Die Zukunft mitdenken

Studie „Neue Horizonte 2045“ – Was könnten wir wollen? – Ein Interview

Wie sieht ein klimaneutrales Deutschland aus? Wie eine sozial gerechte Zukunft? Was für ein Land wollen wir 2045 sein? Gemeinsam mit 50 Zukunftsforschenden und unterstützt von zwei Online-Dialogen hat die Initiative D2030 zusammen mit der ScMI AG die ersten unabhängigen und wünschenswerten Zukunftsbilder für Deutschland entwickelt und daraus Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet. In ihrer Studie „Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland“ hat das 1998 gegründetes Beratungsunternehmen zur Entwicklung von Zukunftsszenarien sowie deren Anwendung in Strategie-, Innovations- und Veränderungsprozessen sieben Szenarien entwickelt, mit denen offene Diskurse in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft angeregt und unterstützt werden sollen.

Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick:

  • Es gibt nicht nur mehrere Wege in die Zukunft, sondern auch konkurrierende Zielszenarien. Im politischen und gesellschaftlichen Diskurs darf es folglich nicht nur um kurzfristige Maßnahmen gehen. Längerfristige Visionen und Zielbilder müssen wieder mehr Beachtung finden.
  • Die Mehrheit der im Rahmen der Studie befragten Menschen wünscht sich grundlegende Veränderungen.
  • Sieben Voraussetzungen müssten geschaffen werden, um die am meisten gewünschten „Neue Horizonte“-Szenarien zu erreichen, darunter eine konsequente Klimapolitik, ein neues Wirtschaftsmodell, veränderte Lebensstile und neue Formen der Beteiligung.
  • Es wurden zwölf weitere Zielkonflikte identifiziert, für die es aus Transformationssicht kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt, beispielsweise der Konflikt zwischen nationaler Souveränität und globaler Offenheit in den Wirtschaftsbeziehungen.
  • Transformation wird nur gelingen, wenn für heute unvereinbar scheinende Positionen langfristig tragfähige Lösungen, sogenannte „radikale Kompromisse“ entwickelt werden.

Im Interview mit Alexander Fink und Hanna Rammig von der ScMI-Geschäftsführung will die zum Partnerkreis der Firma gehörende Bloghaus-Autorin Birgit Simon etwas ausdifferenzieren. Wer tiefer ins Thema eindringen und wissen will, warum sich die Menschheit bei der Transformation beeilen sollte, hier der Link zur Studie: Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland

Birgit Simon: Vor mit liegt eine neue Studie der Initiative D2030 mit dem Titel „Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland“. Was verbirgt sich dahinter?

Alexander Fink: Zunächst zur Initiative D2030. Wir sind ein Kreis von Zukunftsforschern, der sich vor fast zehn Jahren gebildet hat, um der Zukunft in Deutschland eine Stimme zu geben. Dafür sind 2016/17 erstmals Szenarien für Deutschland im Jahr 2030 entstanden – daher auch der Name. Diese Szenarien bildeten das ganze Spektrum der Möglichkeiten ab – von Krisen- bis Wunschszenarien. Diese Szenarien sind dann in einem großen Online-Dialog bewertet und anschließend im Sinne strategischer Leitlinien interpretiert worden.

Was waren denn seinerzeit wichtige Erkenntnisse?

Hanna Rammig: Wir haben gesehen, wie wichtig Zukunftsdenken und Partizipation sind, und dass sie einander bedingen. Wer ohne Beteiligung in die Zukunft denkt, der kann schnell im elitären Elfenbeinturm landen. Und wer Partizipation ohne Zukunftsfokus verfolgt, ist niemals weit von Populismus entfernt. Die Konsequenz haben wir dann im Leitthema „Zukunft für alle“ zusammengefasst. Es muss einfach selbstverständlich werden, die Zukunft mitzudenken.

Alexander Fink: Eine Strategie, ein Vorschlag, ein Konzept muss einen Makel haben, wenn es nicht ausreichend mit zukünftigen Annahmen unterlegt und im Idealfall gegen unterschiedliche Szenarien abgesichert ist.

Das wollte ich ohnehin gerade fragen. Ihr sagt immer „Zukunft war gestern“. Das klingt komisch. Was meint ihr damit?

Hanna Rammig: Die Zukunft lässt heute nicht mehr exakt vorhersagen. Die Zahl der Fehlprognosen wächst, und wenn Unternehmen oder Regierungen in diese Prognosefalle getappt sind, dann heißt es immer, es wäre ein plötzliches Ereignis gewesen, das man nicht habe sehen können. Ein „schwarzer Schwan“. In Wirklichkeit hatte man es sich aber nur bequem im alten Prognose- und Planungsdenken eingerichtet. Was wir brauchen, ist stattdessen die Offenheit für unterschiedliche Szenarien, mit denen wir mögliche Entwicklungen vorausdenken.

Alexander Fink: Solche Szenarien können systematisch entwickelt werden. Am besten nicht im abgeschotteten Expertenzirkel, sondern gemeinsam mit einem heterogenen Kreis im Unternehmen, einem Verband oder einer Kommune. Wir stellen immer wieder fest, dass die meisten Menschen über Zukunft nachdenken – aber ihnen fehlen Tools und Gelegenheiten, ihr Wissen zusammenzuführen. Genau das leistet das Szenario-Management.

Und in der neuen Studie habt ihr die Szenarien jetzt auf das Jahr 2045 erweitert?

Hanna Rammig: Einerseits: ja. Andererseits haben wir aber auch die Fragestellung angepasst. Es ging uns nichtmehr darum, alle grundsätzlich denkbaren Szenarien aufzuzeigen. Wir wollten uns auf die möglichen Wunschbilder konzentrieren. Die neue Frage lautete also: „Was könnten wir wollen?“

Ist das nicht angesichts der vielen Krisen etwas kurzsichtig?

Alexander Fink: Wir haben die Krisen und kritischen Entwicklungen keineswegs ausgeblendet, aber es ging uns um etwas anderes. Gerade in der letzten Zeit hören wir Sätze wie: „Wir müssen ins Machen kommen.“ oder „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Warum aber kommen wir nicht „ins Machen“? Ein Grund dafür ist, dass wir kein gemeinsames Zielbild haben – und häufig auch den Diskurs darüber meiden. Mit den neuen Szenarien wollten wir mögliche Zielbilder entwickeln, also aufzeigen, wohin man streben könnte.

Hanna Rammig: Womöglich ist es zu einfach, wenn wir nur nach Umsetzung rufen. Unsere Gesellschaft ist komplex, und wir kommen ohne eine Zieldiskussion einfach nicht aus den Startblöcken. Deutlich wird diese fehlende Zieldiskussion ja aktuell auch im Scheitern der Ampel-Koalition.

Nun bin ich gespannt. Welche Zielszenarien sind denn entstanden?

Alexander Fink: Wir können drei Gruppen von Szenarien unterscheiden. Als erstes gibt es die Stabilisierungs- oder Bewahrungsszenarien. Hier geht es vor allem darum, den klassischen Wohlstand abzusichern. Das kann mit einem von staatlicher Fürsorge geprägten Szenario „Sicherheit Zuerst“ erfolgen – oder unter Rückgriff auf vielerlei zivilgesellschaftliche Akteure. Dann heißt das Szenario „Alternative Stabilitäten“.

Sieben Zielszenarien für Deutschland 2045

Hanna Rammig: In der zweiten Gruppe wird dann Veränderung angestrebt – aber nicht zu viel. Im Szenario „Grünes Wachstum“ geht es um nachhaltige Veränderung, aber ohne dass sich unser Alltag allzu stark ändert. Im Szenario „Techno-Optimismus“ braucht es solche Alltagsveränderung auch nicht, denn hier lösen wir die meisten Konflikte wie beispielsweise die Klimakrise durch technologische Innovationen. Mit etwas Augenzwinkern haben wir diese Szenarien als „die gute alte Zukunft“ zusammengefasst.

Alexander Fink: Die dritte Szenario-Gruppe, die wir auch als „Neue Horizonte“-Szenarien bezeichnen, beinhaltet drei Zukunftsbilder, die jeweils ein neues Wirtschafts- und Wohlstandsmodell mit post-industriellen Strukturen und akzeptierten Veränderungen im Lebensstil beinhalten. Hier reicht das Spektrum von einem nachhaltigen Systemumstieg bis zu einer öko-liberalen Transformation.

Und das Szenario #3 heißt „Radikale Kompromisse“. Was ist hier das Besondere?

Alexander Fink: Diese dritte der „Neue Horizonte“-Szenarien entzieht sich den bekannten Einordnungen. Es ist einerseits das Szenario mit der stärksten Veränderung zur Gegenwart, entzieht sich aber andererseits auch den heutigen Einordnungen. Es beruht auf der Idee, dass Wege in die Zukunft mehr erprobt und dann immer wieder neu verhandelt werden.

Und habt ihr mit den Szenarien schon weitergearbeitet?

Hanna Rammig: Zunächst sind die Szenarien ein Angebot für Diskurse in Politik und Gesellschaft. Sie sollen uns aus der „Wir müssen nur machen“-Diskussion herausholen. Um das zu unterstützen, liefert die Studie aber noch weitergehende Anstöße: eine Bewertung mit der Erkenntnis, dass die Menschen durchaus veränderungsbereit sind, eine Analyse der zukünftigen Zielkonflikte – also der Unterschiede zwischen den Szenarien, und letztlich auch eine persönliche Interpretation durch das D2030-Team.

Birgit Simon: Es ist also nicht das x-te Wahlprogramm?

Alexander Fink: Genau das ist es nicht. Aber es kann – auch und gerade bei der kommenden Bundestagswahl – eine Orientierung geben: Auf welche Fragen brauchen wir wirklich Antworten? Und in welche Richtung können Antworten weisen, die dann zukunftsrobust sind?

Ist das immer so, dass eure Szenarien solche offenen Dialogprozess anstoßen sollen?

Hanna Rammig: Für uns ist die Arbeit im D2030-Kreis eine besondere Aktivität. In unserer täglichen Arbeit unterstützen wir Unternehmen oder öffentliche Institutionen dabei, eigene und häufig sehr spezifische Szenarien zu entwickeln …

Alexander Fink: … und darauf aufbauend robuste Unternehmens- oder Regionalstrategien zu entwickeln – oder konkrete Geschäftsmodelle und Produktekonzepte zu entwerfen.

Nennt doch mal ein paar Beispiele.

Hanna Rammig: Wir haben beispielsweise mit Bosch über die Zukunft der stationären Brennstoffzelle nachgedacht, mit Bonprix über die Zukunft des Modemarktes oder mit dem TÜV Rheinland darüber, wie sich dessen Marktumfelder verändern könnten.

Alexander Fink: Ein weiteres Feld für Szenarien ist Wirtschaftsförderung und Standortentwicklung. So haben wir mit der Region Hannover-Hildesheim die Zukunft der Automobilindustrie untersucht – oder mit Baden-Württemberg International auf der Basis von Szenarien eine neue Unternehmensstrategie entwickelt.

Dann müsst ihr ja detaillierte Kenntnisse von all den Branchen und Regionen haben?

Alexander Fink: Wir sind zuallererst Experten in Sachen Zukunft. Unser Ansatz ist in den 1990er-Jahren an der Universität Paderborn entstanden und seitdem haben wir Partner in ganz verschiedenen Branchen und Bereichen durch insgesamt mehr als 600 Zukunfts- und Szenarioprozesse begleitet.

Hanna Rammig: Trotzdem gilt noch immer, dass das eigentliche Zukunftswissen von den Unternehmen und regionalen Vertretern, oder auch von externen Innovatoren und Experten, beigesteuert wird. Natürlich bringen wir inzwischen auch viel eigene Erfahrungen ein, aber wir wollen nicht als vermeintlich allwissende Trendforscher oder Berater auftreten. Die Menschen in einem Unternehmen oder in einer Region kennen ihre eigene Zukunftsoptionen viel besser als wir das jemals werden. Wir sind also eher so etwas wie Geburtshelfer für die Szenarien.

Mit euren Szenarien blickt ihr ja länger nach vorne. Zehn, 15, manchmal sogar noch mehr Jahre. Ist das denn angesichts der schnellen Veränderungen überhaupt seriös?

Alexander Fink: Szenarien sind keine Prognosen. Sie haben nicht den Anspruch, die Zukunft exakt zu beschreiben. Sie spannen vielmehr einen Möglichkeitsraum auf. Wir sprechen daher auch immer von „Landkarten der Zukunft“. Und wie es bei Landkarten (oder von mir aus auch einem Navigationssystem) üblich ist, kann man sie immer wieder nutzen. Unsere Kunden nehmen daher die Szenarien immer wieder zur Hand und prüfen, wo man sich befindet und wohin die Reise offenbar geht oder gehen sollte.

Hanna Rammig: Es geht also vielfach auch darum, den Menschen zu verdeutlichen, dass Zukunft gestaltbar ist.

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