Das Tollhaus seziert

1918, 1933, 1945 oder 1989: Eine Handvoll Jahreszahlen steht für Untergang, Abgründe aber auch den Aufbruch im 20. Jahrhundert. Eine Ära, die als intensiv gilt. 1923 scheint in diesem Reigen auf den ersten Blick wenig mehr als eine kurze Spanne im Windschatten der Großereignisse wie Krieg oder dem Fall des Eisernen Vorhangs. Zu Unrecht wie das Buch „Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund“ von Volker Ullrich belegt. Zwölf Monate, die weit mehr als ein Intermezzo zwischen dem Untergang des Kaiserreichs mit seiner Klassengesellschaft und der Machtübernahme der Faschisten, die zu Weltkrieg und Holocaust führte. Die Wucht der Brüche und Verwerfungen in 1923 wirkt aus der Retroperspektive wie ein Turbo auf dem Weg vom Stände- zum Führerstaat. „Eine Tollhauszeit in riesigen Proportionen“, wie der Dichter Stefan Zweig das Krisenjahr nannte. 

Deutschland 1923

Das Jahr am Abgrund

C.H. Beck Verlag, München 2022
Gebunden, 441 Seiten, 28,00 EUR ISBN 9783406791031

http://www.chbeck.de


Die Gleichzeitigkeit der Abläufe mutet heute noch surreal an: Der Hitler – Ludendorff Putsch, ein gewaltsamer Umsturzversuch im November 1923, Straßenschlachten zwischen der extremen Linken und Rechten mit vielen Toten, der von Moskau geplante „Sturm auf die Republik“ der KPD, die fatale Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen, um ausstehende Reparationszahlungen einzutreiben, ein monatelanger Generalstreik an der Ruhr, Separationsbestrebungen in Bayern, im Westen und der beschaulichen Pfalz: Ullrich versteht es in seiner Publikation die ineinander verwobenen Ereignisse verständlich einzuordnen und das Gewirr von Ursache und Wirkung in einer tief gespaltenen Gesellschaft zu entflechten. Quelle für all diese Verwerfungen war der verlorene Krieg, eine Niederlage, die das Militär und der Konservative Teil der Gesellschaft nicht bereit war, zu akzeptieren. Stichwort: Dolchstoßlegende. 

Heute noch wundern sich Länder wie Italien, Frankreich oder Griechenland vor der panischen Angst der Deutschen vor Inflation. Diese Furcht vor Geldentwertung, die fest in der DNA unseres Volkes verankert scheint, wurde von der Hyperinflation im Sommer und Herbst 1923 ausgelöst. Die Folge einer Kriegswirtschaft, die glaubte all die Schulden für Kanonen und Gewehre nach dem Sieg mit den reichlich zu erwartenden Reparationszahlungen aus der Portokasse begleichen zu können. Nach der Niederlage musste stattdessen Deutschland für die Kriegsschäden in Frankreich oder England bluten. Als die Zahlungen ausblieben, annektierte Frankreich -auf lange Sicht wenig durchdacht- das Ruhrgebiet. Die Folge: die Geldentwertung wurde zusätzlich befeuert.

Die Lektüre von Ullrichs „Deutschland 1923“ wird wie ein deja vu bei vielen Lesern Erinnerungen aus dem kollektiven Familiengedächtnis freikratzen. Die Großmutter, die im Schlafzimmerschrank hinter der schweren Aussteuer-Bettwäsche Bündel von Geldscheinen wie Briketts stapelte. Links die Hunderter aus der Vorkriegszeit, ganz Rechts die Noten aus dem November 1923 mit dem Billionen-Aufdruck und quasi als Zugabe ein Regal tiefer die entwertete Reichsmark von 1948. Oder die Großtante, die 1915 Gold gegen Anleihen tauschte, die im Jahr 1923 allenfalls zum Holzanzünden taugten und heute eine preiswerte Deko für jeden Partykeller sind. Beide hofften noch Jahrzehnte später auf einen Ausgleich für ihr verlorenes Vermögen. 

Die Demokratie in Deutschland überlebte das in Friedenszeiten einzigartige Krisenjahr 1923, auch weil an der Spitze mit Stresemann und Ebert leidenschaftliche Verfechter der neuen Staatsordnung standen, die trotz vieler egoistischer parteipolitischer Ränkespiele -auch in der Mitte des Reichstags- Kurs hielten. Dennoch: Mit ihrem Vermögen verloren Millionen Menschen das Vertrauen in die Demokratie. Ein Manko, das Hitler ermöglichte während der Weltwirtschaftskrise (1929 bis 1933) mit der Billigung eines großen Teils der Bevölkerung, deren moralische Widerstandskraft erschöpft war, eine Diktatur zu etablieren.

Atemberaubende Geldentwertung 1923 mit Langzeitwirkung: Gestern reichten noch fünfzig Millionen für ein Brot, heute ist es 100 Millionen teuer. Der 10.000-Mark-Schein taugte bald nur noch zum Feuer machen.

Ullrich belegt sehr detailliert wie der Staat sich 1923 davor scheute, Umtrieben von rechts entschieden zu begegnen. Den missglückten Hitler-Ludendorff-Putsch betrachteten konservative Kreise und das Militär als Kavaliersdelikt. Als Bayern eine Art Diktatur im Freistaat errichtete und den Landtag ausschaltete, reagierte Berlin nicht mit Sanktionen, marschierte aber mit Truppen in Sachsen und Thüringen ein als hier die SPD und die KPD eine Art Volksfront im Landtag vereinbarten. Dieser Einmarsch lieferte für die spätere Ausschaltung von Preußen die Blaupause, die machtstrategisch die Kanzlerschaft Hitlers beförderte. Die grobe Ungleichbehandlung Bayerns und Sachsens war -gegen den Widerstand von Reichspräsident Ebert- der Grund für das Ausscheiden der SPD aus der Koalition der Mitte. Ein ebenso ehrenhafter wie umstrittener Schritt, denn er bedeutete für die Sozialdemokraten eine lange Zeit des Abschieds von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten. 1923 war aber auch eine Zeit der Diffamierung von politischen Institutionen und Akteuren durch die Rechtspresse. Die Parallelen zu heute, zu 2023 sind unübersehbar und beängstigend. Verteidiger der Demokratie wie Ebert und Stresemann rieben sich in diesem Klima von Fake News und Unterstellungen auf. Ihren Nachfolgern fehlte das demokratische Standing. 


Mit „1923- Das Jahr am Abgrund“ bringt Volker Ullrich Ordnung in zwölf turbulente Monate, in denen es an allen Ecken gleichzeitig brodelte. Der Autor entwirft ein verständliches Zeit-Panorama, das den Leser in die Lage versetzt, scheinbar zusammenhanglose Ereignisse einzuordnen. Zwei Ansätze der Abhandlung verdienen besondere Erwähnung. Ullrich untermauert seine Analyse mit einer Fülle von Zitaten von Zeitzeugen, vom Politiker über den Künstler bis zu den „Menschen auf der Straße“. Deren Beobachtungen aus dem Augenblick lassen Motive von Handlungen oder Situationsbeschreibungen aus dem Wissen der Zeit und nicht aus der Retrospektive postoperativer Klugheit begreifen. 1923 war aber auch ein Jahr des kulturellen und technologischen Aufbruchs, eine Zeit der Avantgarde, die zumindest in Berlin das gesellschaftliche Leben mitprägte. Volker Ullrich, seit 1990 Leiter des Ressorts „Politisches Buch“ bei der Wochenzeitung „Die Zeit“, spürt diesen gesellschaftlichen Hintergründen und Verknüpfungen nach, die politisches Handeln beeinflussen.

„Kein Volk der Welt hat erlebt, was dem deutschen 1923-Erlebnis entspricht“, schrieb der Journalist Sebastian Haffner im englischen Exil. Volker Ullrichs Schilderung der Abläufe ist weit mehr als eine Chronik. Es hilft eine Zeit zu verstehen. Es ist aber indirekt eine Warnung, denn die Geschichte dieses Jahrs am Abgrund erinnert in mancher Passage unheilvoll an die Gegenwart.

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