„Folgt den Wissenschaften!“ lautet der Ruf, mit dem Greta Thunberg und die von ihr mitinitiierte Bewegung „Fridays for Future“ vor einigen Jahren die Öffentlichkeit aufgerüttelt haben. Die Fakten zur Klimaveränderung lägen auf dem Tisch. An ihnen ließe sich nicht rütteln. Es sei an der Politik, schlicht die Konsequenzen aus den Fakten zu ziehen, sie nicht zu zerreden und auf Zeit zu spielen. Möglicherweise seien angesichts der Klimakrise harte und unangenehme Entscheidungen zu treffen sind. Schließlich: Anders als mit politischen Gegnern, Geschäftspartnern oder Gewerkschaften, mit denen Konflikte mit Kompromissen aus dem Weg zu räumen seien, könne man mit der Physik nicht verhandeln. Dazu komme, so die Klima-Aktivisten, der Zeitfaktor. Für langwierige Verhandlungen fehle angesichts der fortgeschrittenen Erderwärmung schlicht die Zeit. Es müsse etwas geschehen, wenn man die Menschheitskatastrophe noch abwenden wolle, orientiert an den Fakten der Klimaforschung, radikal und jetzt.
Demokratische Entscheidungsprozesse jedoch brauchen Zeit und der Kompromiss ist gewissermaßen das Lebenselixier der Demokratie. Das provoziert Fragen: Kommt dieses Modell in der Klimakrise an seine Grenzen? Und: Muss Politik sich künftig der Wissenschaft unterordnen?
Auch in der Corona-Pandemie hatte man ja vielfach den Eindruck, die Entscheidungsarena werde weniger von Politikern als von Virologen beherrscht. Das Virus war eine unsichtbare Gefahr, in seiner Natur und seinen Risiken nur von Spezialisten einzuschätzen. Der Politik blieb dann oft nur, den Empfehlungen der Wissenschaftler zu folgen, auch wenn die bei genauer Betrachtung ja gar nicht mit einer Stimme sprachen, sondern durchaus sehr unterschiedliche Auffassungen zu den Gefahren des Virus und den probaten Maßnahme zu seiner Eindämmung äußerten. Kritik an den Maßnahmen richtete sich jedoch meist an die Politik. Sie hätte noch stärker auf die Wissenschaft hören und ihr bedenkenträgerisches Kleinklein noch konsequenter zurückstellen sollen.
Zum Sinnbild dieser Haltung wurde paradoxerweise ein Mann, der selbst ein Politiker war, aber eben auch Medizinprofessor und scheinbar mit allen Studien zum Virus und der Pandemie bestens aus erster Hand vertraut – Karl Lauterbach (SPD). In einem Buch, das er nicht allzu lang nach Übernahme des Amtes des Bundesgesundheitsministers veröffentlichte, macht auch er sich stark für eine Führungsrolle der Wissenschaft. Angesichts von Klimakrise, Pandemien, ökologischen Herausforderungen und steigender Komplexität sozialer und technischer Zusammenhänge könne die Politik tragfähige Problemlösungen nur noch schaffen, wenn sie sich an den Befunden und Schlussfolgerungen der Wissenschaft orientiere.
Literaturwissenschaftler Peter Strohschneider, als Vorsitzender des Wissenschaftsrats, der Zukunftskommission Landwirtschaft und als ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft selbst überaus profilierter Wissenschaftspolitiker, tritt dieser These allerdings entschieden entgegen. In seinem Buch „Wahrheiten und Mehrheiten. Kritik des autoritären Szientismus“ zeigt er, dass die These „Folgt der Wissenschaft“ nicht nur eine anti-demokratische Haltung ausdrückt, sondern das Eigentümliche von neuzeitlicher Wissenschaft und der Politik in der modernen Gesellschaft verfehle. Wissenschaft und Politik haben sich als spezialisierte Funktionssysteme der modernen Gesellschaft herausgebildet, so Strohschneider – Wissenschaft als System zur Generierung von Wahrheiten, Politik als System der Herbeiführung kollektiv bindender Entscheidungen. Beide haben ihre eigene Logik, ihre eigene Sprache, ihre eigenen Regeln und nur weil sie sich daran orientieren, können sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen und ihre jeweilige Leistung entfalten. Politik gründet nicht auf Wahrheitsansprüchen, sondern auf der Artikulation von Interessen und deren Ausgleich. Wissenschaft gründet nicht auf Macht und Kompromiss, braucht sich um Mehrheiten also nicht zu kümmern. Genau diese Differenzierung von Handlungssphären setzt in der Moderne Produktivkräfte und Problemlösungskapazitäten in vorher nicht gekanntem Ausmaß frei, verlangt den Menschen aber auch ab, mit dieser Differenzierung, Perspektivenvielfalt und Uneindeutigkeit zu leben. Das fällt nicht immer leicht, die Sehnsucht nach ganzheitlichen Problemlösungen aus einem Guss, nach Eindeutigkeit und klaren Ansagen ist groß.
Wahrheiten und Mehrheiten –
Kritik des autoritären Szientismus
Peter Strohschneider,
C. H. Beck, München 2024,
16 Euro
ISBN 978 3 406 81568 3
Strohschneider zeigt aber zugleich sehr überzeugend, dass es etwas gibt, das Politik und Wissenschaft verbindet. Er nennt es das Prinzip der „Vorbehaltlichkeit“. Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft ist die Wissenschaft zu einem offenen Prozess in der Zeit geworden, in dem immer wieder neue Erkenntnisse entstehen, die bestehende Erkenntnisse widerlegen oder zumindest doch relativieren. Was die Wissenschaft feststellt, sind keine ewigen Wahrheiten, sondern temporäre Erkenntnisse unter dem Vorbehalt späterer Korrektur. Und genau so ist Politik, zumindest demokratische Politik, ein nie abzuschließender Prozess des Ringens um gute Problemlösungen, um Kompromisse und Entscheidungen, die aber nie für alle Zeiten gelten, sondern bis auf Weiteres, bis sich neue Konstellationen von Interessen und Kräften ergeben, neue Prioritäten gesetzt werden und neue Mehrheiten finden.
All dies wird von der aktivistischen Wissenschaft negiert. Sie möchte in die Gesellschaft hineinwirken, nimmt für ihre Position aber nicht nur das in Anspruch, was allen Bürgern zusteht, nämlich eine bestimmte Meinung in einem Vielklang der Stimmen zu artikulieren, sondern verkündet eine, wie es Strohschneider nennt, „vorpolitische Wahrheit“, die dem Deutungspluralismus ebenso entzogen ist, wie dem politischen Ringen um den richtigen Weg. Darin liegt das autoritäre Element dieses Selbstverständnisses von politisch engagierter Wissenschaft.
Strohschneider zeigt an den Ausführungen Karl Lauterbachs ebenso wie an einem „offenen Brief“ von in der „Scientists Rebellion“ zusammengeschlossenen Wissenschaftlern zur Räumung des Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlenrevier im Januar 2023, wie Wissenschaft zur autoritären „Pose“ wird, die sich eine Kompetenz anmaßt, die sie in einer demokratischen Gesellschaft nicht hat und nicht haben sollte.
Allerdings wäre mit Strohschneider auch die Politik missverstanden, wenn man sie auf bloße Perspektivenvielfalt, Dauerdiskussion und Dauerreflexion reduzieren würde. Der politische Prozess ist wertlos, wenn er nicht zu Entscheidungen führt, die für die Gesellschaft bindend sind, selbstverständlich immer auf Zeit und unter dem Vorbehalt neuer Bewertungen und Mehrheiten. Robert Habeck, der sich, ebenfalls in einem Politikerbuch, für ein Verständnis von Politik als Dauerreflexion ausspricht und damit gewissermaßen den Gegenakzent zu Lauterbach setzt, hat nach Strohschneider damit das Wesen der Politik und das, was von ihr in der Gesellschaft zu Recht erwarten wird, missverstanden.
Autoritärer Szientismus nutzte den Klimawandel ebenso wie Pandemien und gesellschaftliche Krisen dazu, die Wissenschaft zu dem Souverän zu machen, der nach dem berühmten Diktum von Carl Schmitt über den Ausnahmezustand entscheidet. Das mühsame Ringen um Mehrheiten und Kompromisse wird dann schnell als der Dringlichkeit der Sache unangemessen und letzten Endes schädlich diskreditiert. Auch so komme Demokratie in Gefahr.
Vielleicht ist aber, so könnte man denken, die Demokratie den gegenwärtigen Problemen und Herausforderungen gar nicht gewachsen. In China etwa nimmt man immer wieder für das eigene autoritäre Herrschaftsmodell in Anspruch, den umständlichen Verfahren liberaler Demokratien auch mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels überlegen zu sein und findet damit in vielen Teilen der Welt durchaus positive Resonanz. Strohschneider weist aber zu Recht darauf hin, dass es möglicherweise ein Fehlschluss sei zu hoffen, mit dem Außerkraftsetzen demokratischer Prinzipien schneller zu Problemlösungen im Sinne des Klimaschutzes oder der Gesundheit zu gelangen. Das Überspringen des demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses berge eher die Gefahr, Reaktanz, Elitenhass und irrationalen Widerstand hervorzurufen, an denen die Klimapolitik scheitern könne. Und ob es wirklich gelingt, mit autoritärem Regieren sinnvolle Prozesse der Klimatransformation zu beschleunigen, steht dahin. Auch China hat dafür den Beweis noch keineswegs erbracht. Seine extrem rigide Corona-Politik zum Beispiel, die in Deutschland bei manchem Wissenschaftler als „Zero-Covid“-Strategie durchaus in hohem Kurs stand, ist jedenfalls krachend gescheitert.
Ein reflektiertes Verständnis von wissenschaftlicher Politikberatung anerkennt, so Strohschneider, die Eigenlogiken von Wissenschaft und Politik. Politik entscheidet, welche Schlussfolgerungen sie aus wissenschaftlicher Expertise zieht. Die Wissenschaft ihrerseits wird von politischen Bedenklichkeiten freigestellt, um den Strom immer wieder neuer Erkenntnisse zu erzeugen, der letzten Endes auch der Politik nutzen kann. Politikberatung kann informieren und empfehlen. Entscheiden aber muss die Politik.
Peter Strohschneider ist ein reflektiertes und informatives Buch gelungen, dass einen neuen Blick auf aktuelle Debatten erlaubt, aber auch Wichtiges zum grundsätzlichen Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der modernen Gesellschaft sagt. Es ist, obwohl wissenschaftlich argumentierend, gut lesbar. Ihm sind viele Leser zu wünschen, nicht zuletzt auch im Kreis der kritischen und politisch engagierten Wissenschaft.