„Trotz Schuldenbremse sind neue Schulden möglich“

Von „Bazooka“ über „Wumms“ und „Doppelwumms“ bis „Zeitenwende“: Mit sprachlichen Mitteln macht Olaf Scholz deutlich, wie er die finanziellen Belastungen verschiedenster Krisen von Covid-19 über Energie bis hin zum Krieg in de Ukraine abzufedern gedenkt. Die Tatkraft ausstrahlenden Ausdrücke sollen über die Wirkkraft von sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen keinen Zweifel aufkommen lassen. Ungeachtet dessen, dass die vollmundigen Ankündigungen bisher nur teilweise umgesetzt werden, so reißen die Projekte doch riesige Löcher in den Etat, was die Regierung, vor allem durch die FDP getrieben, zu verstärkten Sparmaßnahmen veranlasst, wo doch allerorten riesiger Investitionsstau seiner Auflösung harrt. Die „Schuldenbremse“ schwebt wie ein Damoklesschwert über den Planungen mit öffentlichen Finanzen, während nicht wenige Experten gerade auch im aktuellen ökonomischen Umfeld zu mehr Investitionen auffordern. In diesem Spannungsfeld hat sich unsere Autorin und langjährige Geschäftsführerin des ver.di-Bezirks Frankfurt und Region, Rosi Haus, mit dem Volkswirt und Politikwissenschaftler beim DGB, Dr. Kai Eicker-Wolf, unterhalten. Vorweg dessen These: „Es besteht trotz Schuldenbremse Spielraum für kreditfinanzierte Investitionen!“ 

Ob die Schuldenbremse auf Biegen und Brechen eingehalten werden muss, ist unter Experten umstritten. Foto: Gerd Altmann / Pixabay

Zunächst einmal eine Frage zur aktuellen Konjunkturlage. Ökonomen wie Hans-Werner Sinn sprechen davon, dass Deutschland aktuell der „kranke Mann Europas“ sei. Gleichzeitig will die Bundesregierung die Schuldenbremse einhalten. Wie bewerten Sie das?
Die Debatte um Deutschland als „kranken Mann Europas“ halte ich für vollkommen abwegig. Das suggeriert ja, dass Deutschland sich wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast befindet. Fakt ist, dass wir eine Phase der konjunkturellen Schwäche durchlaufen. Da ist ein Sparkurs der öffentlichen Hand, der auf Biegen und Brechen die Schuldenbremse einhalten will, konjunkturpolitisch falsch. Das schwächt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und verstärkt die Konjunkturprobleme. Auf der Bundesebene ist ja vor allem die FDP mit ihrem Finanzminister Christian Lindner für diesen Kurs verantwortlich. Da wird faktisch eine prozyklische Politik propagiert und betrieben, was aus gesamtwirtschaftlicher Sicht vollkommen unvernünftig ist. 

Aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen ist die Schuldenbremse ein Fehler. Wir haben einen erheblichen Investitionsstau in Deutschland, was die öffentliche Infrastruktur anbelangt. Da geht es auf der Landesebene um Hochschulen oder auf der kommunalen Ebene zum Beispiel um Sachen wie die Feuerwehr oder Sporteinrichtungen, Kitas und Schulgebäude. Außerdem besteht ein erheblicher staatlicher Investitionsbedarf, um die sozial-ökologische Transformation zu bewältigen – etwa im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs oder mit Blick auf die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Das geht nur, wenn staatliche Investitionen kreditfinanziert werden können. 

Gibt es keine anderen Finanzierungsmöglichkeiten? Was ist mit der Steuerpolitik? 
Eine Finanzierung oder eine Teilfinanzierung durch höhere Steuereinnahmen wäre natürlich auch möglich und sinnvoll. Aber Steuererhöhungen sollten an der richtigen Stelle erfolgen. Dank der Arbeiten des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty kennen wir die Folgen der neoliberalen Steuerpolitik der vergangenen 40 Jahre sehr genau: Die Spitzensteuersätze wurden massiv gesenkt, und Steuern, die wie die Vermögensteuer vor allem wohlhabende Personen belastet haben, wurden zum Teil ganz abgeschafft. Im Ergebnis haben wir eine starke Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Gerade in Deutschland sind die Vermögen besonders ungleich verteilt. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zwei Drittel und das reichste Prozent 35 Prozent der Nettovermögen. So eine Ungleichverteilung ist demokratiegefährdend, allein schon, weil sie eine extreme Ballung ökonomischer Macht darstellt. Dadurch entstehen politische Einflussmöglichkeiten, die eigenen partikularen Interessen durchzusetzen. 

Die zunehmende Ungleichheit hat natürlich auch andere Ursachen als die Steuerpolitik, wie zum Beispiel die immer geringer werdende Zahl von abhängig Beschäftigten, die unter Bedingungen von Tarifverträgen arbeiten. Und natürlich sind auch sozialpolitische Maßnahmen zu nennen. Aber den größten Einfluss auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen hat die Steuerpolitik. 

Was sollte steuerpolitisch passieren?
Es wäre sinnvoll, wieder die Vermögensteuer zu erheben. Und es ist ein verteilungspolitischer Skandal, dass Unternehmenserbschaften oder entsprechende Schenkungen so gut wie gar nicht besteuert werden. Zwischen 2009 und 2020 sind der öffentlichen Hand so Steuereinnahmen in Höhe von insgesamt 70 Milliarden Euro durch die Lappen gegangen. Würden bei der Erbschaftssteuer diese und weitere nicht gerechtfertigte Vergünstigungen abgebaut, dann könnte das aktuelle jährliche Volumen dieser Steuer von rund zehn Milliarden Euro mehr als verdoppelt werden. Das Aufkommen aus Vermögens- und Erbschaftssteuer fließt übrigens komplett den Bundesländern zu, die wiederum ihre Kommunen hieran beteiligen können. 

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein setzt ja ehr darauf, den Länderfinanzausgleich zugunsten von Hessen zu ändern. Er hofft da offensichtlich auf einen Erfolg der bayerischen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Er will aus einem so erhofften Mehraufkommen die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern dann komplett vom Land bezahlen lassen… 
Das ist typischer Wahlkampfpopulismus der bayrischen und der hessischen Landesregierung. Es wird behauptet, dass die Geberländer den Nehmerländern bestimmte Leistungen finanzieren, und dass das ungerecht sei. Tatsächlich ist der Länderfinanzausgleich eine vernünftige Regelung und verhindert wirtschaftliche und letztlich auch gesellschaftliche Verwerfungen. Er soll bundesweit dazu beitragen, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Das derzeitige System bietet nach meiner Auffassung keinen Grund für Änderungen zugunsten der Geberländer. Aussagen wie die von Boris Rhein sollen natürlich auch von Debatten über die Steuerpolitik oder über die Schuldenbremse ablenken.

Gleichwohl wäre es vernünftig, wenn die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern entlohnt würde – das erfolgt ja aktuell weitestgehend nicht. Wir haben im Bildungsbereich ein sehr großes Fachkräfteproblem. Und das betrifft die Kommunen bei den Kitas und das Land bei den Schulen. Kitas müssen in Krankheitsfällen immer wieder Gruppen früher nach Hause schicken, und an den Schulen in Hessen unterrichten mittlerweile mehrere Tausend Personen, die für den ausgeübten Beruf nicht ausgebildet sind. Und dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Im Kita-Bereich würde eine angemessene Entlohnung der Auszubildenden sicher helfen, mehr junge Menschen für den Beruf der Erzieherin und des Erziehers zu interessieren. 

Welche finanziellen Spielräume hat das Land denn?
Die Gesetzgebung im Bereich der Steuern liegt auf der Bundesebene. Hier kann das Land nur Initiativen im Bundesrat starten. Und durch die Schuldenbremse ist eine Kreditfinanzierung von Investitionen des Landes ja generell untersagt. Allerdings gibt es trotz Schuldenbremse Möglichkeiten, staatliche Investitionen durch Kredite zu bezahlen. Ganz konkret könnte das Land angesichts des Klimanotstands ein Sondervermögen für einen Transformationsfonds auflegen und dieses durch Kredite finanzieren. Andere Bundesländer wie Bremen, Saarland und Berlin machen das so. Dabei müssen aber bestimmte haushaltsrechtliche Grundsätze beachtet werden. Weil Schwarz-Grün das nicht gemacht haben, ist das Corona-Sondervermögen ja vom hessischen Staatsgerichtshof kassiert worden. Aber das bedeutet eben nicht, dass grundsätzlich keine Sondervermögen eingerichtet werden dürfen. Das hat der Staatsgerichtshof auch explizit klargestellt. 

Außerdem kann das Land öffentliche Investitionsgesellschaften, zum Beispiel in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts gründen. Diese müssten einen inhaltlich klar umrissenen Sachauftrag haben und könnte ebenfalls kreditfinanziert investieren. Eine weitere Möglichkeit besteht durch die Nutzung der landeseigenen Wirtschafts- und Infrastrukturbank, kurz WIBank. Diese könnte zum Beispiel Kredite für die energetische Gebäudesanierung oder für die Sanierung von maroden Schulen an die Kommunen vergeben, und das Land tilgt diese Kredite. 

So etwas würde gehen?
Ja, das ist übrigens schon gelebte Praxis, auch in Hessen. Die so genannte „Hessenkasse“, das ist ein Entschuldungsprogramm des Landes Hessen für die Kommunen, funktioniert nach diesem Prinzip. Und auch die Mittelvergabe im Rahmen des Digitalpakts für die Schulen hat die WIBAnk wie beschrieben zum Teil so abgewickelt. 

Wie stellt sich denn die Finanzlage des Landes generell dar?
Ziemlich entspannt. Hessen hat in den beiden vergangenen Jahren unerwartete Überschüsse erzielt. Erwartet wurde 2021 ein Defizit in Höhe von 750 Millionen Euro, tatsächlich erzielt wurde letztlich ein Überschuss von 2,4 Milliarden Euro – hierbei spielt unter anderem der Produktionsstandort von BioNTech in Marburg eine Rolle. Auch im Jahr 2022 wies der Landeshaushalt wieder ein Plus in Höhe von 1,7 Milliarden Euro auf. 

Aufgrund der zu Beginn der Corona-Krise kaum zu erwartenden Steuerentwicklung ist bei den Staatsschulden des Landes kein starker Anstieg zu verzeichnen – ganz im Gegenteil: Nach einer Erhöhung des Schuldenstands im Jahr 2020 um gut 3,3 Milliarden Euro wegen des starken Wirtschaftseinbruchs als Folge der Corona-Krise ist dieser anschließend wieder deutlich gesunken und liegt etwa auf dem Niveau des Jahres 2019, also auf Vorkrisenniveau. Zentral für die Beurteilung des Schuldenstands ist aber sowieso nicht absolute Höhe der staatlichen Verschuldung, sondern das Verhältnis von Schuldenstand zur Wirtschaftsleistung, dem Bruttoinlandsprodukt. Und hier liegt das Land mit einem Wert von 12,4 Prozent sogar über drei Prozent unter dem Wert des Jahres 2016. Es besteht also reichlich Spielraum, um auch im Rahmen der Schuldenbremse in Hessen kreditfinanziert zu investieren. 

Und wie sieht denn die soziale Lage in Hessen aus?
Der hessische Armutsbericht aus dem Dezember 2022 ist alarmierend. Einkommen und Vermögen sind auch in Hessen immer ungleicher verteilt, die Armutsquote ist in den vergangenen Jahren dauerhaft gestiegen und sogar höher als in Deutschland insgesamt. 

Was hätte die noch amtierende Landesregierung denn machen sollen? Steuerpolitisch kann sie ja nicht handeln...
Ja, das stimmt. Aber jenseits der Steuerpolitik existieren durchaus Einflussmöglichkeiten der Landespolitik auf die Verteilung. So kann eine Stärkung der Tarifbindung auf eine egalitärere Entwicklung der Löhne und damit der Haushaltseinkommen hinwirken: Durch eine höhere Tarifbindung werden mehr Beschäftigte nach Tarifvertrag und damit besser bezahlt, was in der Tendenz geringen Löhnen entgegenwirkt und so gerade ärmeren Haushalten zugute kommt. Die entsprechenden Instrumente zur Stärkung der Tarifbindung sind auf der Landesebene die Allgemeinverbindlich-Erklärung von Tarifverträgen, Tariftreue- und Vergabegesetze sowie die Verankerung sozialer Kriterien in der Wirtschaftsförderung des Landes. 


Dr. Kai Eicker-Wolf, Volkswirt und Politikwissenschaftler, Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim DGB Hessen-Thüringen und Referent für finanzpolitische Fragen bei der GEW Hessen.

Aktuelle Veröffentlichungen: 

Zusammen mit Patrick Schreiner (ver.di) „Wirtschaftsmärchen – Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales“, erscheint im Laufe des September 2023 im PapyRossa Verlag; 

und

„Aufgebrochen im Wandel – Bilanz und Perspektiven schwarz-grüner Regierungspolitik 1999-2023 in Hessen“, L. Dizinger, K. Eicker-Wolf, J. Langhammer und M. Rudolph (HG.)


Und hier muss man vor allem die Politik des grünen Sozialministers Kai Klose und des grünen Wirtschaftsministers Tarek Al-Wazir in den Blick nehmen. Während Allgemeinverbindlicherklärungen im Sozialministerium erfolgen, ist das Wirtschaftsministerium für den Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe und die Wirtschaftsförderung verantwortlich. In allen drei genannten Bereichen fällt die Bilanz mangelhaft aus: Weder ist die Zahl von allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen in Hessen gestiegen, noch verfügt Hessen über ein zeitgemäßes und wirksam kontrolliertes Tariftreue- und Vergabegesetz oder spielten bisher soziale Kriterien wie die Entlohnung nach Tarifverträgen im Rahmen der Vergabe von Wirtschaftsfördermitteln durch das Land eine Rolle. 

Kommen wir abschließend kurz auf die kommunalen Finanzen zu sprechen. Wie schätzen Sie dort die Lage ein, und wo bestehen Probleme? 
Große Probleme bestehen auf der kommunalen Ebene nach meiner Einschätzung zum einen im Personalbereich. Die Kitas habe ich schon genannt. Hier wird sich die Lage weiter zuspitzen, wenn aber dem Schuljahr 2026/27 der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in den Grundschulen kommt. Da werden noch mehr Erzieherinnen und Erzieher gebraucht. Aber auch in den Bauverwaltungen ist in der Vergangenheit so viel Personal abgebaut worden, dass dort mittlerweile in vielen Kommunen große Engpässe bestehen. Deshalb können viele Bauvorhaben häufig nur verzögert umgesetzt werden. 

Und dann besteht auf der kommunalen Ebene zum anderen ein sehr großer Investitionsstau, das gilt auch für Hessen. 

Wo ist der am größten?
Für Deutschland insgesamt gibt es die Zahlen des KfW-Kommunalpanels. Dort wird für die Kommunen ein aktueller Investitionsrückstand von rund 166 Milliarden Euro ausgewiesen. Die größten Probleme bestehen demnach bei den Schulen mit einem Investitionsstau von mehr als 47 Milliarden Euro. In Hessen dürften die Schulen auch den größten Bedarf aufweisen. Allein in Frankfurt beträgt der Investitionsstau rund 2,5 Milliarden Euro. Für Hessen insgesamt würde ich den Investitionsstau an den Schulgebäuden auf fünf Milliarden Euro schätzen. Aber das ist eine Schätzung aufgrund von Zahlen für einzelne Schulträger. Forderungen nach einer detaillierten Erhebung des Investitionsstaus auf der Landesebene werden von der Landesregierung leider regelmäßig verweigert. 

Mit welcher Begründung? 
Mit Blick auf die Kommunen wird vorgeschoben, dass das Land dafür nicht verantwortlich sei. Aber das ist natürlich ein Scheinargument. Das Land hat – zusammen mit dem Bund – in den vergangenen Jahren Investitionsprogramme für die Kommunen aufgelegt. Und ich müsste mich als Landesregierung natürlich brennend dafür interessieren, wie groß das Problem denn eigentlich ist, für das ich Maßnahmen ergreife. 

Ein Abgeordneter einer der beiden Parteien, die aktuell die Regierung stellen, ist in einem Gespräch auch einmal ehrlich gewesen. Er meinte sinngemäß, die Landesregierung wäre doch nicht verrückt, den kommunalen Investitionsstau etwa im Schulbereich zu erheben, denn das würde nur der Opposition in die Hände spielen: Schließlich wisse jeder, dass der exakt erhobene Investitionsstau so groß sei, dass er unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht abgebaut werden könne. 

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