Auf Youtube gibt es ein Video mit einem Vortrag des konservativen Europapolitikers Otto von Habsburg aus dem Jahr 2003, in der er auf den damals im Westen noch durchaus angesehenen russischen Präsidenten Wladimir Putin eingeht (Über Putin: Wie Otto von Habsburg ihn einschätzte (2003 und 2005) – YouTube). Manche erinnern sich: Zwei Jahre zuvor, am 25. September2001, hatte Putin eine Rede im Bundestag gehalten und dafür von allen Seiten des Parlaments Applaus erhalten. Viele nahmen ihm sein Bekenntnis zur Demokratie damals ab. Sie hofften, dass Putin nach den chaotischen Jahren unter Boris Jelzin Russland stabilisieren und auf einen demokratischen Weg führen würde. Dass der 1999 ins Amt gekommenen Ministerpräsident Putin als erstes einen extrem brutalen Krieg in Tschteschenien geführte hatte, verdrängte man gerne. Zu schön war die Vision eines friedliebenden Russlands als Partner des Westens.
In Putins Kopf
Logik und Willkür eines Autokraten
Michel Eltchaninoff, Tropen, dritte Auflage, Stuttgart 2022, 12 Euro
ISBN 976-3-608-50182-7
Otto von Habsburg weist in seiner Rede gegen den seinerzeitigen Mainstream auf Züge des russischen Präsidenten hin, die in ihm mit Blick auf die Sicherheit Europas alle Alarmglocken zum Klingen brachten. Er berichtet aus den Zeiten der Wende in Ostdeutschland, dass der damals in Dresden eingesetzte KGB-Agent Putin bei politischen Häftlingen in DDR-Gefängnissen als besonders brutal bekannt war. Habsburg geht auch auf eine damals im Westen kaum wahrgenommene Rede ein, die Putin kurz nach Amtsübernahme gehalten hat. Darin hatte er seine geschichtsrevisionistischen Ziele klar formuliert, Russland nicht nur politisch, sondern auch territorial zu der Größe zurückzuführen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren gegangen war. Habsburg, bei seiner Rede schon 91 Jahre alt, zeigte in einer aus heutiger Sicht extrem klarsichtigen Weise auf, was passieren würde, wenn man Putin auf diesem Weg gewähren lässt und seinen Demokratiebekenntnissen auf den Leim geht. Er sah Parallelen zu Hitlers Aufstieg. Auch den hatte man lange unterschätzt, obwohl er in „Mein Kampf“ schon Jahre vor der Machtergreifung genau beschrieben hat, was seine wahren Ziele sind und wie er sie verwirklichen will.
Der Historiker Timothy Garton Ash berichtet in seinem neuesten Buch „Homelands“ von einer Begegnung im Jahr 1994 mit einem Mann, „short, thick-set, with an unpleasant, vaguely rat-like face“, der sich über die Unabhängigkeit früherer europäischer Sowjetrepubliken erregte, die doch alle nach wie vor zu Russland gehörten. Ort der Begegnung: Sankt Petersburg. Der Gesprächspartner: ein gewisser Wladimir Putin, seines Zeichens Assistent des Bürgermeisters der Stadt.
Es ist also immer gut, genau hinzuhören und hinzuschauen. Manch großes Unheil kündigt sich früh an. Naivität und blindes Vertrauen werden meist hart bestraft.
Michel Eltchaninoff, Chefredakteur des in Frankreich erscheinenden „Philosophie Magazins“, hatte sich nach dem Einmarsch Russlands auf der Krim 2014 darangemacht, die ideologischen Grundlagen Putins zu untersuchen. 2015, in deutscher Ausgabe 2016, hatte er die Ergebnisse unter dem Titel „In Putins Kopf“ veröffentlicht. Vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 ist dieser Band nun aktualisiert neu aufgelegt worden.
Eltchaninoff sieht zwei Phasen in der Entwicklung von Putins Denken. In der Anfangsphase seiner Präsidentschaft äußerte er sich durchaus Europa zugewandt, zitierte gelegentlich Kant und distanzierte sich von staatlich verordneten Ideologien, wie sie die Sowjetunion geprägt haben. Gleichwohl ließ er von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es ihm darum geht, Russland als Nation zu neuer Größe zu führen. Der Untergang der Sowjetunion hatte für Putin nicht nur zum Verlust von historisch an Russland gebundener Territorien geführt und über Nacht große russische Diasporagemeinden in den nun staatlich unabhängigen früheren Sowjetrepubliken geschaffen. Der Untergang der Sowjetunion mit ihrer marxistischen Heilslehre habe darüber hinaus ein geistiges Vakuum hinterlassen, das zu füllen war – nicht durch westlichen Materialismus und Liberalismus, sondern durch eine Rückbesinnung auf ein Russentum, das er unter den Trümmern der Sowjetideologie wieder hervorholen wollte. Bei Putins Bild der Gemeinsamkeiten von Europa und dem Russland, dass er schaffen wollte, gab es schon damals Akzente, die hätten aufhorchen lassen können. Die gemeinsamen Grundlagen sah Putin nämlich weniger in freiheitlichen und demokratischen Werten, als in den gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln in der Antike und der Verankerung im Christentum.
Für Eltchaninoff gab es nach 2004 in seiner zweiten Amtszeit als Präsident und vor allem ab 2012 in seiner dritten Amtszeit eine „konservative Wende“ im Denken Putins, das sich zunehmend vom Westen abwandte und aggressiv-nationalistische Züge annahm. Die islamistischen Anschläge in dieser Zeit, etwa der von Beslan mit fast 400 Toten, hätten bei Putin die endgültige Wende in Richtung Autokratie ausgelöst.
Einen besonderen Einfluss auf Putins Denken haben Eltchaninoff zufolge die Arbeiten des russischen Philosophen Iwan Iljin (1883-1954). Iljin war ein erbitterter Gegner der russischen Revolution und wurde 1922 zusammen mit anderen Intellektuellen aus der Sowjetunion verbannt. Auf einem „Philosophenschiff“ floh er nach Deutschland. Iljin lehnte den Internationalismus und Materialismus der Kommunisten ab. Dagegen setzte er auf ein spirituelles Russentum, als Gegensatz zum Liberalismus und Materialismus Europas. Den Faschismus und den in Deutschland aufkommenden Nationalsozialismus sah er in diesem Sinne durchaus auf seiner Linie. Selbstaufopferung zugunsten des eigenen Volkes ist ein immer wiederkehrendes Motiv. Es gibt, wie Eltchaninoff zeigt, bei Iljin auch viele Verbindungen zu den Denkern der „konservativen Revolution“ im Deutschland der 1920er Jahre, etwa Ernst Jünger und Carl Schmitt.
Putin sorgte dann dafür, dass der Leichnam des 1938 aus Deutschland in die Schweiz weitergezogenen und dort gestorbenen russischen Philosophen nach Russland zurückgeholt und mit allen staatlichen Ehren bestattet wurde. Wie Eltchaninoff berichtet, hat er dadurch eine regelrechte Iljin-Renaissance in Russland ausgelöst. In den tonangebenden Kreisen um Putin gehörte es mehr und mehr zum Komment, Iljin zu lesen und zu zitieren, wann immer sich eine Gelegenheit bot.
Nur konsequent erscheint vor diesem Hintergrund das immer festere Bündnis Putins mit der orthodoxen Kirche mit der er einen verbissenen Kampf gegen die „homosexuelle Kultur“ des Westens führt.
In der Folge hat sich Putin, wie Eltchaninoff zeigt, immer mehr einer eigentümlichen imperialistischen Ideologie verschrieben. Alexander Dugin (*1962), der die Vision eines eurasischen Imperiums unter russischer Führung entwickelte, wurde dabei wohl immer mehr zum intellektuellen Gewährsmann Putins. Auch Carl Schmitt, der Kronjurist Hitlers und Theoretiker des totalen Krieges, werde zumindest in Putins Umfeld häufig gelesen.
Die philosophischen Quellen des Putinismus, schreibt Eltchaninoff, „beruhen alle auf zwei Grundtendenzen: der Idee des Imperiums und der Apologie des Krieges“ (Seite 133). Es passe zur imperialistischen Logik, dass Putin seine Mission zunehmend aggressiv interpretierte. Es ging ihm nicht mehr nur darum, Russland von den Gefahren westlicher Libertinage zu schützen, sondern mehr und mehr auch darum, die konservative Wende zu „exportieren“: „Putin versteht sich als Herold dieser antimodernistischen Welle“ (Seite 166).
Der Band von Etchaninoff zeigt, wie sich Putin von einem Technokraten der Macht allmählich zu einem Herrscher entwickelte, der sich um ein ideologisches Fundament für seine Politik bemühte, das völkische und nationalistische Elemente hat, vor allem aber von der Abgrenzung gegen die Werte und die Kultur des Westens lebt, worin sich inzwischen nach allem was man sieht, auch so etwas wie eine ideologische Brücke zum politischen Islam des Iran und zur nach wie vor marxistischen Parteidiktatur in China herausbildet. Das wird sehr plausibel dargestellt und man lernt einiges über Denker, die hierzulande eher nicht zum Kanon der philosophischen Lektüre gehören. Etwas mehr hätte man allerdings gerne erfahren über die merkwürdige Allianz des im sowjetischen Geheimdienst groß gewordenen Putin mit dem orthodoxen Klerus, der ja mit dem Patriarchen Kyrill auch von einem ehemaligen KGB-Agenten geführt wird. Gibt es religiöse Motive im Denken Putins oder wird die Religion nur ideologisch instrumentalisiert? Stoff für weitere Studien!
Eltchaninoff hat ein kompaktes, gut lesbares, informatives, und leider weiterhin hochaktuelles Buch geschrieben, das dazu beitragen kann, das aktuelle Russland unter Putin etwas besser zu verstehen.