldinstituts. Danach stimmt eine Mehrheit von 73 Prozent der Aussage zu, dass sich vieles ändern muss und sagt, „dass der Einsatz von jedem Einzelnen entscheidend ist, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu stemmen“. Was zu fehlen scheint, um diese Bereitschaft zum Anpacken zu mobilisieren, ist eine übergreifende Perspektive der Politik, die Wege für ein gemeinsames Handeln aufzeigt. Hierfür, so die Forscher, sei eine offene und konstruktive Diskussionskultur entscheidend, um Resignation zu überwinden und die Bereitschaft zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung zu fördern.
Erst die richtigen Fragen stellen
Damit dies gelingt, sollten die Werte unseres Grundgesetzes herangezogen werden, die als verbindlicher Rahmen für den Staat und seine Bürgerinnen- und Bürger gelten. Und zu gehören Werte wie Respekt und Toleranz, die Triebfeder für eine sinnstiftende Streitkultur sind.
Thomas des Maiziere hat in einer Rede bei der Vorstellung der 15 Thesen der „Initiative kulturelle Integration“ am 16. Mai 2017 mit Verweis auf das Grundgesetz zu Recht ausgeführt, dass die Debatte, wie wir in unserem Land zusammenleben wollen, niemals vom Ende – vom Ergebnis – gedacht werden darf. „Denn das „eine“ Ergebnis der Debatte kann und wird es in einer freiheitlichen und sich verändernden Gesellschaft niemals geben. Die Debatte selbst ist das Ziel, weil und wenn sie zusammenführt und gerade nicht spaltet. Diese Debatte setzt einen eigenen Standpunkt voraus, denn erst der eigene Standpunkt lässt Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Und es sind doch eben jene Gemeinsamkeiten, die wir suchen, wenn wir danach fragen, was unser Land im Innersten zusammenhält.“
In gewisser Weise befinden wir uns gegenwärtig in einem Zustand des perfekten Umbruchs, der uns gleichzeitig die große Chance bietet, die eigene Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Autorin Christiane Mähr führt in einem Artikel des Magazins „Zukunft neu denken“ hierzu aus, dass wir dafür keine Zukunftstrends oder sonstige Vorhersagen brauchen. Vielmehr gelte es, die Möglichkeiten zu sehen, die sich vor uns auftun. Es gehe darum, den gedanklichen Trendbildern einen richtigen Raum zu geben und ins Tun zu kommen. „Orientieren, Positionieren und Navigieren in unbekannten Zukunftsgefilden beginnt im Kopf. Der erste Schritt besteht darin, sich die richtigen Fragen zu stellen. Also auf was warten wir noch?“ so die Autorin.