– Der Weltgemeinschaft gelingt es einfach nicht, die Leiden im Gaza-Streifen zu lindern –
Seit vielen Monaten werden im Gaza mittlerweile zigtausend palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten bei Angriffen der israelischen Armee getötet, unendlich viele schwer verletzt und verkrüppelt. Kinder verhungern und verdursten. Die monatelange Blockade von Hilfeleistungen auf Geheiß der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bewirkt im Gazastreifen eine andauernde menschliche Katastrophe (hier ein Video). “Der Krieg in Gaza trägt – mit jedem Tag mehr – das Gesicht eines Kindes: gezeichnet von anhaltenden Angriffen, Hunger, Verletzungen, dem Verlust von Angehörigen und Trauma.” Das sagte Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau.
Die Bilder über das Leid im Gaza werden immer schrecklicher und sind kaum mehr zu ertragen. Menschen, insbesondere auch Kinder sind völlig ausgemergelt und sehen aus wie Gerippe – Erinnerungen an die schrecklichen Gräueltaten von Nazi-Deutschland werden wach. Israel geht täglich mit tödlicher Gewalt gegen eine wehrlose Bevölkerung vor. Eine Grausamkeit folgt der nächsten, und die Regierung Netanjahu beschleunigt ihr Bestreben, das palästinensische Volk auszuhungern, zu terrorisieren und zu vernichten. Aus dem Recht zur Verteidigung nach dem blutigen Angriff der Hamas hat sich Israel demnach auch das Recht herausgenommen, Kriegsverbrechen in Gaza zu begehen. Das wurde auch schon von unterschiedlichen internationalen Menschenrechtsorganisationen deutlich formuliert.

Mit diesen eindringlichen Worten wandte sich UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell während eines Briefings im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Lage der Kinder im Gazastreifen an die internationale Gemeinschaft. Foto: Pixabay
Einige Beispiele aus den letzten Wochen:
Kinder im Gazastreifen kämpfen unter apokalyptischen Bedingungen ums Überleben, während viele von ihnen verzweifelt versuchen, ihren Familien zu helfen. Am 7. Juli wurden erneut sieben Kinder getötet und verletzt, während sie an einer Wasserverteilstelle warteten. Wenige Tage zuvor wurden mehrere Babys und Mütter getötet, als sie in Deir al Balah auf Nahrungshilfen für ihre Kinder warteten.
Am 10. Juli wurden bei einem israelischen Angriff auf ein ziviles Gebiet außerhalb der Gesundheitsklinik von Project HOPE in Deir al Balah 15 Menschen getötet, darunter neun Kinder und vier Frauen, und 30 weitere verletzt.
Am 11. Juli wurden bei einem israelischen Luftangriff auf die einzige katholische Kirche Gazas drei Menschen getötet und mehrere weitere verletzt.
Ebenfalls am 11. Juli wurden zehn Palästinenser in der Nähe einer Lebensmittelverteilstelle im Nordwesten von Rafah getötet und 60 verletzt. Am darauffolgenden Tag starben 31 der 132 Verwundeten, die im Feldlazarett des Roten Kreuzes aufgenommen worden waren, an ihren Verletzungen.
Zwischen dem 10. und 13. Juli wurden mindestens vier Journalisten bei verschiedenen israelischen Angriffen getötet, darunter einer, der beim Aufsuchen seines Hauses gezielt angegriffen wurde, und ein weiterer zusammen mit seiner schwangeren Frau und drei Kindern in einem Zelt für Binnenflüchtlinge.
Am 14. Juli wurden bei einem israelischen Angriff auf ein Wohnhaus, in dem Vertriebene in Tal al Hawa untergebracht waren, zwölf Palästinenser, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, getötet und 30 weitere verletzt.
Am 16. Juli wurden 21 Menschen an einer militarisierten Hilfsverteilungsstelle im Süden von Khan Yunis getötet; 15 von ihnen starben in einer Massenpanik, indem sie erstickten oder totgetrampelt wurden.
Hilfskorridore als Fallen
Die von Israel und den USA gegründete Organisation „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF) hat sogenannte „Hilfskorridore“ eingerichtet, die in Wirklichkeit killing fields (Todesfelder) sind: Fallen, die von israelischen Drohnen und Scharfschützen überwacht und gezielt angegriffen werden. Seit Ende Mai sind an diesen Orten fast 1.000 Menschen getötet und mehr als 6.000 verletzt worden. Die Tötung von Hilfe suchenden Menschen steht in direktem Zusammenhang zu einer gezielten Hungerkampagne. Das Gesundheitsministerium von Gaza berichtet, dass innerhalb von 24 Stunden 18 Menschen verhungert sind. Es sind die Auswirkungen einer drastischen Verschärfung der Hungersnot durch die fast vollständige Blockade von Lebensmitteln, Wasser und Strom durch Israel.
Beim Vorrücken im Gazastreifen hat Israels Armee nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Lagerhäuser und andere Einrichtungen der Organisation gestürmt. „Das Militär drang in die Einrichtungen ein und zwang Frauen und Kinder (der WHO-Mitarbeiter) dazu, zu Fuß inmitten von Kampfhandlungen nach Al-Mawasi zu fliehen“, schrieb WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus auf der Plattform X. Männliche WHO-Mitarbeiter und männliche Angehörige seien bei dem Vorfall in Deir al-Balah im mittleren Gazastreifen in Handschellen gelegt, durchsucht und mit vorgehaltener Waffe verhört worden. Zwei Mitarbeiter und zwei Angehörige seien festgenommen, drei von ihnen wieder freigelassen worden. Einer von ihnen befinde sich weiter in israelischer Haft. Die WHO verlangt seine Freilassung.
Evakuierung vor Deportation?
Am Wochenende kündigte Israel eine neue Bodenoffensive im Zentrum des Gazastreifens an und erließ neue Evakuierungsanordnungen, durch die nach Auffassung des UN-Nothilfebüros katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung zu befürchten sind. So erhalten Spekulationen neue Nahrung, wonach die Regierung Netanjahu plant, die Bevölkerung des Gazastreifens in ein riesiges Konzentrationslager auf den Ruinen von Rafah zusammenzutreiben, um sie schließlich in andere Länder zu deportieren. Eben wegen dieser Politik hat sich Bundeskanzler Friedrich Merz mittlerweile dazu aufgerafft, sich von Israels Gaza-Politik zu distanzieren. Er kritisiert das militärische Vorgehen als „nicht akzeptabel“ und fordert mehr humanitäre Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung. Insofern wird Merz in seinen Aussagen zwar endlich etwas klarer, ist aber nach wie vor weit davon entfernt, dass den Worten verbindliche Handlungen folgen.
Das große Ziel in Nahost ist eine verbindliche Zwei-Staaten-Lösung, die allerdings nur mit massivem politischem Druck auf die israelische Regierung zu erreichen sein wird. Auch wenn beispielsweise ein Stopp deutscher Waffenlieferungen angesichts des geringen Umfangs nur symbolischen Charakter hätte, so wäre das wenigstens ein Zeichen einer längst fälligen Emanzipation der Bundesrepublik im Verhältnis zu Israel. Es reicht nicht, sich immer wieder hinter der „Deutschen Schuld“ zu verstecken. Denn es geht eben nicht um Antisemitismus, sondern um eine klare Haltung gegenüber unmenschlichen Kriegsverbrechen. Gerade dann aber steigt Deutschland bisher aus.
Zwei Drittel der 27 EU-Mitgliedsländer fordern mittlerweile die Überprüfung des 25 Jahre alten Assoziierungsabkommens mit Israel. In Artikel zwei des Abkommens verpflichten sich beide Seiten auf die Wahrung der Menschenrechte. Das ist aber schon lange eine Einbahnstraße geworden, denn Israel verletzt die Menschenrechte durch ihre Blockadepolitik und durch Bombardierungen ziviler Ziele mit vielen Wohngebieten schon seit vielen Monaten. Emmanuel Macron – Frankreich, Keir Starmer -Großbritannien und Mark Carney – Kanada reagieren mit „konkreten Maßnahmen“, wobei London mittlerweile ernst gemacht hat und Gespräche über Freihandelsabkommen mit Israel ausgesetzt hat.
Die EU-Außenbeauftragte hat aktuell eine Liste mit 10 Optionen an die EU-Staaten geschickt, damit Israel sich ein kleines bisschen bewegt. Bei den Vorschlägen geht es den Stopp von Waffenlieferungen und verschiedene Sanktionen bis hin zur Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens. Für solche verbindlichen Strafmaßnahmen durch die EU ist allerdings wieder die Einstimmigkeit des EU-Rats erforderlich. Es wird deshalb beim symbolische Akt bleiben, weil sich unter anderem Deutschland und Ungarn verweigern. Allerdings: Maßnahmen wie die Beendigung von visafreien Reisen israelischer Staatsbürger und Kürzung von EU-Fördermitteln bei technologischer Zusammenarbeit würden auch ohne Einstimmigkeit der EU funktionieren. Insofern kann man nur hoffen, dass der EU-Rat zumindest die eigenständigen Maßnahmen durchsetzen wird.
Klare Positionierung gefordert
Realistisch gesehen wird Israel sich nur bewegen, wenn das Land gravierende wirtschaftliche und diplomatische Konsequenzen zu erwarten hat. Die Welt darf nicht weiterhin tatenlos zusehen, wie die israelische Regierung sich durch „Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Taten“ (Inhalt des Haftbefehls des internationalen Staatsgerichtshofes gegenüber Netanjahu und Galant vom 21.11.2024) und sich immer weiter fortschreitenden Auslöschung der Menschen eines ganzen Landstrichs schuldig macht. Es müssen endlich klare Positionierungen und Handlungen im Sinne des Maßnahmenkataloges vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) folgen. Darin heißt es, es gebe Hinweise darauf, dass Israel seine Menschenrechtsverpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen durch „wahllose Angriffe … Hungersnot … Folter … [und] Apartheid“ gegen die palästinensische Bevölkerung verletzen würde. Israel hat den EAD-Bericht als voreingenommen zurückgewiesen.
Ungeachtet dessen haben die Außenministerinnen und -minister von 25 Ländern in einer gemeinsamen Erklärung ein sofortiges Ende des Kriegs im Gazastreifen gefordert. Ihre Botschaft ist klar und dringend: „Der Krieg in Gaza muss jetzt beendet werden. Weiteres Blutvergießen dient keinem Zweck.“ Man unterstütze die Bemühungen der Vermittler USA, Katar und Ägypten. Unterzeichnet wurde die Erklärung unter anderem von den Außenministerinnen und -ministern Österreichs, Italiens, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, Belgiens und Kanadas sowie von der EU-Kommissarin für Gleichstellung und Krisenmanagement. Deutschland hält sich raus. »Wir haben lange vorher im Europäischen Rat genau diese Position eingenommen«, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz zur Begründung. Die mehrere Wochen alte Erklärung des Europäischen Rates und der Brief der mehr als zwei Dutzend Staaten nun seien „praktisch inhaltsgleich“. Angesichts des unendlichen Leids von Millionen hätte es sicher nicht geschadet, die Position der Menschlichkeit noch einmal zu bekräftigen.
Anmerkung der Autorin: Das Vorgehen Israels in Gaza hat eine enorme Welle globaler Opposition ausgelöst. In den letzten 21 Monaten haben Millionen Menschen an Massenprotesten teilgenommen. Diese Demonstrationen drücken ebenso wie die zahlreichen Petitionen zwar tief empfundene und legitime moralische Empörung aus, aber es fehlt ihnen eine klare politische Perspektive. Daraus müssen wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden. Abseits dessen sind Spenden an Ärzte ohne Grenzen, oder andere Hilfsorganisationen weiterhin dringend notwendig.