Es gibt Artikelüberschriften, die mehr über das Denken ihrer Schöpfer aussagen, als dass sie dem Inhalt entsprechen, den sie komprimiert wiedergeben sollen. Beispiel: Das vierte Grundsatzprogramm der CDU mit dem Titel „In Freiheit leben – Deutschland sicher in die Zukunft führen“, mit dem die Christdemokraten bei der angestrebten Rückkehr ins gut bürgerliche Lager wieder einmal verstärkt auf eine Leitkultur setzen. Wie freudig meldete doch „Bild“: „CDU macht Schluss mit Multi-Kulti“. Aha?! Das wirft Fragen auf. Warum und wie soll das Miteinander verschiedener Kulturen denn aufgegeben werden? Wie soll eine Nation, die Menschen aus nahezu allen 195 Ländern der Erde beherbergt, mit Multi-Kulti Schluss machen? Und warum nur ist das Alternativen-Narrativ zur Förderung von Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft in ultrakonservativen Kreisen so verpönt ist wie dereinst die Hippie- und Friedensbewegung Flower-Power bei deren Altvorderen?
Endlich kehre die CDU-Spitze zurück zur deutschen Leitkultur, frohlockt die für CDU-Kampagnen berüchtigte Boulevardblatt-Redaktion. Dabei sind die Irritationen 23 Jahre nach dem ersten gleichlautenden Vorstoß von Friedrich Merz ähnlich groß wie damals. Deutsche Leitkultur – was ist das? Was gehört dazu? Was ist daran unverwechselbar deutsch? Konnte das jemals geklärt werden? Ist es nicht die Rückkehr eines Kampfbegriffs, der ausgrenzt, statt verbindet? Und diese Ausgrenzung bei Migrationsfragen ist ja auch gewollt. Dazu passt der Hinweis an die Muslime, die nur zu Deutschland gehören sollen, wenn sie bereit sind, „unsere Werte“ zu teilen. Das ist der falsche Weg, auf die gewünschte wie notwendige Integration beziehungsweise Assimilation hinzuwirken. Mit der simplen Botschaft hier „Wir“, dort „die Anderen“ hat sich die CDU in ihrem Bemühen verheddert, ihre in der Merkel-Ära vergraulten CDU-Wähler von der AfD zurückgeholt werden.
Rückkehr in die Neunziger
Apropos Angela Merkel: Allenthalben heißt es, die CDU habe sich mit diesem Programm „CDU pur“ von der als zu liberal empfundenen Ära unter der Kanzlerin verabschiedet. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass die frühere Parteivorsitzende sich längst von ihrer Partei entfernt hat, zuletzt mit der Kündigung der Mitgliedschaft in der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Dame hat sich dazu nicht geäußert, angenommen werden kann aber, dass ihr die Ausrichtung der Partei unter Intimfeind Friedrich Merz gar nicht passt. Das kann auch nicht verwundern. Mit seinem postulierten „Mut zur Leitkultur“ will Merz seine Partei und die Nation zum Ursprung der Idee zurückführen – in die späten Neunziger des letzten Jahrhunderts.
Übrigens: Verstehen wir nicht unter Kultur die tragenden Lebensformen einer Gesellschaft und die ihnen zugrunde liegenden Wertüberzeugungen wie Freiheitlichkeit, Liberalität oder Demokratie? Das ist die Bejahung der verfassungsmäßigen Ordnung. Das sind aber doch keine Werte, die Deutschland für sich gepachtet hat.
Nach dem Offenbarungseid, den die Ampel bezüglich einer strategischen, nachhaltigen politischen Ausrichtung eigentlich leisten müsste, fällt nun also auch noch die CDU als Hoffnungsträger aus, wenn es um die Zukunft dieses Landes geht. Dafür ist Multi-Kulti nämlich vonnöten. Denn gerade in der unumkehrbaren Vielfalt stecken die Chancen Deutschlands. Es braucht keine bewusste Identität als deutsche Staatsnation. Aber die Architekten des neuen CDU-Programms trommeln lieber für Heimat, Tradition, Bräuche. Das stellt doch niemand infrage! Das alles hat seinen Platz in diesem Land! Damit lässt sich aber in gesellschaftlich eruptiven KI-Zeiten kein Blumentopf gewinnen.
Verantwortung aus unserer deutschen Geschichte heraus wird in dem Programm postuliert. Was ist das denn? Wie verträgt sich das mit zunehmendem Antisemitismus und dem Rechtsruck mit Potenzial zur radikalen Wende? Die CDU ist betrunken von der Aussicht auf eine Schwarz-Rot-Goldrenaissance, die die vermeintlichen Multi-Kulti-Träumereien der einstigen Parteichefin Angela Merkel auslöschen sollen. In ihrem Programmentwurf ruft sie einen „weltoffenen Patriotismus“ aus: „Wir sind stolz auf Deutschland“, „Wir stehen für einen weltoffenen Patriotismus, der (…) aber im Wissen um unsere historische Schuld nicht das eigene Land über andere stellt.“
Dieses Geschwurbel mit Allgemeinplätzen findet in dem Entwurf noch seine Fortsetzung: „Für uns sind Schwarz, Rot und Gold die Farben des Hambacher Festes, der Paulskirche und der Deutschen Einheit, die Farben unserer Demokratie und Republik“, steht da. Fragt sich nur: Für wen sind sie es denn nicht? Da fallen einem zuvorderst die Rechtsaußen von der AfD ein, der die CDU jetzt auf möglichst vielen Themen mit fremdländischen Wurzeln Paroli bieten will. Sprachkurse für Ausländer sollen Pflicht werden. Gut so, längst überfällig. Das aber ist doch noch kein Ende von Multi-Kulti.
Multi-Kulti eine feste Größe
Zudem hat die CDU die „klare Erwartung, dass die zugewanderten Menschen (…) unsere Werte und unsere Gesetze achten (…) Wir wollen dazu verpflichtende Integrationsvereinbarungen.“ In der Tat gibt es da enormen Handlungsbedarf. Das ist aber nicht das Ende von Multi-Kulti, sondern dessen Stärkung. Das trifft auch auf die Forderung zu, jedes Kind von Zuwanderern im Alter von vier Jahren einem Sprachtest zu unterziehen. Wenn danach auch die Sprachförderung mit aller Ernsthaftigkeit angegangen wird, sollte das ein großes Manko im Bildungssystem beheben können.
Festzuhalten bleibt: Multi-Kulti bleibt auch unter einer CDU-geführten Regierung eine feste Größe, wird nur anders gemanagt. „CDU will Wechsel in der Asylpolitik“ titelte deshalb folgerichtig die Heimatzeitung im Gegensatz zu „Bild“ wertneutral. Richtig: Zumindest Korrekturen am System sind überfällig. Leider ist Papier aber geduldig und stehen forschen programmatischen Absichten in der Realität zu oft finanzielle, personelle, organisatorische und letztlich sogar rechtliche Hürden entgegen. Letztlich sollte sich auch „Deutschtümelei“ als Hindernis erweisen, auch wenn die verordnete Rückbesinnung auf Merkmale der eigenen ethnischen Gemeinschaft derzeit in aller Welt Konjunktur zu haben scheint.
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