Zwischen den Zeiten

Von Fabian Ernst

Spätnachts liege ich in meinem Bett, allein. Gedanken drehen sich ununterbrochen in meinem Kopf, Reste von Dialogen, Bildern, Begegnungen. Ich komme längst nicht mehr zur Ruhe. Der Wahlkampf tötet meinen Schlaf, an mehr als drei Stunden am Stück ist nicht mehr zu denken.

…hoffentlich nicht! Foto: Gert Altmann / Pixabay


Alles ist zu viel. Alles scheint auseinanderzufallen. Alles geht kaputt. Es ist nicht mehr klar, auf welcher Seite der Zeit wir leben – in der alten Zeit der Demokratie, schon in der neuen Zeit der Autokratie oder noch irgendwo mittendrin in einer anarchischen Zwischenwelt. Zu spüren war es schon vor der Corona-Pandemie, es war nur ein Hauch, doch seither ist es offensichtlich: Die Gesellschaft kollabiert, nichts funktioniert mehr richtig. Die Menschen sehnen den Untergang herbei. Wohin führt das alles?

Ausgebrannte Lehrer und rabiate Neonazi-Polizisten, Massen an asozialen Phishing-Mails, aggressive alte Männer in der Warteschlange vor der Supermarkt-Kasse, Schlafwandler und Deutschland-Hasser, hysterische Esoterik-Trullas, die vom Ende der Welt und der „Revolution gegen das System“ schwafeln, Chem-Trails und den Deep State für sich entdeckt haben und längst von Corona-Impfgegnern zu Querdenkern in jeder Hinsicht und Putin-Verstehern mutiert sind. Gleichzeitig machen sie mächtig Geld mit vorwiegend verwirrten und orientierungslosen Frauen in der Sinnkrise, denen sie überteuerte und nutzlose Online-Heilungen andrehen, obwohl sie selbst gut einen Psychiater gebrauchen könnten. Letzten Endes aber geht es nur noch darum, das Vertrauen in Politik und Gesellschaft zu zerstören.

Dazu kommen asoziale Unternehmen mit ihren neuen Produkten, die niemand braucht, mit sinnlosen Gadgets und ihren Mogelpackungen, die den Leuten für weniger Ware mehr Geld aus den Taschen ziehen. Aggressive Betrüger am Telefon, die verängstigte Senioren abzocken, die alltäglichen dreisten Lügen. Autokult und Fitness-Wahn, intolerante Veganer, Tattoo-Monster und bis zum Anschlag mit Botox gefüllte Pornostars, die sich als Rapperin versuchen. Dazu grimmig blickende Imame und jede Menge Vollbartträger mit viel Migrationshintergrund.

Biedere bisher heterosexuelle sechzigjährige Geschäftsleute erleben ihr ebenso überraschendes wie öffentliches Coming-Out, ebenso wie zwanzigjährige Milchbubis, die urplötzlich deutlich spüren, dass sie ein unglückliches Leben im falschen Körper führen und deshalb das Geschlecht wechseln. Nichts ist mehr selbstverständlich, alles gerät aus den Fugen, alles wird in Frage gestellt. Irgendwie fühlt sich jeder benachteiligt und fordert dafür vom Staat umgehend Hilfe oder einen Ausgleich. Wofür auch immer. Alles ändert sich, aber zugleich muss alles so bleiben, wie es immer war. Ich weiß nicht, wohin das noch führt.

Und dieser Staat fällt jeden Tag weiter auseinander, verliert Form und Fassung. Tod durch permanente Überforderung. Überall fehlt Geld. Auch deshalb, weil die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern absolut nichts mehr zumuten darf. Steuererhöhungen rufen sofort Massenproteste hervor, wer lauter schreit, hat immer recht. Die Klage ist der neue Gruß aller Deutschen. Immer steht gleich die Existenz in Frage, kleiner geht es nicht mehr. Daher wird alles subventioniert: Corona-Hilfen, Corona-Impfungen, Energie-Sofort-Hilfen, gesenkte Mehrwertsteuern, Elektro-Autos, Heizungen, Traktoren-Diesel, Solar-Anlagen und so weiter und so fort. Niemand darf vergessen werden. Der Staat übernimmt für alles die Verantwortung, er muss für alles einspringen. Aus bloßer Angst, den Nazi-Wutbürger in den Vorgärten, Werkstätten und Wohnzimmern zu wecken. Wir behandeln die Deutschen wie einen Blindgänger, der laut und vernehmlich tickt. In jedem Moment droht die Explosion. Auch die Industrie lässt ihre Lobby-Drähte glühen, damit sie das größte Stück vom Subventions-Kuchen bekommt. Sie schwafeln vom freien Markt und zu viel Bürokratie, von Liberalismus und der Kraft der Innovation. Aber für die Ansiedlung von Tech-Firmen oder neue KI-Systeme zahlen die Steuerbürger und gehen für die Firmen ins Risiko.

Die Regierung bietet längst ein echtes Rundum-Sorglos-Paket für alles, was wiederum die Ansprüche der Bürger weiter ins Unermessliche wachsen lässt. Das Gleiche gilt natürlich für die Staatsschulden, aber das interessiert irgendwie niemanden mehr. Hauptsache ist, dass jetzt genügend Kohle da ist, weil wir jetzt alles verfrühstücken wollen. Dass wir mit der Natur genauso wenig nachhaltig umgehen, ist nur die andere Seite der Medaille. Dass Nachhaltigkeit auch und nicht zuletzt für die Finanzen gelten sollte, damit wir den Spielraum der kommenden Generationen nicht unzulässig einengen, die ja sicherlich ihre eigenen Krisen erleben werden und dazu Geld brauchen, gehört zu jenem tabuisierten Wissen, das in der Öffentlichkeit jedenfalls nicht mehr ausgesprochen werden darf. Der völlige Offenbarungseid einer ganzen Gesellschaft. Maßlos, panisch, haltlos, rücksichtslos und restlos egoistisch.

Längst sind die Spitzenpolitiker der Regierung nahezu täglich Anfeindungen ausgesetzt. Ob beim Wandern mit Freunden, ob beim Urlaub mit der Familie oder bei öffentlichen Auftritten – der enthemmte Mob pöbelt schamlos, attackiert und fühlt sich dabei absolut im Recht. Jede Entscheidung der Politik wird schlecht geredet. Aufgestachelt werden die Leute nicht zuletzt in dubiosen Internetforen, die von Reichsbürgern oder eben der „Bewegung“ von Sarah Alice Weidelknecht betrieben werden. Je mehr Radikalität, Chaos und Unzufriedenheit, desto besser für den ersehnten Umsturz von ganz Rechtsaußen. Wieder einmal träumt halb Deutschland von Erlösung durch Untergang. Das hatten wir schon einmal, vor gefühlt tausend Jahren. Dafür kennt die Wissenschaft den Begriff „kollektive Paranoia“. Wohin führt uns das?

Unter liberalen Denkern war es einst unbestritten, dass Demokratie die Lizenz zum Streiten ist. Wir sind uns einig, dass wir uneinig sind und über den besten Weg streiten dürfen. „Agree to disagree“, heißt es so schön im Englischen. Von dieser toleranten Haltung ist nichts mehr übriggeblieben. Die Auffassung, dass auch der Kontrahent mal ins Schwarze treffen könnte und die eigene Meinung nicht immer das Gelbe vom Ei sein muss, hat sich in Luft aufgelöst. Schöne alte Welt. Heute gilt nur noch die eigene Meinung.  Die Fähigkeit, einen vorhandenen Disput in ruhigen, freundlichen Worten zu bewältigen, ist leider restlos abhandengekommen. Stattdessen wird unflätig beschimpft, bedroht und ausgegrenzt. Aggressiv-gereiztes Schwarz-Weiß-Denken und zugleich der Wunsch nach immerwährender Harmonie. So denkt der Deutsche im 21. Jahrhundert. Die Erkenntnis, dass das eigene Ego nicht immer im Mittelpunkt stehen muss, dass es wohltuend und befreiend ist, mal nicht nur an sich selbst zu denken, hat sich endgültig pulverisiert.

Nach vielen Jahren habe ich mal wieder die Schallplatte „Monarchie und Alltag“ der legendären Düsseldorfer Band „Die Fehlfarben“ aufgelegt. Laut pumpt sich der Slogan in mein Hirn: 

„Ernstfall – es ist schon längst so weit! Ernstfall – Normalzustand seit langer Zeit!“

Nichts könnte treffender sein: Die Auftritte der Regierung etwa auf Marktplätzen oder Universitäten sind nur noch mit massivem Polizeischutz möglich. Sollte sogar einem langmütigen Charakter wie Olaf Schlumpf einmal der Geduldsfaden reißen, wenn er von durchgeknallten Querdenkern und Nazis niveaulos beschimpft wird und er sie daraufhin als Nichtsnutze bezeichnet, die auch mal arbeiten gehen könnten, kennt der Shit-Storm im Netz keine Grenzen: Überheblich, abgehoben und elitär sind noch die harmlosesten Zuschreibungen. Andere wollen ihn ins Gefängnis stecken oder gleich als Volksverräter zunächst an den Pranger stellen und dann am liebsten vierteilen. Aufrufe zur Gewalt sind an der Tagesordnung, überall sieht man Konterfeis der Regierungsmitglieder an virtuellen Galgen baumeln, der Wunsch nach Umsturz ist mit Händen zu greifen.

Lässt Olaf Schlumpf die Urheber solcher Aussagen ausfindig machen und strengt dann eine Klage wegen Verleumdung, Volksverhetzung oder Beleidigung an, nennt Sahra Alice Weidelknecht solchen Selbstschutz umgehend „peinlich und weinerlich“. Die krawalligen zehn Prozent der Deutschen bestimmen die Debatte und besetzen gezielt Begriffe wie „Freiheit“ und Volkssouveränität“ neu und nach ihren Wünschen, der große Rest der Leute hat sich schlafwandlerisch aufs heimische Sofa zurückgezogen, zieht das Kissen über die Kopf und hofft, das alles nur ein böser Traum ist.

Nichts hat mehr allgemeine Gültigkeit, nichts ist selbstverständlich. Keine Religion, kein Glaube, keine Institution, nichts führt die Menschen mehr zusammen. Recht und Anstand gehören offenkundig einer untergegangenen Zivilisation an. Zwar sprechen wir noch Deutsch, aber niemand versteht mehr einander. Babylon ist auch in Bielefeld. Das Zeitalter der Demokratie geht zu Ende. Überall die neuen, alten autoritären Helden. In den USA, in Russland, in China und Ungarn. Jetzt auch in Deutschland. Wir wissen so viel, von den Atomen und dem Weltall, von der Chemie und vom Menschen. Und doch haben wir uns von der Vernunft und dem Verstand verabschiedet. Wir sind wir wieder beim Trieb angekommen. Unser Sinn des Lebens zerfällt in tausend Splitter – Nacht und noch mehr Nacht umgibt uns. Unser altes Leben ist zerstört und vernichtet. Muss ich wirklich den Rest meines Lebens mit den Tino Dumballas, Alexander Deutschlands und Björn Deppes in dieser Welt leben?Gerne würde ich durch ein großes Tor in eine andere Welt gehen, in eine freundliche, helle Welt. Darin leben Menschen, die noch Mitgefühl empfinden können. Die noch zuhören können und nicht jede Gelegenheit für einen eigenen Monolog nutzen. Leben in einer Welt des Friedens und Miteinanders. Stattdessen taumeln ausnahmslos erschöpfte und restlos traumatisierte Gespenster durch meinen Alltag. Mitten in der Nacht wache ich schreiend auf und blicke auf den Wecker: Es ist 3.35 Uhr, ich starre an die Zimmerdecke. Alpträume quälen mich. Es ist wie eine Achterbahnfahrt, die nach einer Runde nicht aufhört, sondern immer weitergeht. Ich kann nicht mehr. Aber immer weiter. Immer weiter. Runde um Runde, ohne jede Pause. Achterbahnfahren ist aufregend und schön. Wirklich. Aber irgendwann nach der 10.000. Fahrt willst du aussteigen.

Von Fabian Ernst

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