Es war in den 1960er Jahren, als christliche Konfessionen noch ein gesellschaftlich relevantes Identitätsmerkmal und die Kirchen noch einigermaßen gefüllt waren, man aber auch bei „Mischehen“ von Katholiken und Protestanten die Nase rümpfte. Da trieb den Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Bockenförde die Sorge um, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem freiheitlichen und säkularen Staat zu sic hern sei, der sich ganz bewusst nicht auf die Gemeinschaft im Glauben, die Ordnung der Kirche und geteilte Heilserwartungen stützt. Der freiheitliche Rechtsstaat sieht sich demnach mit dem Paradox konfrontiert, dass er die Zustimmung der Bürger zu seinen Grundprinzipien nicht erzwingen kann, ohne seinen Charakter als freiheitlicher Staat zu verlieren[1]. Er fasste dieses Dilemma in dem als „Böckenförde-Diktum“ berühmt gewordenen Satz zusammen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Diese Voraussetzungen konnten nicht mehr in der Religion gesucht werden. Denn diese war ja selbst eher Quelle von Spaltung als von gesellschaftlicher Einheit. Letzten Endes lag für Böckenförde die Grundlage des Staates einmal in der rechtlich nicht fassbaren „moralischen Substanz des Einzelnen“. Eine weitere Basis sah er auch in einer gewissen „Homogenität der Gesellschaft“, die allerdings nicht in völkischen Kategorien, sondern in denen gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen, in Deutschland vor allem der Verantwortung für die Zeit des Nationalsozialismus und seine Überwindung in der Nachkriegszeit, verstanden haben wollte. Danach ruht der freiheitliche Rechtsstaat also ebenso wenig wie die Demokratie als Form der Herrschaft in sich selbst, sondern braucht eine kulturelle und soziale Grundlage, die sich immer wieder erneuern muss, um Freiheit und Demokratie zu sichern.
Heute sind Freiheit und Demokratie anderen Anfeindungen ausgesetzt als in der 1960er Jahren, als die Kirchen noch mit einer gewissen Kraft einen auch politischen Machtanspruch artikulierten. Der Populismus von links und rechts stellt den Rechtsstaat in Frage, Identitätspolitiken sägen ebenfalls von rechts und links gleichermaßen an den Grundlagen des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Auch die Dynamik der Klimatransformation und nicht zuletzt Digitalisierung und Migration stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz des freiheitlichen Rechtsstaates vor ganz neue Herausforderungen. Die Demokratie scheint in Gefahr, nicht nur durch äußere Bedrohung und den Reiz des Autoritären, sondern auch, weil ihre Verankerung in der Gesellschaft nicht mehr ohne Weiteres als gesichert angenommen werden kann. Ob die Vielzahl von teuren staatlichen Programmen zur Stärkung der Demokratie der letzten Jahre daran allzu viel ändern werden, steht noch dahin.
Till van Rahden, Professor für Deutschland- und Europastudien an der Universität Montreal mit Hauptwohnsitz in Offenbach am Main, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Fragen der Grundlagen von Demokratie jenseits der formalen staatlichen Ordnung und ihrer Institutionen. In einem schon 2019 erschienenen schmalen Band „Demokratie. Eine gefährdete Lebensform“ geht er der Frage nach, wie eine demokratische Haltung bei Bürgerinnen und Bürgern entsteht, wie sie gestärkt werden kann, aber auch welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist. In kleinen Fallstudien aus der Geschichte der Bundesrepublik, von der ersten Berufung einer Frau ins Bundesverfassungsgericht über die Debatten über autoritäre und moderne, aufgeklärte Erziehungsstile in den 1950er Jahren, die Kinderladenbewegung der 1960er und 1970er Jahre bis hin zum „Siechtum öffentlicher Räume“ mit verfallender Infrastruktur und der Privatisierung kommunaler Einrichtungen beleuchtet van Rahden Facetten der vielfältigen Anstrengungen, Demokratie im Leben zu verankern und die Menschen nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit ihren Leidenschaften für die Demokratie zu gewinnen, ihre Widersprüche und Grenzen und nicht zuletzt auch den Gefährdungen, denen er die Demokratie durch soziale Ungleichheit, Austerität und neoliberale Privatisierungsstrategien ausgesetzt sieht.
Demokratie –
Eine gefährdete Lebensform
Till van Rahden,
Campus, Frankfurt, 2019,
22,99 Euro
ISBN 978-3-593-44280-8
Demokratie wäre in diesem Sinne falsch verstanden, wenn man sie nur als Regierungsform begreift, die sich durch Verfahren legitimiert und nicht als etwas, was die Menschen insgesamt auch in ihrem Alltag und in ihrer Lebensführung betrifft und betreffen muss. Böckenförde, so van Rahden, habe das richtig erkannt, jedoch die falschen Schlüsse daraus gezogen, wenn er individuelle Moral und soziale Homogenität als Voraussetzung des freiheitlichen Rechtsstaats postuliert. Van Rahden zitiert in diesem Zusammenhang Hannah Arendt, die nicht Einheit, sondern Vielheit der Handelnden und die Pluralität der Perspektiven als konstitutiv für Politik, insbesondere aber auch für die Demokratie bestimmt hat.
Die Grundlage von Demokratie als Lebensform wäre dann gerade nicht die Schicksalsgemeinschaft eines Volkes, sondern Offenheit und Vielfalt, aber auch die Erfahrung von Gleichheit. Wenn sich zwischen dem Gleichheitsversprechen der demokratischen Verfassung und den Erfahrungen im Alltag durch die Auseinanderentwicklung von Lebensstilen, zunehmender sozialer Ungleichheit und die Erosion öffentlicher Räume durch Vernachlässigung oder Privatisierung eine allzu große Kluft auftut, leide auch die Lebensform Demokratie, schreibt van Rahden. Er illustriert diese These mit einer Betrachtung in der Stadt Offenbach, wo man in den 1990er Jahren der Finanznot damit Herr zu werden hoffte, dass man ein nicht mehr sanierungsfähiges Hallenbad kurzerhand an einen Investor verkaufte, der dort unter Erhaltung der denkmalgeschützten Hülle des Bades ein Hotel und Tagungszentrum errichtete. Van Rahden geißelt dies als Sinnbild für eine fehlgeleitete, neoliberale Austeritätspolitik, die es vielleicht schaffe, den Haushalt einer Kommune kurzfristig ein wenig zu entlasten, die aber gleichzeitig, ob bewusst oder nicht, der Demokratie ein Stück weit das Fundament entziehe.
Für die richtige These der Bedeutung intakter, gut gestalteter öffentlicher Räume ist die Offenbacher Schwimmbadschließung jedoch möglicherweise nicht der geeignete Beleg. Zum einen könnte man fragen, ob der von van Rahden mit einem Zitat von Siegfried Kracauer aus den frühen 1930er Jahren beschworene Egalitarismus der Badehose auch 1995 noch prägende Bedeutung hatte. Zum anderen waren die Dinge komplexer und keineswegs so von blinder Sparwut geprägt, wie in dieser kleinen Fallstudie dargestellt. Wenn man davon einmal absieht, bleibt aber der sehr wichtige Hinweis darauf, dass eine demokratische Gesellschaft ihre Legitimität aufs Spiel setzt und sich damit selbst gefährdet, wenn sie zulässt, dass öffentliche Infrastruktur verrottet, öffentliche Räume dem Kommerz überlassen werden und öffentliche Gebäude nicht mehr den Stolz der Bürgerschaft repräsentieren, sondern Sparzwänge und Vernachlässigung.
Aber haben nicht auch autoritär regierte Staaten Schwimmbäder und, siehe etwa China, eine in vieler Hinsicht besser funktionierende Verkehrsinfrastruktur, prachtvolle Plätze und repräsentative öffentliche Gebäude? Ob man wirklich von einer „Lebensform Demokratie“ sprechen kann, bleibt auch nach Lektüre des Bandes offen. Böckenförde mag in den 1960er Jahren das Moment von Gemeinschaft überbewertet haben. Van Rahden dreht den Spieß aber einfach um und gerät damit möglicherweise in die entgegengesetzte Sackgasse. Wo Böckenförde kulturelle Homogenität beschworen hat, beschwört van Rahden Vielfalt und Toleranz. Er drückt sich aber vor der Frage, ob grenzenlose Diversität nicht irgendwann auch zur Gefahr für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Identifikation mit der demokratischen Gesellschaft werden kann, wenn es neben den zentrifugalen, nach außen gerichteten, Kräften nicht auch zentripetale, also nach innen gerichtete, Kräfte in der Gesellschaft gibt. Der Ruf nach einem „starken Steuerstaat“, der im Handumdrehen das Siechtum der öffentlichen Plätze beendet, ist dafür auf jeden Fall zu wenig. So ganz gefeit davor scheint van Rahden nicht zu sein, die eigene Lebensform im ökologisch-sozialliberalen Milieu einfach zur demokratischen Lebensform schlechthin zu stilisieren. Dann wäre das Böckenförde-Diktum immer noch die stärkere Antwort auf das Dilemma von Rechtsstaat und Demokratie.
Soeben erschienen ist ein von van Rahden zusammen mit dem Johannes Völz, Amerikanistik-Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, herausgegebener Band „Horizonte der Demokratie. Offene Lebensformen nach Walt Whitman“. Es ist die erste einer geplanten Reihe von Publikationen eines Schwerpunktthemas des „Forschungskollegs Humanwissenschaften“, das die Goethe-Universität in Bad Homburg eingerichtet hat. Walt Whitman ist ein in Deutschland wenig bekannter, in den USA aber geradezu ikonischer Dichter und Essayist, der im 19.Jahrhundert gelebt hat. Unter dem Eindruck des beendeten amerikanischen Bürgerkrieges schrieb er Gedichte und Essays, in denen er das Leben in Freiheit und Demokratie in eindrucksvollen Bildern feierte. Der Gedanke, dass die Demokratie mehr ist als nur eine Regierungsform, lässt sich schon hier in einer durchaus starken Form finden. Demokratie ist, folgt man Whitman, auch und nicht zuletzt ein Lebensgefühl, für das er in Kunst und Literatur nach geeigneten Ausdrucksformen suchte, eine demokratische Ästhetik gewissermaßen, die eine Verbindung von Kopf und Herz der Menschen herstellen kann. Der ebenfalls recht schmale Band von van Rahden und Völz widmet sich dem Leben und dem Werk Whitmans selbst, aber auch seiner Rezeption in der amerikanischen Gegenwartsphilosophie, in Europa, im kommunistischen China und im postkolonialen Afrika. Das Buch gliedert sich in vier „Dialoge“, Beiträgen zu verschiedenen Aspekten des Werks Whitmans, denen jeweils ein Koreferat als Replik angefügt ist. Auch Michael Walzer, Vordenker des amerikanischen Kommunitarismus und eines neuen, ganzheitlichen Verständnisses von Demokratie findet sich mit einem lesenswerten Beitrag darin.
Horizonte der Demokratie –
Offene Lebensformen nach Walt Whitman
Till van Rahden & Johannes Völz (Hrsg.),
transcript, 2024,
22,50 Euro
ISBN 978-3-8376-6273-3
Interessant ist Whitman für die aktuelle Diskussion um Demokratie wohl vor allem, weil er früh gespürt hat, dass es wichtig ist, die Gedanken von Freiheit und Gleichheit nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Zweckverfolgung und Interessen zu betrachten, sondern sie mit den Gedanken von Schönheit und affektiver Bindung zu verbinden. Vielfalt und Pluralität haben demnach eine ästhetische Dimension. Sie können das Leben bereichern. Für einen amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts bemerkenswert ist auf der einen Seite der Respekt, den Whitmann allen Menschen unabhängig von Rasse und sozialem Stand gleichermaßen zukommen lässt. Auf der anderen Seite ist es die Offenheit für eine Vielfalt von Lebensformen, auch für Homosexualität, Prostitution und andere Formen des Außenseitertums, was damals sicher sehr mutig war und durchaus auch provoziert hat. Dabei gibt es allerdings auch Positionen Whitmans, die aus heutiger Sicht kaum zu akzeptieren sind. Er war zwar glühender Gegner der Sklaverei, wollte aber den Schwarzen nicht das volle Wahlrecht einräumen, weil er sie intellektuell nicht dazu in der Lage sah, gleichberechtigt an demokratischen Erscheinungen mitzuwirken. Er war in dieser Hinsicht möglicherweise allzu sehr Kind seiner Zeit.
Dieser Bruch zum sonst überschwänglichen Bekenntnis zu Vielfalt und Freiheit könnte aber durchaus auch als Hinweis gelesen werden, dass es bei der These einer demokratischen Lebensform auch einige Fallstricke geben kann. Man kann den Widersprüchen und Paradoxien nicht so einfach entkommen, in die sich eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft mit einer gewissen Notwendigkeit verstrickt. Wenn Pluralität zum zentralen Wert wird, dürfte die Skepsis gegen eine allzu große Diversität von Lebensentwürfen, die Skepsis gegenüber Immigration und die Präferenz für traditionelle Werte und Lebensformen eigentlich nicht aus dem Kanon demokratischer Haltungen ausgegrenzt werden. Eine pluralistische Gesellschaft müsste auch die Kritiker der Pluralität aushalten. Nur – bis wohin geht diese Toleranz, wo verlässt man die „Lebensform Demokratie“? Wie eng oder wie weit sind die „Horizonte der Demokratie“? Demokratie muss stark sein und lässt sich gleichwohl nicht verordnen. An diesem Paradox wird man weiterarbeiten müssen.
1] Mangold, Anna Katharina: Das Böckenförde-Diktum, VerfBlog, 2019/5/09, https://verfassungsblog.de/das-boeckenfoerde-diktum/, DOI: 10.17176/20190517-144003-0.