Plakatierte Wirtschaftspolitik ignoriert zumeist die Realität
Dieser Wahlkampf ist zum Fürchten, denn auf den meisten Feldern konstatieren Parteien und selbsternannte Ferndiagnostiker wie Elon Musk diesem Land unhaltbare Zustände. Der lange Jahre potente Vorzeigestaat sei ob der Politik der letzten Jahre gestrauchelt und finde sich zurückgeworfen auf das Niveau von Schwellen-, teils auch von Entwicklungsländern. Die Stichworte sind nur allzu bekannt und reichen von maroder Infrastruktur, geplünderten Sozialkassen, übertriebenem Datenschutz, halbherzig verfolgten Zukunftstechniken, Bildungsnotstand, zaghafter Industriepolitik bis zum inkonsequenten Umgang mit Migrationsproblemen.

Unterm Strich wird bisher unwidersprochen festgehalten, Deutschland könne beim Wachstum nicht mal mehr mit den europäischen Nachbarn mithalten. Wer nur auf die nackten Zahlen der jeweiligen Sozialprodukte stiert, der muss zu diesem Ergebnis kommen. Wer aber berücksichtigt, wie diese plakativen Ausweise für Prosperität zustandekommen, der entlarvt sie als bedingt tauglich für eine Aussage wie: Deutschlands Konjunktur bildet das Schlusslicht in Europa. Denn der wirtschaftliche Erfolg der Nachbarn ist geborgt, er gründet sich in der Regel erstens auf einer Wahnsinnsverschuldung, was in Deutschland sicher nicht gewünscht ist. Und zweitens profitieren die Nachbarn davon, dass die Bundesrepublik mit 20 Milliarden Euro größter Nettozahler in der EU ist.
Die Crux mit Troubleshootern
Den angeblichen Patentrezepten gegen illegale Zuwanderung ist der umworbene Wähler in diesen Zeiten ebenso ausgesetzt wie unausgereiften Programmen für ein wirtschaftlich erfolgreichere Zukunft, die Generationen übergreifende Hammerprobleme wie Renten- und Sozialversicherung nicht einmal im Ansatz ernst nehmen. Alles in allem kappeln sich die Parteien vor allem im Kleinklein, versprechen das Blaue vom Himmel fürs Wohlstandsgefühl, ohne eine plausible, realitätsnahe Kostenrechnung vorzulegen, während der visionäre große Wurf für eine bessere Zukunft weitgehend ausbleibt oder sich wie bei der AfD in der Zerstörung bestehender Strukturen erschöpft.
Es ist angesichts der jüngsten Debatten kaum zu glauben, aber die Furcht vor Überfremdung ist gar nicht die Sorge Nummer eins der umworbenen Wähler. Auch das Thema Klimakrise, dass sich im wärmsten Januar seit Beginn der Aufzeichnungen aufdrängen würde, wird geflissentlich ignoriert. Selbst der „Klimakanzler“ von 2021 kann sich dieses Mal nicht für das Thema erwärmen, weil es sogar in der öffentlichen Wahrnehmung ins Abseits gestellt wurde. Vielmehr hat sich aufgrund des Trommelfeuers krisenhaft belegter Rhetorik in der Bevölkerung die Angst vorm wirtschaftlichen Niedergang ausgebreitet.
Scheint der Wohlstand in Gefahr, brennt die Hütte. Deshalb ist es einerseits gut, dass sich die Parteien wieder mehr um Wirtschaftspolitik kümmern. Anderseits sorgt deren Wahltaktik für noch größere Sorgen. Denn wer sich als Troubleshooter ins Spiel bringen will, erliegt gern der Versuchung, erst einmal eine veritable Krise auch schon mal abseits der Fakten zu konstatieren und diese dann selbstverständlich der amtierenden Regierung in die Schuhe zu schieben. Dabei wird gerne vergessen, was Vorgängerregierungen wie beispielsweise die Große Koalition mit Angela Merkel an Unsinn verzapft haben. Erinnert sei auch daran, dass die Opposition der anfangs reformfreudigen Ampelregierung bei den Etappen für den notwendigen Strukturumbruch etliche Male in den Arm gefallen ist. Zu Fehlentscheidungen auf politischer Ebene gesellen sich aber jene, die in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne getroffen wurden. Manchmal haben Politiker und Wirtschaftsbosse sogar in einer Art unheiliger Allianz einer Branche geschadet; ein Beispiel ist die Automobilindustrie.
Wo ist vorne?
Wahlkampf ist die Zeit des Vergessens wie des Ablenkens vom eigenen Versagen. Und so wird in diesen Tagen wieder einmal die Angst vorm wirtschaftlichen Untergang verbreitet, wobei die plakatierte Vorahnung von der zu erwartenden Katastrophe beim Blick auf Statistiken hier und da der Übertreibung entlarvt wird. Vor allem Union und FDP stützen sich dabei auf die Vorarbeit der Lobbyisten von Industrie, Mittelstand, Handwerk und Arbeitgebern. „Wieder nach vorne“ lautet der Slogan der Merz-CDU, was implizieren soll, dass das Heute aufgrund von Fehlleistungen der handelnden Akteure schlechter ist als die glorreiche Vergangenheit. Der Filmtitel „Zurück in die Zukunft“ beschreibt noch eindringlicher den Plan der Union, in der sich Arbeit wieder lohnen soll und die Deutschen wieder stolz auf ihr Land sein können. „Wieder“ – eben wie in guten alten Zeiten.
Deutschland sei nicht mehr wettbewerbsfähig, heißt es. Und es wird insinuiert, dass man sich nur im freien Wettbewerb behaupten müsse, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Das ist vielleicht das Resultat beim Blick durch die rosarote Brille, hat aber mit der rauen Wirklichkeit auf den internationalen Märkten nichts zu tun. Dort werden die Konkurrenzen ja von jeher schon nicht mit fairen Mitteln ausgetragen, weshalb auch nicht vom freien Wettbewerb gesprochen werden kann. Ist es nicht eher so, dass sich heute immer öfter diejenigen durchzusetzen scheinen, die Regeln und Gesetze missachten oder Verträge brechen. Immer öfter haben die Rücksichtslosen Erfolg, wenn sie Reichtum und Macht zu ihrem Vorteil teils auch gewalttätig einsetzen. Nun kann man die Auffassung vertreten, dass diesen bösen Buben durch diplomatisches Geschick Stopp-Schilder vorgesetzt werden können. Das müsste erst einmal bewiesen werden. Vielleicht fehlen derzeit auch Diplomaten mit dem dafür erforderlichen Geschick.
Außerdem: Wie die Vergangenheit lehrt, hat die Politik so gut wie keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Konzernbosse. Die verlagern ihre Produkte der Vorfertigung ans Ende der Welt, wenn nur ein paar Cent eingespart werden können. Glaubt jemand ernsthaft, dass eine deutsche Regierung die Abwanderung heimischer Industrie verhindern kann, wenn man schon in der osteuropäischen Nachbarschaft mit Niedrigsteuern und -löhnen lockt? Selbst skandalöse nicht EU-konforme politische Verhältnisse wie beispielsweise in Ungarn sind kein Hinderungsgrund für Outsourcing-Entscheidungen in Firmen aus dem europäischen Musterländle. Augen zu und durch. Es muss sich nur rechnen. Zurück zum Wahlkrampf: Würden Union und FDP wie versprochen Energiekosten und Steuern in Deutschland „wettbewerbsfähig“ absenken, würde das System kollabieren, weil es eben keinen Wettbewerb gibt, bei dem alle nach den gleichen Regeln handeln.
Steuern runter für Besserverdienende, Vermögende und Konzerne; Arbeitnehmerrechte und Sozialstaat schleifen, Klimaziele und Regulierungen zurückfahren – alles Ideen, die so im „Wirtschaftswende“-Papier von Christian Lindner standen und die so ähnlich auch von der Union formuliert werden. Dass eine solche Politik vor allem diejenigen zu tragen haben, die im Mittelstand verortet ohnehin die größten Lasten auf ihren Schultern tragen, wird verschleiert. Das CDU-Programm verspricht Entlastung für die „kleinen Leute“. Doch merke: Die Steuerersparnis würde sich nach diesem Modell bei Normalverdienern lediglich mit ein paar Dutzend Euro pro Jahr auswirken, bei Gehältern jenseits der 150 000 Euro winken aber vierstellige Vorteile.
Wachstum und/oder Wohlstand
Bezahlt werden sollen Wolkenkuckucksheime und eben diese soziale Schieflage durch Einsparungen sowie die „Rückkehr zu solidem Wachstum“. Auch wenn diese Rechnung angesichts vieler Variablen und überaus optimistischer Prognosen auf wackligen Füßen steht, so atmet sie vor allem das Mantra vom stets ansteigenden Bruttoinlandsprodukt (BIP), mit dem angeblich ein Kollabieren des Wirtschaftskreislaufs zu verhindern ist. Je kräftiger das BIP, also die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen als Ausdruck für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, steigt, umso besser steht es um das Land – so lautet die vorherrschende politische Meinung. Stagniert es, oder geht es gar zurück, bricht Katastrophenstimmung aus. Dann muss das Wachstum wieder angekurbelt werden, koste es was es wolle. Da muss die Umwelt eben zurückstehen, weil ja sonst der ganze Wohlstand zusammenbricht.
So richtig aussagefähig ist das BIP in diesem Kontext eben nicht. Es zählt einfach alle Zahlungsvorgänge zusammen, will es doch wissen, wie viel in einer Volkswirtschaft produziert wird und wie viele Dienstleistungen erbracht werden, ganz gleich, ob es eine tatsächliche „Wertschöpfung“ ist oder eher eine „Schadschöpfung“, beispielsweise durch die Begleichung einer Reparaturrechnung oder durch Leistungen zur Beseitigung von Umweltkatastrophen. Apropos Natur: Der Verbrauch natürlicher Ressourcen wird ebenfalls nicht berücksichtigt. Diese Schätze sind für künftige Generationen verloren. Letztlich trifft das das BIP also keine Aussage darüber, ob die Lebensverhältnisse der Menschen besser oder schlechter werden. Mehr kann schlecht, weniger kann gut sein.
Deshalb wird in der Wissenschaft seit längerem diskutiert, das BIP als nur eine von vielenOrientierungsgrößen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu nutzen und zusätzlich die Frage zu klären, was aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Zukunft wachsen oder schrumpfen soll. Benötigen wir mehr Lehrer, mehr IT-ler und/oder mehr Brückenbauer, brauchen wir mehr E-Autos, mehr Solarenergie und/oder mehr Kohlestrom? Soll Biolandbau immer Vorrang haben vor industrieller Landwirtschaft? Soll der Exportüberschuss so gesteuert werden, dass auch schwächere Länder Chancen auf dem Weltmarkt ergreifen können?
Die Beantwortung solcher Fragen entscheidet darüber, wie diese Generation demnächst leben will und welche Welt sie sich für ihre Enkel wünscht. Das ist ungleich intelligenter, als jedes Quartal lediglich aufs BIP zu starren, ohne zu erfahren, ob damit die Lebensqualität steigt oder sinkt. Eines dürfte unstrittig sein: Wachstum und schrumpfende Ressourcen gehen nicht zusammen. Es stellt sich also die Frage: Soll erst einmal die sogenannte Wohlfahrt gesichert werden, worunter die Wissenschaft die Deckung der Grundbedürfnisse eines Menschen sowie das Erreichen eines zeitgemäßen sozio-kulturellen Lebensstandards, also ein Wohlbefinden im gesellschaftlichen Umfeld von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit versteht? Oder geht es immer um die Steigerung des Wohlstands, der darüber hinaus die Verfügung über Einkommen, Vermögen sowie den Besitz und Konsum von Gütern und Dienstleistungen beschreibt?
Zu berücksichtigen ist auch: Ohne Wachstum und Wettbewerb gibt es keine Innovationen. Das kann niemand wollen. Wie also lassen sich lieb gewonnener steigender Lebensstandard und ökologische Nachhaltigkeit zusammenbringen? Ohne Abstriche wird dies nicht möglich sein, mit dem möglichen Resultat einer Wirtschaftskrise. Ungeachtet dessen darf das aktuelle System aber nicht als alternativlos hingenommen werden. Letztlich geht’s doch nicht ums Wachstum als substanzielles Ziel. Die Menschen haben doch eher ein Interesse am Job, an angemessenem Konsumniveau, an der Bewahrung von Lebenschancen für künftige Generationen oder an anderen substanziellen Zielen. Das auch im Wahlkampf als einen Punkt in der Wirtschaftsdebatte mal anzusprechen, hätte die Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Thema Nummer eins der Wähler unterstrichen. Doch für den plakativ auf Personen und Allgemeinplätze zugeschnittenen Wahlkampf ist das Denken in größeren Zusammenhängen offenbar zu kompliziert. Da ist es einfacher, die Angst vorm Niedergang zu schüren und mit einfachen Rezepten der Weg aus der Krise zu beschreiben. Nach der Wahl und damit konfrontiert, dass die so leichtfertig verschriebenen Arzneien nicht wirken, werden die einstigen Wahlkämpfer den dann aufkeimenden Vorwurf vorsätzlicher Täuschung der Wähler natürlich empört kontern. Der Eindruck fehlender Weitsicht bei der Beschäftigung mit Wirtschaft- und Sozialthemen dürfte aber bleiben. Nicht nur Wahlkampf, auch die Tagespolitik bliebe zum Fürchten…