Europa im Schwitzkasten

Die Führung in Peking will unbedingt die Wiedervereinigung mit der aus ihrer Sicht abtrünnigen Insel Taiwan. Das Risiko einer militärischen Eskalation im Indopazifik unter Teilnahme der Taiwan-Schutzmacht USA wächst ständig. Was ein solcher Krieg speziell für Europa und Deutschland bedeuten könnte, darüber streiten die Protagonisten noch. Gesucht wird die Position der Europäer in der China-Taiwan-Frage. Nabeln sie sich im Stile einer Weltmacht von den USA-Interessen ab oder suchen sie sogar weltweit nach Partnern?

Während des gemeinsamen Besuchs von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Volksrepublik China, kommt es zu bemerkenswerten Äußerungen des Franzosen zur europäischen Haltung im China-Taiwan-Konflikt. Macron versucht, eine den Interessen Europas angepasste Strategie gegenüber den Hegemonialmächten zu etablieren. Er will sich von der Interessenlage der USA emanzipieren und gleichzeitig ein friedliches Verhältnis zu China erhalten. Von der Leyen hält sich eng an die Interessen der USA und geht auf eine gewisse Distanz zur chinesischen Regierung, ebenso die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock.

Auffallend ist in diesem Zusammenhang der Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz im europäischen Parlament.  Statt sich als Großmacht neben den USA und China zu positionieren, wirbt er dafür, dass sich Deutschland der Welt zuwenden solle, das bedeutet, das Europa sich auf einen weltweiten Multilaterlismus einstellt. Das steht offensichtlich nicht in Übereinstimmung mit dem französischen Präsidenten Macron. Dabei ist die Frage, wie sich Europa zwischen den Weltmächten positioniert, für die Zukunft von entscheidender Bedeutung. 

Ampel hat noch keine China-Strategie

Es gibt zudem nicht nur unterschiedliche Positionierungen zwischen Frankreich und Deutschland, sondern auch innerhalb der Ampelkoalition in Berlin. Die Differenzen  zwischen Kanzleramt und Außenministerium behindern die Entwicklung einer kohärenten deutschen Chinastrategie.. Während die Außenministerin mit ihrem forschen Auftritt in Peking einen konstruktiven Dialog erschwert hat, wollen Vertreter der Sozialdemokraten und der deutschen Wirtschaft einen konstruktiven Gesprächsfaden aufrechterhalten. Die Regierung steckt im Dilemma  fast der gesamten westlichen Welt: Alle wollen mehr Distanz zu China, sind aber ökonomisch abhängig.

Angesichts der veröffentlichten Neuausrichtung der amerikanischen Chinapolitik, ist es besonders wichtig, dass sich Europa zu einer gemeinsamen Haltung zusammenfindet. Schließlich sieht die amerikanische Regierung die strategische Ausrichtung ihrer Außenpolitik nicht mehr in Europa, sondern in einer Schwerpunktsetzung im asiatisch-pazifischen Raum. Deshalb würde sie gerne ihr Engagement in Europa und im Nahen Osten reduzieren, um ihre Kräfte im asiatischen Raum zu bündeln. Dort findet gerade das größte Wettrüsten auf diesem Planeten statt.

Die Eskalationsdynamik zwischen USA und China fokussiert sich zurzeit auf die Taiwanfrage. Hieraus ergeben sich zentrale Fragen für die Akteure in Europa. Dass nicht nur wirtschaftliche Aspekte dabei eine Rolle spielen, sondern ebenso militärische Gefahren heraufziehen, liegt auf der Hand. 

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine bewegt uns doch die Fragen, wie verhalten wir uns in einem Konflikt, der völkerrechtswidrig von Russland begonnen wurde, als Nato-Mitglied bezüglich einem nicht dem Verteidigungsbündnis angehörigen Land. Die Lieferung von Waffen, die Festlegung von Sanktionen, die auch die jeweilige eigene Volkswirtschaft belasten, bestimmen die politische und öffentliche Debatte.

Gerade bei den Sanktionen erleben wir die Auswirkungen im ökonomischen Bereich. Besonders trifft das den zurzeit sehr sensiblen Energiesektor. Auf dem Weg zur CO2-neutralen Energiewende war vorgesehen, Gas als Brückenenergie zu nutzen. Durch die Sanktionen ist man jetzt auf Kohle, Frackinggas und vor allem in anderen europäischen Ländern auf Atomstrom angewiesen. Eine Folge ist eine deutliche Erhöhung der Energiekosten.

Gibt es moralische Verpflichtungen?

Wesentlicher Treiber der Sanktionen ist die amerikanische Regierung. Sie zeigte das schon bei der Beurteilung der Gaspipeline Nordstream 2, wie auch in anderen wirtschaftlichen Feldern. Der wirtschaftliche Kollateralschaden als Folge der Strafmaßnahmen ergibt sich im Wesentlichen für europäische Volkswirtschaften, nicht aber für den amerikanischen Markt. Hier sind Strategien zu entwickeln, die die ökonomischen Interessenlagen der europäischen Staaten im Focus haben.

Sollte sich der Konflikt China-USA an der Taiwanfrage oder um die Vormachtstellung im pazifischen Raum zuspitzen, dürften die Europäer eine vergleichbare Entwicklungsdynamik erleben. Zunächst werden Sanktionen beschlossen, in der EU vollzogen, von der deutschen Außenministerin unterstützend gefordert. Dann stellt sich die Frage, ob sich Europa in eine mögliche militärische Auseinandersetzung einbinden lässt. Geht das einher mit der Ausweitung des Nato-Mandates, verbunden mit dem Hinweis auf die moralische Verpflichtung der Unterstützung der Wertegemeinschaft, oder muss Europa hier nicht eine distanzierende Position einnehmen?

Beim Blick auf die politische Landkarte wird deutlich, dass weder Russland, noch China und in absehbarer Zeit auch Indien als dann bevölkerungsreichstes Land der Erde einen Anspruch als Hegemonialmacht neben der USA und dem Westen aufgeben werden. Das wird zu weltweiten Spannungen und zukünftigen Konflikten und wechselnden Bündnissen führen. Darüber hinaus spielen viele andere Staaten, wie Brasilien, Südafrika, Nigeria,Türkei und andere in diesen Konstellationen eine zunehmend aktivere Rolle, aktuell zu sehen bei der Umsetzung der Sanktionen gegen Russland. Indien und andere Länder betreiben Sanktionsarbitrage: Sie nutzen die Problemlage aus und kommen zu günstigen Preisen an Energie und Rohstoffe. Viele wollen auch nicht nur von einer Seite in diesen Konflikten vereinnahmt werden.

Europa muss sich so positionieren, dass es sich nicht zum strategischen Wurmfortsatz amerikanischer Eigeninteressen zu macht. Derzeit gibt es dafür zwei Varianten: die von Macron, der Europa zu einer weiteren Hegemonialmacht entwickeln will, oder die von Scholz, der in der Zukunft die multilaterale internationale Konfiguration favorisiert. Notwendig ist es, für Europa eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, ohne die Achse Frankreich-Deutschland aufzugeben. Das bedeutet natürlich auch für die deutsche Innenpolitik noch viele Diskussionen.


Hintergrund

Warum ist Taiwan für China so wichtig?

Die Volksrepublik China erhebt Anspruch auf die demokratische Inselrepublik Taiwan, weil sie eine besondere Bedeutung für die Kommunistische Partei hat. Die Staatsführung betrachtet den Anschluss Taiwans, den sie als „Wiedervereinigung“ tituliert, als Teil des „Chinesischen Traums“. So erklärte Xi Jinping 2019, dass „auf dem Weg zum Wiedererstarken des chinesischen Volkes“ die taiwanesischen Landsleute nicht fehlen dürften. Er droht mit einer gewaltsamen Eroberung, sollte ein friedlicher Anschluss nicht gelingen.
 
Neben der historischen Bedeutung nimmt Taiwan für das Land aber auch eine geostrategisch wichtige Lage ein. China will seine militärische Macht und Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer weiter ausbauen. Es geht dabei auch um den Schutz der wirtschaftlich bedeutsamen Küstenregion. Die Lage Taiwans an wirtschaftlich wichtigen Meeresstraßen ist dabei für China von enormer Bedeutung. 

Welche Rolle spielen die USA?

Das Großmachtstreben Chinas ist den USA schon lange ein Dorn im Auge. Das Südchinesische Meer und die Taiwanstraße sind wichtige Routen für den Welthandel und für den Wohlstand in den USA, Japan und Europa. 
Die USA haben sich der Verteidigungsfähigkeit Taiwans verpflichtet und unterstützen Taiwan seit langem mit Waffen. Anfang März 2023 hatte die US-Regierung einen geplanten Verkauf von Rüstungsgütern an Taiwan im Umfang von 619 Millionen US-Dollar (rund 566 Millionen Euro) genehmigt, im September 2022 Waffenexporte im Wert von 1,1 Milliarden Dollar. 

Außenminister Antony Blinken hatte bereits im Mai 2022 in einer Grundsatzrede China als „die langfristig größte Herausforderung für die internationale Ordnung“ bezeichnet. Die globale Ordnung müsse verteidigt werden, so die Worte des Chef-Diplomaten – vor allem mit internationalen Verträgen und Abkommen. Das Land sei unter Präsident Xi Jinping „zu Hause repressiver und im Ausland aggressiver“ geworden.

Als Reaktion auf den zunehmenden Druck aus China haben die USA unter Präsident Joe Biden ein Bündnis im indo-pazifischen Raum ins Leben gerufen – das sogenannte Quad, ein informelles Viererbündnis von USA, Indien, Japan und Australien. Den Bündnispartnern ist gemein, dass sie China als potenzielle Bedrohung ansehen. Auch die Entwicklungen in Hongkong und der Druck auf Taiwan spielen dabei eine Rolle. Die aggressive Außenpolitik Chinas gegenüber Taiwan ist das offensichtlichste Element der imperialen chinesischen Politik – und das gefährlichste.

Welchen Status hat Taiwan?

Taiwan heißt offiziell Republik China – im Unterschied zur kommunistischen Volksrepublik China. Das Land wird von den meisten Staaten nicht als souveräner Staat anerkannt – auch von Deutschland nicht. Es ist auch kein Mitglied der Vereinten Nationen. Dort ist die Volksrepublik China Mitglied, die Anspruch auf das gesamte chinesische Festland mit Hongkong, Macao und Taiwan erhebt (Ein-China-Politik). Taiwan versteht sich selbst als unabhängig, wird demokratisch regiert und pflegt zahlreiche Handelsbeziehungen nach Europa und in die USA. Viele Einwohner fürchten, dass ihnen ein ähnliches Schicksal droht wie Hongkong und sehen ihre Existenz als demokratische Inselrepublik bedroht. Ein Anschluss an China wird mehrheitlich abgelehnt.
 
Die internationale diplomatische Isolation von Taiwan mit seinen 23 Millionen Einwohnern begann 1971. Damals verlor Taiwan seine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, wo es ganz China vertreten hatte. Nach Abstimmung in der Vollversammlung wurde die Vertretung Chinas an die Volksrepublik China übertragen. Die de facto zwei chinesischen Staaten gibt es schon seit 1949. Nach Ende des Kaiserreichs wurde 1912 zunächst die Republik China auf dem Festland gegründet. Die Insel Taiwan gehörte ab 1945 dazu, zuvor stand sie noch unter japanischer Herrschaft.

Ab 1927 herrschte aber Bürgerkrieg um die Führung in China. Die nationalchinesischen Kuomintang unter Chiang Kai-shek kämpften gegen die Kommunisten unter Mao Zedong. Nach der Niederlage gegen die Kommunisten 1949 flohen viele Kuomintag auf die Insel Taiwan. Währenddessen gründeten die Kommunisten auf dem Festland die Volksrepublik China. Die Republik China reduzierte sich damit weitgehend auf die Insel Taiwan, sie vertrat China aber weiterhin bei den Vereinten Nationen – bis immer mehr Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik ausbauten und zu Taiwan abbrachen und Taiwan seine Mitgliedschaft schließlich an die Volksrepublik abgeben musste.

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