Das „Bürgergeld´“ ist kein Paradigmenwechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Es setzt eine insgesamt erfolgreiche Linie fort, bringt einige Verbesserungen, kann aber auch unerwünschte Nebenwirkungen haben. Ob sich der Kampfplatz Grundsicherung mit einem neuen Label befrieden lässt, bleibt abzuwarten.
1. Ohne Kompromisse ging es nicht
Der Rauch der politischen Debatte hat sich verzogen. Man sieht jetzt, wo die Reise hingeht. Aus „Hartz 4“ soll nun ein „Bürgergeld“ werden. Die Ablösung von „Hartz 4“ war ein zentraler Punkt im Koalitionsvertrag der Ampel aus SPD, Grünen und FDP. Der kann nun abgehakt werden.
Auf der Zielgeraden des Gesetzgebungsprozesses hat es jedoch noch einmal ziemlich geholpert. Die Länder mussten ins Boot geholt werden, denn dem 12. Änderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, so der offizielle Titel dieses zentralen Teils der deutschen Sozialgesetzgebung, musste auch der Bundesrat zustimmen. Oppositionsführer Friedrich Merz nutzte die Chance geschickt, um die Mehrheit der CDU-Länder in Stellung zu bringen und noch einmal deutliche Änderungen am Regierungsentwurf durchzusetzen, den zuvor auch schon der Bundesrechnungshof als in weiten Teilen kontraproduktiv und zu teuer kritisiert hatte.
Immerhin, es gab einen Kompromiss und das „Bürgergeld“ kann nun, verbunden mit deutlichen Erhöhungen der Regelsätze für Geldleistungen zum Jahresbeginn 2023, teilweise erst zur Jahresmitte in Kraft treten. Ob die heftigen und zum Teil giftigen Debatten, die dieses System der Grundsicherung seit Einführung im Jahr 2005 begleitet haben, damit befriedet werden, bleibt abzuwarten.
„Punkteteilung“ würde man im Fußball sagen. Für die CDU war es ein Auswärtspunkt, für die Ampel der vergebene Dreier auf dem Home-Turf. Wäre es Fußball, müsste der Trainer der Ampel in der Nachbesprechung zum Spiel ohne Zweifel den planlosen Spielaufbau und die mangelnde Absicherung nach hinten zum Thema machen.
Aber es ging nicht um Fußball, sondern um das Weiterschreiben der Geschichte eines wichtigen Kapitels der Sozialpolitik und der Gestaltung des deutschen Sozialstaates. In dieser Perspektive läge es nicht fern, so etwas wie eine „List der Vernunft“ zu entdecken, über die gerade der sozialdemokratische Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil möglicherweise gar nicht unfroh sein dürfte, hat ihm doch Friedrich Merz den schwierigen Part abgenommen, die überbordenden Wünsche der eigenen Parteilinken, der Grünen und bei einigen Fragen auch der FDP in einigermaßen vernünftige Bahnen zu kanalisieren. Eine Eins-zu-Eins-Umsetzung des Regierungsentwurfs hätte nämlich durchaus das Zeug gehabt, noch schärfere Zerwürfnisse als beim bisherigen System auszulösen.
Die nun beschlossene Reform ist keine „Überwindung“ von „Hartz 4“, wie das einige erhofft haben und einige aus dem Regierungslager glauben machen wollen. Es ist eine Weiterentwicklung, die in großen Teilen auf sozialpolitische Debatten im linken politischen Spektrum reagiert und in eher kleinen Teilen auf fachliche Erkenntnisse und Herausforderungen.
2. „Hartz 4“ – unter Wert gehandelt
Es ist keine „Überwindung von Hartz 4“ – und das ist gut so. Das bisherige System der Grundsicherung für Arbeitsuchende war nämlich durchaus eine Erfolgsgeschichte. Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach 2005 sehr deutlich zurückging, auch die Langzeitarbeitslosigkeit. Die Beschäftigung stieg von Jahr zu Jahr. Die Beschäftigungsquote, also der Anteil der beschäftigten Menschen an der erwerbsfähigen Bevölkerung, ist deutlich gestiegen.
Das SGB II war ein Kind dessen, was man in der Forschung als „activation turn“ in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bezeichnet. In allen entwickelten Ländern hatte sich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass die bis dahin verfolgte Strategien nicht mehr so richtig funktionierten. Grundsicherungssysteme, die nicht mit konsequenter Arbeitsförderung verbunden werden, erzeugen Armutsfallen und verlieren an gesellschaftlicher Akzeptanz. Eine Arbeitsmarktpolitik, die nur auf Arbeitsbeschaffung und Qualifizierung setzt, verpufft oft wirkungslos, wenn sie nicht mit einer starken Ermunterung zu Eigenaktivitäten der Arbeitsuchenden verknüpft wird. Viele mit den besten Absichten in Gang gesetzte Qualifizierungsmaßnahmen erwiesen sich zudem als Warteschleifen, die die Integration in den Arbeitsprozess hinauszögerten oder gar in Maßnahmekarrieren mit ungewissem Ausgang mündeten.
Dem setzte man das Prinzip „work first“ entgegen. Es kommt darauf an, möglichst schnell wieder Arbeit zu finden, um Langzeitarbeitslosigkeit mit all ihren problematischen Nebenwirkungen zu vermeiden. Deshalb gab es in fast allen entwickelten Ländern in dieser Zeit einen Schwenk in Richtung Aktivierung, nicht gleichzeitig und aus einem Guss, sondern nach und nach mit vielen Besonderheiten in den einzelnen Ländern. Deutschland war eher ein Nachzügler beim Übergang von der „aktiven“ Arbeitsmarktpolitik mit ihrer Maßnahmeorientierung zur „aktivierenden“ Förderung mit dem Primat der schnellen Arbeitsaufnahme.
„Aktivierende“ Politik war zudem ein wichtiger Teil des politischen Framings des in dieser Zeit gesuchten „dritten Weges“ zwischen einem fürsorgenden Sozialstaat und der Freisetzung von Marktkräften. Bill Clinton in den USA und Tony Blair in Großbritannien waren dabei die wichtigsten Protagonisten. Auch die OECD und die Europäische Union unterstützten die Strategie der Aktivierung. Diese war keineswegs ein neoliberales „roll back“, wie die Kritiker der Hartz-Reformen meinten, sondern es war eine Reaktion auf die Probleme und Sackgassen der bis dahin verfolgten Strategien. Nach allem, was wir bisher wissen, hat die Politik der Aktivierung nicht nur dazu beigetragen Beschäftigung zu steigern und Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie hat auch dazu beigetragen, den gesellschaftlichen Konsens für eine aktive Sozialpolitik, die auch die immer breiter werdenden Ränder der Gesellschaft einbezieht, zu stärken.
Die Geldleistungen bei „Hartz 4“ waren von Anfang an keineswegs knauserig, wenn man sie mit Standards in anderen entwickelten Ländern vergleicht. Die OECD hat dafür ein Angemessenheitsmaß entwickelt („adequacy“). Es gibt das Verhältnis der Unterhaltsleistungen in der Grundsicherung und des mittleren Einkommens im jeweiligen Land an. Für eine Familie mit zwei Kindern etwa ergibt sich für Deutschland dabei im Jahr 2021 nach Japan, Litauen und Dänemark der viertbeste Wert aller OECD-Länder. Bezeichnenderweise sprang die so gemessene Qualität der Grundsicherung just im Jahr 2005, also mit der Einführung von „Hartz 4“, ein Stück nach oben[1], ein Zeichen, dass das damals neue System keineswegs „Armut per Gesetz“ gebracht hat, wie es viele, auch akademische, Kritiker gebetsmühlenhaft wiederholt haben, sondern eher eine Verbesserungen des Leistungsniveaus.
Auch für die oft gegen das „Hartz 4“-System vorgebrachten Einwände, es habe die Ungleichheit in Deutschland verschärft oder die Ordnung am Arbeitsmarkt untergraben und prekäre Beschäftigung gefördert, gibt es kaum empirische Belege. Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist, wie man sowohl dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung als auch dem neuesten World-Inequality-Report der Weltbank entnehmen kann, hauptsächlich in den neunziger Jahren und den ersten 2000er Jahren angestiegen und hatte ihren Höhepunkt um das Jahr 2005 erreicht. Seither bewegt sich der „Gini-Koeffizient“, mit dem man Einkommensungleichheit misst, mit Schwankungen auf dem Niveau von etwas über 30 Prozent[2]. Das kann man durchaus als zu hoch ansehen, aber mit „Hartz 4“ hat diese Entwicklung ersichtlich nichts zu tun, eher mit der starken Zuwanderung, die Deutschland seit den neunziger Jahren erlebt. Neu zugewanderte Menschen befinden sich eben sehr oft erst einmal in den unteren Einkommensklassen. Vielen gelingt nach einer gewissen Zeit durchaus der Aufstieg in höhere Verdienste. Auch dies hat der letzte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gezeigt. Von einer verfestigten Armut und einer durch „Hartz 4“ angetriebenen Ungleichheit im Lande kann also keine Rede sein.
Nachdem Deutschland bis zu den Hartz-Reformen in den Jahren 2003 bis 2005 im europäischen und globalen Vergleich klar zu den schwachen „Underperformern“ am Arbeitsmarkt gehörte, hat sich das Blatt seither nachhaltig gewendet. Das deutsche System gilt als Modell. Wo immer auf der Welt an der Neueinführung oder Reform eines Grundsicherungssystems für Menschen im arbeitsfähigen Alter gearbeitet wird, ob in Osteuropa, in der Türkei oder in Südkorea, schaut man sich die Praxis in den deutschen Jobcentern an. Das, was die erste rotgrüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder als Ziel der Reform ausgegeben hatten, nämlich Beschäftigung zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, ist auf eindrucksvolle und nachhaltige Weise gelungen.
Ein großer Vorteil des viel gescholtenen „Hartz 4“-Modells liegt darin, dass dort Fürsorge und Arbeitsförderung, also Geldleistungen und soziale Hilfe einerseits und Arbeitsberatung, Qualifizierung und Arbeitsvermittlung andererseits, in einem System zusammengefasst wurden. Es ist ein integriertes System, das einen ganzheitlichen Blick auf die Unterstützungsbedürftigen und eine enge Abstimmung „passiver“ Leistungen zum Lebensunterhalt mit „aktiven“ Leistungen zu Verbesserung der Lebenssituation und zu Überwindung von Arbeitslosigkeit und Notlagen ermöglicht. Die Potentiale dieser Systemarchitektur sind allerdings noch lange nicht ausgeschöpft. Reformen der Grundsicherung sollten auch daran gemessen werden, ob sie dazu beitragen, den integrierten Ansatz mit Leben zu füllen und weiterzuentwickeln.
3. Warum die Aufregung?
Dieser kleine Exkurs zeigt, dass es für die Aufgeregtheit um „Hartz 4“ in der Faktenlage eigentlich keine Gründe gibt. Warum gab es sie dennoch?
Für Sozialdemokraten und Gewerkschaften lag der heikle Punkt bei „Hartz 4“ von Anfang an vor allem darin, dass Langzeitarbeitslose nach der Erschöpfung von Ansprüchen an die Arbeitslosenversicherung nun auf ein Einheitssystem mit allen anderen Bedürftigen verwiesen wurden, auch wenn sie vor der Arbeitslosigkeit viele Jahre beschäftigt waren, also gewissermaßen zum „ordentlichen“ und integrierten Teil der Bevölkerung gehörten.
Im Grunde setzte diese Kritik an „Hartz 4“ etwas fort, was schon die Diskussion um die öffentliche Fürsorge in der Weimarer Republik bestimmte und was die Sozialhistoriker Christoph Sachße und Florian Tennstedt als „Hierarchisierung der Armut“ bezeichnet haben. Es setzte sich die Position durch, dass bei der Gestaltung der Fürsorge ein Abstand zu halten sei zwischen den „würdigen“ Armen und denen, die an Arbeit erst herangeführt werden müssen, bei denen Erziehung, Kontrolle und gelegentlich auch Strafe erforderlich waren, um sie zu vollwertigen Gliedern einer Arbeitsgesellschaft zu machen. Dass diese statussichernde Hierarchisierung mit „Hartz 4“ in der steuerfinanzierten Fürsorge bis auf kleine Bereiche aufgehoben ist, war und ist einer der Steine des Anstoßes mit der größten Symbolkraft.
Der „Absturz in Hartz 4“ wurde so zur viel beschworenen Angstformel, die bei vielen durchaus verfing. Dass man damit ein insgesamt vernünftiges System aber erst so richtig diskreditierte, dämmerte weder Gewerkschaftern, noch SPD-Linken wie Andrea Nahles.
Auch die Grünen zeigten sich immer mehr als Kritiker des von Ihnen seinerzeit in der ersten rot-grünen Koalition ja mitbeschlossenen „Hartz-4“-Gesetzes. Robert Habeck verunglimpfte die Jobcenter im Bundestagswahlkampf 2021 als „Sanktionszentren“. Auch sonst gab es kaum Grüne, die noch ein gutes Haar am Grundsicherungssystem ließen. Die Motivlage aber war eine andere. Vordenker grüner Sozialpolitik hatten schon lange Argumente gegen das erwerbsarbeitszentrierte System der sozialen Sicherung gesammelt. Angesichts des technischen Fortschritts wurde von dieser Seite immer wieder die Gefahr beschworen, dass der „Arbeitsgesellschaft“ die Arbeit ausgehe. Soziale Sicherheit müsse deshalb auf andere Grundlagen gestellt werden. Die für das sozialdemokratische Modell zentrale Reziprozität von eigener Leistung der Menschen und gesellschaftlicher Solidarität schien hier obsolet. Angezeigt sei eher eine „Entkopplung von Arbeit und Einkommen“, wie es der Grünen-nahe Sozialwissenschaftler Michael Opielka schon Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts formuliert hatte. Das bei einigen grünen Sozialpolitikern vorhandene Faible für die Idee eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ speist sich auch aus dieser Grundthese.
Für den Basisbefund eines Verschwindens der Arbeit gibt es jedoch keinerlei Beleg. Im Gegenteil – wo immer es zur Zeit irgendwo hakt, spielt der Mangel an geeigneten Arbeitskräften eine Rolle. Die Sorge um die Arbeitslosigkeit wird immer stärker zur Sorge um die „Arbeiterlosigkeit“.
Für die sozialdemokratische Idee des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist Reziprozität von Leistung und gesellschaftlicher Solidarität zentral. Ziel ist, Menschen zur Leistung zu befähigen und möglichst allen Teilhabe an der Arbeit zu ermöglichen. Die grüne Idee trennt Arbeit und Anerkennung. Ob eine gesellschaftliche Anerkennungsordnung ohne die verbindende Erfahrung von Arbeit jemals funktionieren wird, ist jedoch offen. Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda hat schon Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in ihrer Untersuchung zu den Arbeitslosen von Marienthal zeigen können, wie wichtig Erwerbsarbeit für die Ausbildung einer stabilen sozialen Identität und einer gefestigten Persönlichkeit ist. An dieser Erkenntnis hat sich bis heute nichts geändert. Gerade eine Gesellschaft, in der Fliehkräfte größer werden und der Zusammenhalt bröckelt, sollte sich klarmachen, was auf dem Spiel steht, wenn man Leistung und Arbeit abwertet.
4. Unterschiedliche Ausgangspunkte
An die Bürgergeld-Reform gingen die Parteien der Ampelkoalition insofern von unterschiedlichen Ausgangspunkten heran. Der SPD ging es darum, die durch die Hartz-Reformen vor fast zwei Jahrzehnten beschädigte Allianz mit den Gewerkschaften wieder zu beleben und Status- und Abstiegsängsten im eigenen Klientel entgegenzuwirken. Die Grünen wollten die Arbeitszentrierung der Grundsicherung aufheben oder zumindest zurückdrängen. Dazu gehörte auch, die Balance von „Fördern und Fordern“ neu zu justieren und den Anspruchsrechten ein größeres Gewicht gegenüber den damit verbundenen Pflichten zu geben.
Das neue Label „Bürgergeld“ kommt übrigens aus dem Archiv der Liberalen. Sie hatten darunter vor Jahren einmal so etwas wie ein Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger ins Spiel gebracht, das staatliche Transferleistungen bündeln und Sozialbürokratie abbauen sollte. Nun steht es für die Neuauflage von „Hartz 4“. Wenn es eine eigene Duftmarke der FDP im aktuellen Reformprojekt gibt, sind es erhöhte Freilassungsgrenzen für selbstverdientes Einkommen, die man als marktwirtschaftskonforme Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit versteht, auch wenn damit die Unterstützungsbedürftigkeit im Einzelfall nicht ganz überwunden werden kann – das Prinzip „Kombilohn“. Auch die Erhöhung der Vermögensfreigrenzen waren ein liberales Anliegen, bei dem man vor allem Selbstständige im Auge hatte, die, das hatte man in der Corona-Krise gelernt, beim Wegfall des Geschäfts sehr schnell ohne Einkommen dastehen können.
5. Was bringt die Reform?
„Hartz 4“ ist besser als sein Ruf. Dennoch gab es natürlich durchaus Reformbedarf, was bei sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht verwundert. Das „Bürgergeld“-Gesetz ist immerhin schon das zwölfte Änderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II.
Die Regelsätze werden deutlich erhöht. Das ist angesichts der aktuellen Inflation überfällig und geht in Ordnung. Die von der Regierung vorgesehene Freigrenze für vorhandenes Vermögen in Höhe von 60.000 Euro war überzogen. Gut, dass der Kompromiss mit der CDU das jetzt auf immer noch großzügige 40.000 Euro reduziert hat. Bei den Kosten fürs Wohnen und Heizen hat man zwar für die Heizkosten auf Druck der CDU-Länder die Prüfung der Angemessenheit wiedereingeführt, die die Regierung für die ersten zwei Jahre des Leistungsbezugs abschaffen wollte. Bei der Miete allerdings wird für ein Jahr auch sehr hohe Werte akzeptiert. Das wird Schieflagen bringen, wenn im Einzelfall auch Luxuswohnungen aus Steuermitteln finanziert werden. Viel problematischer ist jedoch, dass man damit falsche Signale in lokale und regionale Mietmärkte sendet. Die neue Regelung lädt gerade dazu ein, die Mietkosten hochzutreiben. Das betrifft dann nicht nur die Bezieher von Bürgergeld, sondern alle, die nach einer bezahlbaren Wohnung suchen – ein mit etwas mehr Besonnenheit bei der Reform vermeidbarer sozialer Kollateralschaden.
Das „work first“-Prinzip hat sich zweifellos bewährt. In Zeiten eines florierenden Arbeitsmarktes und eines ernsthaften Fachkräftemangels reicht es allerdings nicht mehr, möglichst schnell Arbeit aufzunehmen und die Zeit und er Arbeitslosigkeit kurz zu halten. Die strategische Herausforderung besteht jetzt darin, Menschen in Arbeit zu bringen, aber zugleich die Talentreserven der Republik wirksamer als in der Vergangenheit zu mobilisieren. Da sind sicher in erster Linie Schule und das Bildungssystem gefragt. Aber auch bei den Menschen in der Grundsicherung lässt sich, wie die Erfahrung zeigt, mancher Schatz heben. Dafür braucht es Zeit für Qualifizierung, vor allem aber clevere Konzepte, um nicht wieder in die Fallen der alten „aktiven“ Arbeitsmarktpolitik zu tappen. Das Bürgergeld-Gesetz räumt dafür erst einmal den sogenannten „Vermittlungsvorrang“ ab, also die Vorschrift, dass die schnelle Vermittlung in Arbeit Priorität vor anderen Zielen habe.
Es ist nun nicht so, dass die Jobcenter bisher bei Weiterbildung, Ausbildung und Umschulung auf dem Schlauch gestanden hätten. Wo immer sich Chancen boten, hatte man Qualifizierungsangebote gemacht und dabei durchaus Erfolge erzielt. Dass eine breite Qualifizierungsoffensive im Bereich des SGB II bisher dennoch nicht gezündet hat, hat tiefere Gründe. Einfach nur die Abschaffung einer Gesetzesklausel und mehr Maßnahmen werden das Blatt nicht wenden. Bei der Qualifizierung muss grundsätzlich neu gedacht werden. Ohne eine enge Zusammenarbeit mit Unternehmen wird es nicht gehen, ohne eine neue Didaktik, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten von Menschen mit vielfältigen Problemen gerecht wird, von fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden oder negativen Bildungserfahrungen bis hin zu familiären Herausforderungen, ebenso wenig.
Sinnvoll ist die neue Regelung, für Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Qualifizierung ein „Weiterbildungsgeld“ als finanziellen Anreiz zu zahlen. Das Weiterbildungsgeld gibt es zusätzlich zu den Unterhaltsleistungen. Ob das die Motivation zu längeren, abschlussbezogenen Weiterbildungen nennenswert erhöht, bleibt abzuwarten.
Der Ansatz der „Aktivierung“ hat sich bewährt und sollte beibehalten werden. Man muss ihn jedoch ergänzen, durch einen ganzheitlichen Ansatz der Befähigung und Qualifizierung. Die Verantwortlichen für die Umsetzung des „Bürgergeldes“ müssen nun aufpassen, dass die politischen Signale in der Jobcenter-Praxis nicht dazu führen, die Orientierung am Arbeitsmarkt zu schwächen.
Einer der zentralen Aufreger in der kritischen Diskussion um „Hartz 4“ waren die Sanktionen, also die zeitweisen Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen von Leistungsberechtigten, etwa wenn angebotene Arbeitsstellen ausgeschlagen oder Fördermaßnahmen verweigert wurden. Sanktionen sind in einem regelbasierten System eigentlich ganz normal – sollte man denken, „fördern und fordern“ eben. Wer Recht auf Schutz und Leistungen des Staates hat, muss sich an die damit verbundenen Regeln halten. Sanktionen betrafen im Übrigen nur einen sehr kleinen Teil der Leistungsberechtigten, etwa drei Prozent, zuletzt eher noch weniger. Für Kritiker zeigte sich in den Sanktionen jedoch der Zwangscharakter des Systems. Vor allem die Grünen mobilisierten massiv gegen sie. Die Arbeitsmarktforschung stellte dagegen eher positive Effekte von Sanktionen fest. Es zeigte sich, dass die Arbeitsuche und die Förderung durch die Jobcenter ernster genommen werden, wenn es Sanktionen gibt. Im Ergebnis trugen sie dazu bei, dass mehr Menschen in Arbeit kamen. Aber im Kampf um Symbole, und das war die Diskussion um „Hartz 4“ in großen Teilen, ziehen sachliche Erwägungen leider oft den Kürzeren.
Nun gab es im Sanktionsregime von „Hartz 4“ durchaus einige Unstimmigkeiten und auch bestimmte Härten, die man kritisch sehen konnte. So waren für Jugendliche, anders als etwa im Strafrecht, strengere und nicht mildere Regelungen als für Erwachsene vorgesehen, was nicht einleuchtet. Nicht zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil Ende 2019 die grundsätzliche Rechtmäßigkeit von Sanktionen zwar ausdrücklich anerkannt, jedoch klare Leitplanken für die Sanktionspraxis formuliert und dem Gesetzgeber auferlegt, das Recht entsprechend zu ändern. Sanktionen dürfen nicht höher als 30 Prozent der Regelleistung ausfallen, müssen die Wohnkosten unberührt lassen und sind nur zulässig, wenn in jedem Einzelfall Ermessen ausgeübt wird, also die konkreten Umstände genau abgewogen werden.
Die nun beschlossene Reform trägt den Auflagen des Verfassungsgerichts Rechnung und korrigiert zudem einige Unwuchten in den bestehenden Regelungen. Die Regierung wollte ursprünglich deutlich weitergehen und für sechs Monate alle Sanktionen aussetzen. Aber hier gab es Widerstand der CDU-Länder. Also gelten nun die, wesentlich abgemilderten, Sanktionsregeln vom ersten Tag des Leistungsbezugs an. Das von der Koalition im Vorgriff auf die Reform vorläufig verhängte „Sanktionsmoratorium“ endet zum Jahresende. Die Erfahrungen mit diesem Moratorium wurden bisher nicht gründlich evaluiert. Jobcenter berichten allerdings davon, dass 20-50 Prozent der vereinbarten Gesprächstermine aufgrund der Sanktionsaussetzung ausfielen, weil die Klienten nicht erschienen. So etwas ist nicht nur ärgerlich, sondern vergeudet auch wertvolle Ressourcen durch Leerlauf bei den Beratern und Vermittlungsfachkräften. Auch das sollte man im Auge behalten.
In der Gesetzesbegründung und in den Verlautbarungen der Regierungskoalition war viel davon Rede, dass man sich nun in der Grundsicherung als Bürgerin oder Bürger „auf Augenhöhe“ mit dem Jobcenter als Behörde befinde. Das Bild mit der „Augenhöhe“ war in diesem Zusammenhang schon immer etwas schief. Nach wie vor erhält die eine Seite Transferleistungen, die andere muss nach Recht und Gesetz entscheiden.
Allerdings ist klar, dass Hilfe meist nur funktioniert, wenn beide Seiten, Klient und Helfer zusammenarbeiten. Die Wirkung der Hilfe tritt nur ein, wenn der oder Klient oder Klientin einen Teil zum Erfolg beiträgt. Das gilt für die Arbeitsuche, aber auch für alle Formen der Beratung. Ohne eigene Leistung auf Seiten der Empfänger geht es nicht. „Koproduktion“ von sozialen Dienstleistungen nennt man das im Fachjargon. Um genau dafür einen Rahmen zu schaffen, hatte man im alten SGB II das Institut einer „Eingliederungsvereinbarung“ geschaffen, in der zwischen den Arbeitsuchenden und dem Jobcenter geregelt wird, wer was tut, damit der Erfolg, die Integration in Erwerbsarbeit, möglich schnell gelingt. Ein gutes Konzept, allerdings mit Schwachstellen. Sollte nämlich ein Leistungsberechtigter nicht mit dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarung einverstanden sein oder sich grundsätzlich weigern, eine solche abzuschließen, sah das Gesetz vor, eine solche Vereinbarung als Verwaltungsakt zu erlassen, was absurd ist, wenn man an die sonst im bürgerlichen Rechtsverkehr garantierte Vertragsfreiheit denkt.
Dies und sicher auch einige Mängel in der Praxis der Jobcenter führten dazu, dass sich die Praxis der Eingliederungsvereinbarung immer mehr von den ursprünglichen Intentionen entfernte. Sie war kaum mehr Ausdruck gelebter Koproduktion, sondern ein bürokratischer Mechanismus zur Absicherung von Rechtspositionen und Komplettierung der Fallakte.
Es ist gut, dass mit dem „Bürgergeld“-Gesetz an dieser Stelle ein Neuanfang versucht wird. Der Zwang zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung entfällt. An ihre Stelle tritt ein „Kooperationsplan“. Ursprünglich wollte die Regierung diesen Plan für eine sogenannte „Vertrauenszeit“ von sechs Monaten nicht mit Rechtsfolgen belasten. Die Einigung im Vermittlungsausschuss besagt jedoch, dass dieses Instrument von Anfang an sehr verbindlich zu gestalten ist. Wer gegen den Kooperationsplan verstößt, muss eventuell mit Sanktionen rechnen. Allerdings ist es nicht mehr verpflichtend, einen solchen Plan zu vereinbaren. Wenn sich jemand weigert, bleibt es dabei. Das Jobcenter kann dann aber ganz einfach zu Mitwirkungshandlungen auffordern. Wenn die verweigert werden, kann es Sanktionen geben.
Bei Meinungsverschiedenheiten zu den Pflichten der Arbeitsuchenden, soll es zunächst im Jobcenter ein Schlichtungsverfahren geben, bevor Rechtsmittel eingelegt werden. Das ist gut gedacht, wird aber in der Praxis zu großem bürokratischen Aufwand führen. Auch können solche Schlichtungsverfahren im Einzelfall auch genutzt werden, um Zeit zu gewinnen und erst einmal nichts zu machen. Ein Schlichtungsverfahren kann, wenn es gut gemacht ist, Lernprozesse auf beiden Seiten auslösen und auch so etwas wie ein Qualitätstreiber im Jobcenter sein, wenn die Fachkräfte dort damit rechnen müssen, ihre Entscheidung vor einem neutralen Dritten zu rechtfertigen. Man sollte deshalb genau hinsehen, ob es wirklich zu einem besseren Kommunikationsklima zwischen Behörde und Betroffenen führt, ob es einfach eine weitere Streitarena neben den normalen Rechtswegen schafft und das Verfahren in bürokratischer Routine totläuft.
Zu den erwähnenswerten Highlights der Reform gehören auch neue Regelungen für den Zuverdienst bei weiterlaufenden Leistungen. Gerade von Ökonomen wurde immer wieder kritisiert, dass die bisherige Grundsicherung durch eine zu hohe „Transferentzugsrate“ falsche Anreize setzt, wenn zusätzlich verdientes Einkommen fast vollständig auf die Leistungen angerechnet wird und kaum etwas davon in der Tasche bleibt. Bisher wurde 100 Euro eines Zuverdienstes und 20 Prozent von jedem darüber hinaus verdienten Euro anrechnungsfrei gestellt. Ein problematischer Nebeneffekt dieser Regelung war, dass damit die Kombination von Transferleistung und Minijobs besonders begünstigt war. Es war rein ökonomisch rational, ein klein wenig dazuzuverdienen, aber nicht allzu viel. Wenn es negative Begleiterscheinungen von „Hartz 4“ gibt, dann ist es sicher das Wachstums der Minijobs, eine gesamtwirtschaftlich inzwischen ohnehin recht fragwürdige Einrichtung.
Deshalb ist es gut, wenn man eine neue Regelung ausprobiert. Künftig sollen in einer Zone zwischen 520 und 1000 Euro Zuverdienst sogar 30 Prozent nicht angerechnet werden, insgesamt eine eher behutsame Änderung. Könnte sein, dass sie neue Anreize für die Aufnahme von Arbeit setzt. Man muss jedoch abwarten, ob dieser Anreiz ausreicht, mehr reguläre Beschäftigung und Minijobs zurückzudrängen. Ebenfalls abzuwarten bleibt, ob durch eine solche Regelung nicht eventuell zusätzliche Leistungsfälle geschaffen werden, da nun weniger angerechnet wird und Menschen mit niedrigem Einkommen aus Erwerbstätigkeit nun neue Ansprüche aus Leistungen aus der Grundsicherung haben.
6. Fazit
Das „Bürgergeld´“ ist kein Paradigmenwechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Es setzt eine insgesamt erfolgreiche Linie fort, bringt einige Verbesserungen, kann aber auch unerwünschte Nebenwirkungen haben. Ob sich der Kampfplatz Grundsicherung mit einem neuen Label befrieden lässt, bleibt abzuwarten. Da es bei dem Kampf aber ohnehin mehr um Symbolik als um Sachprobleme ging, ist es nicht auszuschließen, dass Symbolpolitik hier ausnahmsweise einmal fruchtbar ist. Klar ist aber auch, das Prinzip „Fördern und Fordern“ wird abgeschwächt. Ob das in ein Umfeld passt, wo der Arbeitsmarkt trotz aller Krisen gut läuft und händeringend Arbeitskräfte gesucht werden, bleibt dahingestellt. Dahingestellt bleibt bis auf Weiteres auch, ob es gelingt, eine neue Synthese von Aktivierung und „Social Investment“ zu schaffen, ob es gelingt, zielgenau und für den Arbeitsmarkt und nicht „auf Halde“ zu qualifizieren. Die Gefahr des Rückfalls in die Sackgasse der erfolglosen maßnahmeorientierten Arbeitsmarktpolitik besteht vor allem dann, wenn der Impuls der Politik in der Praxis als Signal für weniger Arbeitsmarktorientierung verstanden wird. Hier liegt ohne Zweifel viel Verantwortung bei den Jobcentern.
Ob die mit dem Gesetz verbundene Erwartung eines Abbaus von Bürokratielast, etwa durch die Abschaffung von Rückforderungen unter 50 Euro, erfüllt wird oder ob ganz im Gegenteil durch neue Komplikationen wie das Schlichtungsverfahren zum Kooperationsplan noch mehr Aufwand entsteht, ist offen. Das „Bürgergeld“-Gesetz soll im Jahr 2023 zu Mehrausgaben für den Bund von 4,8 Milliarden Euro führen. Das ist nicht wenig, zumal schon jetzt vom Bund und den Kommunen etwa 46 Milliarden pro Jahr aufzubringen sind. Ob es bei den knapp fünf Milliarden Mehrkosten pro Jahr bleiben wird, ist schon für 2023 ungewiss.
Zur Ausstattung der Jobcenter mit Personal und Mitteln zur Finanzierung von Fördermaßnahmen sagt das Gesetz übrigens nichts. Hier wird es weiter eher knapp zugehen. Das wäre fatal. Denn man weiß inzwischen relativ sicher, dass eine gute und qualifizierte Personalausstattung der Jobcenter einer der wichtigsten Wirkungshebel für mehr Integration in den Arbeitsmarkt und eine kürzere Verweildauer im Leistungssystem ist. Die Aufgaben in den Jobcentern werden herausfordernder. Um das System insgesamt zu voranzubringen, müsste wesentlich mehr in die Qualifikation der Fachkräfte, in eine angemessene Vergütung und in die Qualität der Beratung investiert werden. Hier gibt es noch sehr viel Spielraum nach oben. Aber das sind dann die „Mühen der Ebene“, bei der die Politik die Umsetzer des Sozialgesetzbuches II in der Vergangenheit allzu oft alleine gelassen hat.
Ein Letztes: Sozialforscher der Universität Oxford haben kürzlich in genau der Region von Marienthal, in der Marie Jahoda ihre Untersuchung vor mehr als 90 Jahren durchgeführt hat, ein Experiment mit einer lokalen „Beschäftigungsgarantie“ gestartet. Allen Bürgerinnen und Bürgern wurde zugesagt, dass sie auf jeden Fall eine Arbeitsstelle erhalten, wenn es im allgemeinen Arbeitsmarkt nicht klappt, eben bei der Gemeinde oder in Non-Profit-Organisationen. Langzeitarbeitslosigkeit wurde im Experiment quasi abgeschafft. Das Ergebnis überrascht am wenigsten die Leser von Jahodas Arbeiten. Die Beschäftigungsgarantie schaffte deutlich höhere Lebenszufriedenheit, ein besseres gesellschaftliches Miteinander und neue Tatkraft. Es ist ein schöner Kontrast zu den Visionen der Befürworter des „bedingungslosen Grundeinkommens“ mit der Aufgabe der Wechselseitigkeit von Solidarität und Leistung. Die Ergebnisse des Experiments der Forscher aus Oxford sollte man auf jeden Fall in Erinnerung behalten für den fast sicher zu erwartenden Fall, dass auch beim „Bürgergeld“ irgendwann der Lack ab ist und es wieder einen neuen Aufbruch bei der Grundsicherung braucht.
[1] Für eine Familie von zwei Erwachsenen und zwei Kindern stieg das Sicherungsniveau von rund 45 auf 54 Prozent des Medianeinkommens. Bei Alleinstehenden ging es ebenfalls nach oben, allerdings auf einem niedrigeren Niveau von etwa 45 Prozent.
[2] Der Gini-Koeefizient misst die Ungleichverteilung innerhalb einer Population. Er beträgt beim Einkommen 1, wenn einer alles besitzt und der Rest nichts. Er beträgt 0, wenn eine vollständige Gleichverteilung besteht. Werte dazwischen zeigen den Grad der Ungleichverteilung an. In Deutschland lag der Wert 1997 bei etwa 28 und ist bis 2005 auf knapp unter 32 gestiegen.