– Arbeitgeber wollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall schleifen –
Aktuell wird auf den verschiedensten Feldern immer wieder mal etwas zur Disposition gestellt, das alle bis dato als selbstverständlich erachtet haben. Das gilt auch für den Vorstoß von Arbeitgeberseite, wegen des hohen Krankenstandes die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für den ersten Tag einer Krankmeldung zu streichen. Der Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte für die Einrichtung eines solchen Karenztages stößt auf scharfe Kritik von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD). Wer krank gemeldete Beschäftigte unter den Generalverdacht des Blaumachens stelle, habe ein verzerrtes Bild von den arbeitenden Menschen in diesem Land, sagte Heil dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Deutschen seien keine Drückeberger und Faulenzer. Einschränkungen bei Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werde es mit ihm nicht geben. Der Vorsitzende der Arbeitnehmervereinigung in der CDU, Dennis Radtke, bezeichnete den Vorschlag von. Bäte als inakzeptabel: „Er steht für eine Kultur des Misstrauens gegenüber allen Arbeitnehmern“, sagte er dem „Tagesspiegel“.
Wie so oft geht es ums Geld: Arbeitgeber mussten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 2023 insgesamt 76,7 Milliarden Euro aufwenden, so eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). So stellt auch Minister Heil klar: „Ich habe kein Verständnis für Blaumacher. Wenn Einzelne das System ausnutzten, gilt es, gezielt dagegen vorzugehen. Die Rechtslage bietet dafür heute schon ausreichend Instrumente“. Ein Arbeitgeber, der den Verdacht hat, dass jemand „blau macht“, kann ab dem ersten Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlangen. Wer beim „Blaumachen“ erwischt wird, hat immer mit massiven arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Und es gibt auch Zahlen zu diesem Komplex der sogenannten „Bettkantenentscheidung“: Nur 36 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sagen von sich, gesund immer dem Job nachzugehen. Jeder Zehnte meldet sich „an der Bettkante“ schon mal krank, obwohl er es nicht ist. Das sind Ergebnisse der Studie „Arbeiten 2023“ der Pronova BKK. Das heißt aber auch: Die meisten machen eben nicht blau.
Der Kampf für ein Schutzrecht
Der Vorstoß aus dem Arbeitgeberlager, den namhaft unter anderem Mercedes-Chef Olaf Källenius, Sozialexperte Bernd Raffelhüschen und Unions-Fraktionsvize Sepp Müller unterstützen, lohnt eine nähere Beschäftigung mit dieser sozialpolitischen Errungenschaft. Als härtester Arbeitskampf der Nachkriegsgeschichte gilt bis heute der Streik der Metallarbeiter von 1957 für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. 34.000 legten sechzehn Wochen lang ihre Arbeit nieder, um diese sozialpolitische Absicherung für alle Beschäftigten in Deutschland zu erreichen. Die mächtige Stahlarbeitergewerkschaft der USA wünschte der Gewerkschaft IG Metall in Kiel Erfolg bei dem Versuch, das „Wirtschaftswunder in Deutschland“ zu einem „Wirtschaftswunder für die Arbeiter zu machen.“ Pro Woche wurden zwei Millionen Mark Streikgeld ausgezahlt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schickte tausende Pakete mit dem Lebensnotwendigsten nach Schleswig-Holstein.
Dieser Streik war der Beginn einer großen Solidarität in ganz Deutschland. Er brachte einen ersten großen Erfolg und die Gleichstellung erfolgte 1970 als Gesetzgebung. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist seither ein wichtiges soziales Schutzrecht, das ab dem ersten Krankheitstag gilt. Dieses Recht war noch einmal 1996 bedroht. Damals kämpfte die IG Metall im November erneut und letztlich erfolgreich für die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Zwei Monate zuvor hat Bundeskanzler Helmut Kohl mit seiner Mehrheit aus Union und FDP eine Gesetzesänderung durch den Bundestag gebracht, die die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 100 Prozent auf 80 Prozent heruntersetzte. Am 1. Oktober 1996 war das Gesetz in Kraft getreten, das für mehr Investitionen und Arbeitsplätze sorgen sollte.
Vor allem erzürnt die Gewerkschafter, dass manche Arbeitgeber die gesetzliche Kürzung auf 80 Prozent zum Anlass nehmen wollen, sogar die in vielen Tarifverträgen vereinbarte volle Lohnfortzahlung auszuhebeln. Als der Vorstand der Daimler-Benz AG beschließt, die neue gesetzliche Regelung anzuwenden, legen 30 000 Konzernbeschäftigte die Arbeit nieder. Im gesamten Bundesgebiet kommt es in der Metallindustrie, aber auch in anderen Branchen zu Arbeitsniederlegungen, an denen sich mehrere Hunderttausend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beteiligen. In Tarifverhandlungen können die Gewerkschaften schließlich für rund neun Millionen Beschäftigte die volle Lohnfortzahlung sichern. Das neue Gesetz aber können sie nicht beseitigen. Erst 1998 kippt die erste rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder die Kürzung aus Kohls Zeiten. Bis heute gilt: Bei Krankheit wird voller Lohn gezahlt.
Präsentismus
Diese Absicherung hat einen hohen Wert angesichts des Umstandes, dass immer mehr Menschen trotz Krankheit arbeiten. „Präsentismus“, also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet. Schon vor Corona gab es Untersuchungen, bei denen 70 Prozent der Beschäftigten angaben, mindestens einmal im Jahr krank auf der Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben. Deutlich wurde dabei, dass entstehende Produktivitätsverluste durch Krankheitsfälle für Arbeitgeber oftmals niedriger sein können als die Kosten, die entstehen, wenn erkrankte Mitarbeiter/innen arbeiten gehen und die Gefahr laufen, ihre Krankheit zu verschleppen, zu verschlimmern, andere anzustecken, unkonzentriert Fehler zu machen, Gefahr von Unfällen verursachen und dass Infekte die Runde machen.
Besonders gravierend muss Präsentismus beispielsweise in Dienstleistungsbereichen gesehen werden, wenn beispielsweise Berater/innen, Busfahrer/innen, Lehrer/innen ihre Kund/innen anstecken, oder gar im Pflege- und Gesundheitsbereich, wenn angeschlagene Pfleger/innen gesundheitlich ohnehin angeschlagene Patient/innen zusätzlichen Krankheiten aussetzen.
Nach einer Befragung von Beschäftigten sind bei einem Drittel die Angst vor Jobverlust, Termindruck und die fehlende Unterstützung von Kolleg/innen mit 77 Prozent viel häufiger Ursache für Präsentismus als bei 66 Prozent Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz als sicher betrachten.
Internationaler Vergleich
Der internationale Vergleich der Regelungen zur Lohnfortzahlung gibt kein Argument für eine Spaltung der Gesellschaft her. Schweden dient bei Arbeitgebern wie auch jetzt bei Allianz-Chef Bäte immer wieder als Musterbeispiel in der deutschen Debatte. In diesem Land bekommen Arbeitnehmer/innen seit den Neunzigerjahren am ersten Tag keinen Lohn. Aber ausgerechnet dort ist man wenig davon überzeugt. Ellenor Mittendorfer-Rutz, Professorin für Versicherungsmedizin, warnt davor, Schweden als gutes Beispiel heranzuziehen. Krankenstände würden durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. In diesem Zusammenhang erwähnt sie etwa die Entwicklung der Morbidität, Arbeitsplatzbedingungen, allgemeine ökonomische Situation, Handhabung der Ärzte von Krankschreibungen und auch die Organisation des Sozialversicherungssystems.
Weiterhin macht der Arbeitsmarkt-Experte Dr. Eike Windscheid-Profeta von der Hans-Böckler-Stiftung deutlich, dass gemäß der Auswertung einer Befragung der Industrieländerorganisation OECD die hiesigen Fallzahlen weder im Zeitverlauf noch im Vergleich zu anderen EU-Ländern auffällig sind.
Nach den Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fehlten Beschäftigte in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit wegen einer Krankheit. Das entspricht exakt dem Durchschnitt des Zeitraums von 2015 bis 2019. In den Pandemiejahren 2021 und 2022 war der Wert vorübergehend gesunken, möglicherweise wegen der vermehrten Kurzarbeit und Homeoffice-Nutzung. Hier erklären OECD-Experten ein höheres Niveau der Arbeitsunfähigkeitszeiten in Deutschland mit der besseren statistischen Erfassung. In anderen Untersuchungen liegt Deutschland zwar momentan vorn, das war aber auch schon ganz anders. Die Position schwankt über die Jahre – während sich an der Lohnfortzahlung seit vielen Jahren nichts geändert hat.
Präzisere Statistik
Natürlich gibt es die sogenannte „Bettkantenentscheidung“: Nur 36 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sagen von sich, gesund immer dem Job nachzugehen. Jeder Zehnte meldet sich „an der Bettkante“ schon mal krank, obwohl er es nicht ist. Das sind Ergebnisse der Studie „Arbeiten 2023“ der Pronova BKK. Und natürlich geht es hier ums Geld: Arbeitgeber mussten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 2023 insgesamt 76,7 Milliarden Euro aufwenden, so eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
Für den Anstieg der Fehlzeiten in den vergangenen Jahren sind laut Windscheid-Profeta unter anderem psychische Erkrankungen verantwortlich, die im Schnitt mit besonders langen Ausfallzeiten verbunden sind. Solche Erkrankungen würden einerseits heutzutage besser erkannt und schon deshalb häufiger diagnostiziert. Weiterhin wird der zunehmende Stress in vielen Betrieben durch Personalmangel und Digitalisierung als wichtiger Zusammenhang für Erkrankungen gesehen. Aktuell komme zu dieser Entwicklung noch die ungewöhnlich hohe Zahl an Atemwegsinfekten hinzu, die bis 2022 durch die Corona-Schutzmaßnahmen eingedämmt worden waren und nun umso heftiger grassieren.
Die IG Metall bezeichnete es als unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen. „Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten“, sagte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. „Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen.“ Die Auffassung der Gewerkschaften: Statt kranke Beschäftigte zu Sündenböcken zu machen, haben Analyse, mehr betriebliche Präventionsmaßnahmen wie Gefährdungsbeurteilungen, betriebliche Gesundheitsförderung und flexible Arbeitsmodelle eine bessere Wirkkraft, um Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen. Allerdings setzten viele Betriebe ihre gesetzlichen Verpflichtungen bisher nur halbherzig um und schaden damit ihrer Belegschaft und letztlich sich selbst, heißt es. Betriebliche Gesundheitsförderung fördere nicht nur die Gesundheit von Beschäftigten, sondern steigere auch die Produktivität nachhaltig.
Auch aus dem Arbeitgeberlager – hier der Start-up-Branche, gibt es Kritik: Tobias Stüber, Chef der Bus-Buchungsplattform Flibco, lehnt gegenüber „Bild“ unbezahlte Krankheitstage ab: Mitarbeiter vertrauten keinem Unternehmen, das sie für Krankheit bestrafe. „Der Vorschlag, bei einem Tag Krankheit das Gehalt zu reduzieren, ist absurd“, so Stüber. Die Lösung für eine höhere Gesundheitsrate sei stattdessen eine bessere Unternehmenspolitik und „eine Führungsebene, die zuhört“.
Natürlich gibt es eine geringe Anzahl von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die sich überaus oft krankmelden, sogar öfter als 20 Tage im Jahr und gern am Montag oder Freitag, für einen oder zwei Tage. Da ist es den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen nicht zu verdenken, wenn sie stutzig werden und die Lohnfortzahlung für den ersten Tag streichen wollen. Aber Achtung: Die cleveren Faulen lassen sich dann gleich für eine ganze Woche krankschreiben, nach dem Motto: Wenn schon Freizeit, dann schon richtig Freizeit. Die Erfahrung lehrt: Manchmal ist Misstrauen angebracht. All die anderen aber, die übergroße Mehrheit der Kollegen und Kolleginnen der Blaumacher, die darf man nicht bestrafen. Man würde nur ihr Vertrauen verlieren.
Die breite Debatte um Karenzzeiten, mit vielen Unterstellungen zeigt, wie fragil das Gleichgewicht zwischen Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung ist. Nach Auffassung der Gewerkschaften und des Bundessozialministers Hubertus Heil würde ein Eingriff wie die Einführung von Karenztagen mehr zerstören als verbessern. Ein gesellschaftlicher Konsens sei gefragt, der Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen Vertrauen entgegenbringt, ohne die berechtigten Interessen der Arbeitgeberseite zu ignorieren. Insofern gebe es positivere Wege für eine bessere wirtschaftliche Zukunft, in der Fachkräfte händeringend gesucht werden.