Tübinger schultern Last des Klimawandels

Was hilft der Umwelt mehr? Bild: Alexander Hauk / pixelio.de

Die Stadt Tübingen mutet ihren Bürgern auf dem Weg zur Klimaneutralität die Aufgabe lieber Gewohnheiten zu. Doch trotz aller Ein- und Beschränkungen: Die Mehrheit der Tübinger macht mit, auch weil die Verwaltung mit den üblichen goldenen Regeln des Politbetriebs bricht. 

Die Pflicht zum Solardach für Häuslebauer, vom Amt anordnete Fernwärme statt schicker dänischer Kaminöfen, Poller an den Zufahrten zur pittoresken Innenstadt: Gewaltige Stolpersteine, säumen den Weg Tübingens hin zur Klimaneutralität. Bis zum Jahr 2030 will sich die schwäbische Universitätsmetropole zum Null-Emissions-Städtele mausern. Das Konzept „Tübingen macht blau“ setzt ehrgeizige Ziele. In jedem zweiten Spiegelstrich eine neue Zumutung: Parkgebühren mal vier, nicht nur für SUV-Kapitäne; Radwege auf Schnellstraßen; Baugebote im Stadtkern statt forcierter Einfamilienhausidylle in freier Natur. Beschränkungen, von denen Politiker anderswo glauben, ihre Umsetzung werde vom Wahlvolk mit der Vertreibung aus dem Garten Eden der Amtstuben bestraft.

Ein Programm gegen den Klimawandel wie aus einem dunkelgrünen Poesiealbum: nicht in Lummerland sondern in Tübingen, mitten in der wirtschaftsstarken Region Stuttgart. Der Initiator, Oberbürgermeister Boris Palmer, schreckt – wenn notwendig – auch vor dem Einsatz von Folterwerkzeugen nicht zurück. Dennoch sprachen ihm die Menschen seiner Stadt bei der Oberbürgermeisterwahl am 23. Oktober 2022 mit 53 Prozent der Stimmen ihr Vertrauen für eine weitere Amtszeit aus. In Tübingen wolle eine sehr große Mehrheit der Menschen halt etwas für den Klimaschutz tun, so Palmer, auf das Paradoxon von Zumutung und Zustimmung angesprochen. Beschneidung und Bescheidenheit als Lifestyle einer von Akademikern geprägten Stadtgesellschaft? Kaum zu glauben.

Trotz Corona und Ukraine-Krieg: Für 65 Prozent der Deutschen hat Umwelt- und Klimaschutz eine große Bedeutung; jedenfalls im Schnitt einschlägiger Umfragen. Mag sein, dass die Zustimmung zum ökologischen Umbau im grün-akademisch geprägten Milieu in Tübingen ausgeprägter ist, aber auch der Bildungsbürger blickt zwischen Anspruch und Wirklichkeit verstohlen in sein Portemonnaie.  

Boris Palmer bricht auf dem Weg zur Klimaneutralität seiner Stadt mit den eingeübten politischen Handlungsmustern. Tübingen vernetzt alle relevanten Handlungsfelder in einem einheitlichen Koordinatensystem. Keine Projektion, die erst hinterm Horizont weiter geht, keine schwammigen Maßnahmenpakete, die jedem Betroffenen seine individuelle Ausnahme gestatten. Dafür aber das Bekenntnis, dass Zukunft ungewiss sei und „Versuch und Irrtum“ wie in jedem Prozess Teil von solidem Handwerk sind. 

Ein ganzheitliches Konzept

Große Entwürfe bergen große Risiken. Der politische Mainstream liebt es deshalb, Konzepte nach Ressorts zu dosieren. Wie in einer Kleingartenanlage: Hegt jeder nur seine eigene Parzelle, Vorhaben mäandern zwischen den Maschendrahtzäunen der Kompetenzen oder verlieren sich im Gestrüpp von Zuständigkeiten, ohne Chance auf gemeinsame Lösungen. 

Tübingen dreht den Spieß um. 2030 will die Stadt klimaneutral sein. Der Energieverbrauch muss gegenüber dem Jahr 2014 um 25 Prozent gesenkt werden. Das kann nur gelingen, wenn die Themen Wärme, Energie und Mobilität im Kontext und nicht als isolierte Säulen betrachtet werden. Nur so lassen sich wechselseitige Reaktionen analysieren, Ressourceneinsatz, Aufwand, Wirkung, Akzeptanz, Handlungsdruck gegenüberstellen und Prioritäten definieren. Ein geringerer Einsatz von Energie, alternative Wege der Versorgung, Verzicht, Verbote und Beschränkungen zwingen zur Aufgabe „beliebter Gewohnheiten“. 

Das Tübinger Konzept konkretisiert die Folgen dieser Veränderungen für Stadtentwicklung, Wohnen, Wachstum und Arbeitsplätze. Neuordnung und Strukturwandel sind auch immer mit sozialen Härten verbunden, die beispielsweise mit Förderprogrammen abgeschwächt werden können. Für die jeweilige Umsetzung der Bausteine werden Verantwortliche im Rathaus, in den stadteigenen Unternehmen und der Wirtschaft benannt. Ob Autofahrer, Mieter oder Handwerker: Das Konzept formuliert, welchen Beitrag jede Gruppe in der Bürgerschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität zu schultern hat. Ein politischer Beipackzettel ohne Versteckspiel.

Das Konzept fordert von allen Milieus einen Beitrag, den Energieverbrauch zu reduzieren. Aber gleich ob Partei, Wirtschaft oder Mieter: Wer eine Schonung seiner Interessen erwartet, ist verpflichtet, Maßnahmen in anderen Bereichen vorschlagen, mit denen ähnlich hohe Einsparpotentiale zu erwarten sind. Wenig Chance für den im politischen Mikado beliebten „Schwarzen Peter“ wie etwa: „Ein Tempolimit spart 0,5 Prozent Sprit, sollen erst mal die anderen 99,5 Prozent bluten“. Vielleicht ist diese Gesamtschau trotz aller Härten ein Grund für die Akzeptanz des Vorhabens, weil sie als gerecht empfunden wird.

Weichenstellung für Jahrzehnte

Klimaneutralität und Energieeinsparung werden gerade in den Gemeinden die Agenda über Jahrzehnte bestimmen, jenseits von Wahlperioden. Das Tübinger Klimakonzept ist weit über den Zielkorridor das Jahr 2030 hinaus angelegt. Mit breiter Mehrheit. Nur diese Verlässlichkeit über einen langen Zeithorizont macht klimaeffiziente aber teure Investitionen möglich, beispielsweise in Fernwärmenetze. Die Rohre verlegt die Stadt in Quartieren, in denen Industrie und Dienstleister Abwärme in die Leitungen einspeisen können. Der Schokomogul „Ritter Sport“ hat gemeinsam mit den Stadtwerken Tübingen „Deutschlands größte Solarthermieanlage und eine neue Energiezentrale“ gebaut, um den Nachbarort Dettingen mit Fernwärme zu versorgen. Schokolade und Sonne im ungewohnten win-win-Match. 

Jede Meinung zählt

Der Weg Tübingens hin zur Klimaneutralität wird von der Mehrheit Menschen in der Stadt getragen. Ihre Meinung wird gehört. Per App ergründet das Rathaus die Akzeptanz konkreter Maßnahmen. Keine „Schönwetter-Motiverforschung“ à la „Sind sie für mehr Klimaschutz?“, sondern konkrete Fragen nach Sperrung der Innenstadt, höheren Parkgebühren oder einer Solarpflicht auf dem Dach. Erstaunlich. Auch für Zwang und Zumutungen liegt die Zustimmung meist deutlich über 50 Prozent. Ein Rating, das es Oberbürgermeister Palmer erlaubt, Bedenkenträger im Stadtrat mit Verweis auf die Volksmeinung auszubremsen.   

Versuch und Irrtum

Berge von Theorie, kaum Praxis: Auf dem Weg hin zur Klimaneutralität betritt die Politik Neuland. Für Prüfstand und Testlauf fehlt die Zeit. Irrtümer sind programmiert. Palmer scheut sich nicht, in seinem Konzept Versuch und Irrtum zu thematisieren. Ein Tabubruch in einer Zeit, in der jede Unsicherheit medial abgestraft wird. Das Tübinger Konzept beschreibt diese Unsicherheiten und Risiken offensiv, nennt Nebenwirkungen wie der Beipackzettel der Apotheke. Weil es diese Grenzen steckt, wirkt das Programm für die Betroffenen glaubwürdig.  

Beispiel Ladesäulen: Parteiprogramme machen glauben, irgendwoher kommt der Strom schon her, wenn ab 2035 alle Automobile per Wallbox im Schnelldurchgang in Minuten ähnlich einem Benziner an der Zapfsäule geladen werden. In der Realität wird nach dem Stand der Technik heute das komplette Umswitchen einer Stadt auf E-Mobilität die Netze zusammenbrechen lassen. Deshalb setzt Palmer im Alltag auf viele kleine Säulen. Sie liefern während des Einkaufs, beim Arztbesuch oder beim Restaurantbesuch in einer Stunde ausreichend Energie für den restlichen Tag. Alltag statt Hochleistung macht es möglich, dass Tübingen allein in diesem Jahr 77 Säulen entlang von Straßen und auf öffentlichen Parkplätzen aufstellt. E-mobile Normalität, während sich die Verantwortlichen in anderen Städten bei der Einweihung einzelner Steckdosen auf Gruppenbildern in der Presse feiern lassen.

Primat der Politik

Überbauung von Ackerflächen mit Fotovoltaikanlagen, Bewegungsmelder an Straßenlampen oder Abwärme aus dem Klärwerk: Tübingens Klimakonzept verschanzt sich nicht hinter unverständlichen Paragraphen oder unklaren Zuständigkeiten. Verantwortung wird von der Stadt konkret zugewiesen. In die Dezernate und Ämter im eigenen Rathaus, aber auch in Richtung Stadtwerke, bei denen Oberbürgermeister Palmer als Aufsichtsratsvorsitzender die Richtlinien vorzugeben scheint. Politik wird nicht im Sitzungszimmer städtischer Gesellschaften gemacht, sondern im Rathaus. Politische Verantwortung und Führung sind notwendig, um Menschen zu Veränderungen zu überreden, die auch Ungewissheit bedeuten. Gibt es on Top ein klar definiertes Ziel, dann sind die Bürger auch bereit, Neues zu wagen. Dieses Primat der Politik ist in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar. Und zu guter Letzt: Tübingen kehrt die Treppe ganz in schwäbischer Tradition von oben. Ein eigenes Kapitel im Klimakonzept listet die Einschränkungen für Politik, Rathaus und die städtischen Gesellschaften auf.

 
Carsharing, die eigene Ladestation in der Garage, Förderprogramme für den Umzug in eine kleinere Wohnung: Tübingen macht es den Menschen leicht, sich in den komplexen Verästelungen des breit angelegten Klimakonzepts zurechtzufinden. Im Netz werden die Wege zu Anmeldung und Fördermittel strukturiert beschrieben. Kaum Slogans, mehr Alltag. In den Videoclips wenig Botschaften von oben, vielmehr formulieren Menschen aus der Stadt ihre Erwartungen an das Konzept, äußern aber auch ihre Bedenken und Befürchtungen. 

Tübingen ein Vorbild?

Knapp 10.000 Einwohner fehlen der beschaulichen Schwabenmetropole, um in den Kreis der Deutschen Großstädte aufzurücken. In puncto Finanzkraft aber hat Tübingen viele größere Kommunen bereits überholt. Das Universitätsstädchen profitiert von seiner Lage in einer wirtschaftsstarken Region,, gewiß. Aber die Verantwortlichen dort haben es mit gezielten Ansiedlungen verstanden, die Gunst der Lage mit der Anziehungskraft ihrer Universität zu kombinieren. Die Einnahmen sprudeln. Müssten Gemeinden Übergewinnsteuer zahlen, das Finanzamt hätte der Stadt längst einen eigenen Bezirk zugeteilt.

Der skizzierte Weg Tübingens hin zur Klimaneutralität verdient Beachtung. An seinen Kreuzungen stehen Wegweiser, wie andere Städte Handlungsfelder und Themen quer über Dezernate so miteinander verknüpfen können, dass innerhalb eines Jahrzehnts der Energieverbrauch erfolgreich eingeschränkt werden kann. In Diagnose und Therapie ein Leuchtturm, der anderen Städten Orientierung geben kann. Mit seinem Geldspeicher im Rathauskeller kann Tübingen das Konzept in all seinen Verästelungen umsetzen. Kein Polo sondern ein Porsche mit allen Extras. 

Aber: Viele Deutschen Städte stehen auf der Verliererseite. Ihre rauchenden Schlote halfen einst den Wohlstand unseres Landes aufzubauen. Sie sind heute erloschen. Dafür fehlen einfachste Ressourcen für die Grundversorgung. Kindern, Verkehr und Wohnen. Deutschland droht ein klimatischer Flickenteppich, bunt aber nicht neutral. Dennoch: Ob Mainz, Jena, Offenbach, Merseburg oder Gelsenkirchen, ob vermögend oder bitterarm: Tübingen ist Beispiel, dass Menschen auch unangenehme Wahrheiten und Einschränkungen akzeptieren und bei Wahlen honorieren. Wer sich Ende der 2000er Jahre mit Bürgermeistern aus der Nachbarschaft Tübingens über die Perspektiven des damals frisch gewählten Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer sprach, erntete oft ein süffisantes Lächeln. Wer so eklatant den politischen Mainstream ignoriere, habe auf Dauer kaum eine Chance.  

Tübingens Weg zur Klimaneutralität bricht mit den goldenen Regeln des etablierten Politikbetriebs, vor allem mit denen seiner Kommunikation. Versuch und Irrtum, offen kommuniziert: öffentliches Abwägen statt Pflöcke im kleinen Kreis. Zweifel. Öffentliches Voting, um Prioritäten vorzubereiten. Aber vor allem Ehrlichkeit. 

Die Phrasen und Superlative in der Politik, vor allem in den Kommunen, haben sich verbraucht. Formeln wie „Bestes-Kita-Gesetz“, „Sichere-Renten-Reglung, „Optimale-Verkehrswende“ wecken eher Misstrauen. Zu oft war die Enttäuschung zu groß. Palmers Konzept hat nicht nur ein klares Ziel und dazu Offenheit im Prozess gepaart mit fundiertem Handwerk. Es überzeugt vor allem, weil es  penibel die Kosten und Zumutungen für den einzelnen auflistet, die er heute zu tragen hat, damit seine Nachkommen in 50 Jahren immer noch einer lebendigen Stadt wohnen und arbeiten können.

Ein Weg, der offenbar belohnt wird und hilft, Krisen zu überstehen. Im Herbst 2021, das Konzept war gerade mal zwei Jahre verabschiedet, kippte ein Bürgerentscheid, einen zentralen Baustein auf dem Weg zur Klimaneutralität: 60 Prozent der Wahlberechtigten sagten „Nein“ zur geplanten Stadtbahn durch die Innenstadt. Ein Rückschlag, aber nicht das Aus für all die anderen Positionen im Klimakonzept.

 

https://www.tuebingen.de/Dateien/broschuere_klimaschutzprogramm.pdf

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