Wie schnell sich eine Situation in den weltweit akuten Konfliktfällen zuspitzen kann, zeigen die Reaktionen einiger Staaten auf die Sichtung von angeblichen Spionage-Ballons. Die Berichterstattung über die Identifizierung von Flugobjekten über dem Luftraum der USA und kurz darauf auch über Kanada oder auch die Meldung aus China, das auch von einem solchen Objekt über seinem Territorium berichtet hat, erinnert wegen seines auf heute übertragbaren Textes an Nenas Hit, der einst viele Wochen die Charts anführte: „99 Luftballons“. Dort heißt es in den ersten beiden Strophen:
Hast du etwas Zeit für mich?
Dann singe ich ein Lied für dich
Von neunundneunzig Luftballons
Auf ihrem Weg zum Horizont
Denkst du vielleicht grad an mich?
Dann singe ich ein Lied für dich
Von neunundneunzig Luftballons
Und dass sowas von sowas kommt
Neunundneunzig Luftballons
Auf dem Weg zum Horizont
Hielt man für Ufos aus dem All
Darum schickte ein General
Ne Fliegerstaffel hinterher
Alarm zu geben, wenn’s so wär
Dabei war’n dort am Horizont
Nur neunundneunzig Luftballons
Der Text ist frappierend aktuell, greift die Stimmungen auf, die sich in zwischenstaatlichen Konflikten immer weiter aufheizen und in den Medien widerspiegeln: Die Akteure werden mit ihren Verlautbarungen immer lauter, aggressiver und hektischer. Bemerkenswert in der aktuellen Ballon-Affäre ist die auch mediale Fokussierung auf chinesische Aktionen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass in einer Phase, in der sich die Auseinandersetzung der USA mit der Volksrepublik China zunehmend verstärkt und verschärft, jetzt die Emotionen durch diese Aktionen geschürt werden.
In dem Lied heißt es weiter:
Neunundneunzig Düsenflieger
Jeder ist ein großer Krieger
Hielten sich für Captain Kirk
Das gab ein großes Feuerwerk
Die Nachbarn haben nichts gerafft
Und fühlten sich gleich angemacht
Dabei schoss man am Horizont
Auf neunundneunzig Luftballons
Die Pose, mit der Joe Biden den Abschuss begründete und damit auch inszenierte, soll wohl die eigene Bevölkerung beruhigen, aber auch gleichzeitig eine, klare, entschlossene Haltung des amerikanischen Präsidenten zum Ausdruck bringen. Die ganze Show passt nahtlos in eine Phase, in der über die weitere Präsidentschaftskandidatur von Joe Biden in Amerika diskutiert wird. Dass sich auch noch der kanadische Regierungschef Justin Trudeau mit dieser Vorgehensweise Joe Biden anschloss, und der Abschuss eines weiteren Flugobjektes im Einvernehmen mit den beiden erfolgte, ist eine dramaturgische Steigerung. Gerade angesichts des sich zuspitzenden Konflikts mit der Volksrepublik China ist es wenig verantwortungsvoll, die Menschen mit solchen Handlungen, die einen hohen symbolischen Wirkungsgrad haben können, auf eine Auseinandersetzung mental vorzubereiten.
In diesem Zusammenhang passt die weitere Strophe aus Nenas Song, in der es heißt:
Neunundneunzig Kriegsminister
Streichholz und Benzinkanister
Hielten sich für schlaue Leute
Witterten schon fette Beute
Riefen: ‚Krieg!‘ Und wollten Macht
Mann, wer hätte das gedacht
Das es einmal so weit kommt
Wegen neunundneunzig Luftballons
Wegen neunundneunzig Luftballons
Neunundneunzig Luftballons
Peinlich am aktuell hochgejazzten Konflikt sind die sparsamer kommunizierten Nebengeräusche. Während der erste Ballon noch chinesischer Herkunft sein soll, so ist bei den anderen drei Flugobjekten die Herkunft unklar. Aus China stammten sie nicht, wie US-Präsident Biden öffentlich klargestellt hat. Die drei Flugobjekte, die auf Anordnung der Regierungschefs abgeschossen wurden, gehörten wohl Privatunternehmen oder Forschungseinrichtungen. Biden hat jedenfalls laut „Spiegel“ und „Focus“ keine Erkenntnisse darüber, dass die Ballons zu Spionagezwecken im Auftrag eines anderen Landes unterwegs gewesen seien.
Auch Peter Burghard sieht in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Zusammenhang zwischen dem Abschuss der Ballons und dem erwarteten Momentum, dass Präsident Biden seine Kandidatur für 2024 verkünden wird und die ganze Aktion Teil der amerikanischen Innenpolitik ist. Insofern hat sich dieser Konflikt im wahrsten Sinne des Wortes, wenn auch unter Einbeziehung von abgeschossenen Raketen, in Luft aufgelöst. Damit bestätigt sich ein Handlungsstrang, bei dem Politiker in emotional nicht eindeutig lesbaren Situationen im Innern den Fokus auf die Außenpolitik lenken. Daraus können sich gerade in unsicheren Zeiten schnell Weiterungen ergeben, die in ihren Wirkungen eskalierend zu unabsehbaren Folgen führen.
Insofern kann die letzte Strophe von Nena einen Hinweis geben:
Neunundneunzig Jahre Krieg
Ließen keinen Platz für Sieger
Kriegsminister gibt’s nicht mehr
Und auch keine Düsenflieger
Heute zieh’ ich meine Runden
Seh’ die Welt in Trümmern liegen
Hab’n Luftballon gefunden
Denk’ an dich und lass’ ihn fliegen