Ein Gespenst geht um in Hessen – das Gespenst der Beliebigkeit. Auf Facebook, Instagram & Co. verzweifeln quer über Parteigrenzen ratlose Fraktionsfreunde, deprimierte Genossen und traurige Mitglieder ob ihrer Überzeugungen. Nächtelang hatten sie den Parteikatechismus Wort für Wort wiederholt, um den digitalen Gesinnungstest per Wahl-O-Mat mit Bravour zu meistern. 38 Fragen nach Passion und Gusto. Für ein glatt gebügeltes Weltbild kramten sie zerknitterte Polaroids aus schwarzen, grünen, roten und gelben Schubladen. Wehmut bei all den Bildern mit prallen Sonnenblumenwiesen, roten Socken und geballten Fäusten. Kampagnen, aus denen sie einst gestählt hervorgingen: „Wir haben die richtigen Männer“ (SPD 1972), „Mehr FDP, mehr Forschung“ (2005), „Deutschland braucht den Wechsel“ (CDU 2005), „Lohnarbeit ja, Billigjobs nein“ (Die Linke 2005), „Ohne uns wird alles Schwarz-Rot-Gold“ (Grüne 1990).
Und dann der Schock: Seelenlose Halbleiter ohne Herzblut, tief unten in einer Black Box, transferieren gestandene Ordoliberale ins „Team Wissler“, so gnadenlos wie die Bayern ausgemusterte Kicker zu Energie Cottbus. Radikalökologen werden im Darknet zu Anhängern der autoaffinen CDU. Ein Troll, wer Böses denkt, wenn sinistre Bytes FDP-ler, die auf Currywurst als Kulturgut schwören, zu Veganern abstempeln und Sozialdemokraten aus der „Alles-regeln-Nanny-Fraktion“ am Bildschirm zu Hardcore-„Freien-Wählern“ mutieren. Ball paradox? Leider ohne Erotik.
Der „Wahl-O-Mat“ mag ein Spielzeug sein, aus der Zeit gefallen. Aber er ist sicher keine raffinierte Finte eines Deep State, um ein erstarrtes Parteiensystem zu verwirren. Eine mit künstlicher Intelligenz gespeiste Wahlhilfe bleibt immer so beliebig wie die Programme der Parteien, die ihn füttern.
Gendern, Fünf-Prozent-Hürde, das Familienbild an Schulen, Bundeswehrforschung an Unis, Feten am Karfreitag, verkaufsoffene Sonntage, gleichberechtigte Vergabe von Listenplätzen sind ehrenwerte Themen, wichtig für jede B-Note. Aber auch die noch so fleißige Addition von Randnoten kompensiert nicht den Verlust von Kernkompetenzen, es sei denn, die Welt zwischen Ukraine, Flüchtlingselend im Mittelmeer und Klimakatastrophen an Ahr oder nahe Athen gerät einmal nicht aus den Fugen.
Wahlen entscheiden nicht Träume, sondern der Alltag: die Miete der Frankfurter Krankenschwester für Zimmer, Küche und Bad; der Aldi-Bon des Offenbacher Rentners, das Deutschlandticket, wenn im Knüll der Schulbus in den Ferien nicht fährt; der Klimawandel, der dem Bauern an der Lahn die Ernte wegschwemmt; der Personalmangel in der Kita, der die Busfahrerin in Marburg zur Halbtagsarbeit zwingt; die Wärmepumpe, die die Erbin um ihr Auszugshäuschen im Odenwald fürchten lässt.
Harte Themen dominierten einst den Hessischen Landtag und seine Wahlschlachten: Gymnasien contra Gesamtschule, Hanauer Atombetriebe und Biblis, Hessenplan, Sozialwohnungen, Startbahn-West, Umgehungsstraßen, Gebietsreform und Helaba-Skandal. Dazu eine Prise Folklore um Dorfgemeinschaftshäuser und Hessentage. Es muss ja nicht gleich die Dachlatte sein: Hessens Parteiprogramme, ihre Impresarios, Protagonisten, Frontmänner und Spitzenfrauen wirken heute langweilig und weichgespült. Sattelfest nur in drögen Debatten.
Ein Boris Rhein, dem eine Feldmaus das Frankfurter OB-Amt weggeschnappte, nur weil sie an den Türen von Kleingartenvereinen namens „Frankfurt-Kuhwald“ klingelte, statt die IAA und deren Lobbyisten zu hofieren. Damit die Konkurrenz die Finger vom Schellekloppe lässt, düpiert der mittlerweile getreu dem Peter-Prinzip zum Ministerpräsidenten Gekürte die Konkurrenz mit Konsens, macht es so anderen schwer, das „eigene Profil herauszuarbeiten“, wie Professor Björn Egner, Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt bilanziert: „Innere Sicherheit – Äußere Gelassenheit“, „Die wichtigste Bank Hessens: Die Schulbank“ oder „Operation: Krankenhäuser erhalten“. Ein Sammelsurium von Banalitäten stützt die CDU-Kampagne. Widerspruch wogegen? Bleibt nur noch ein verzweifelter Hilferuf, ein Heiner-„Freiheit statt Sozialismus“-Geißler möge wieder auf die Erde hinabsteigen. Zu einer finalen Attacke gegen all die politischen Proseminare.
Ein Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, dessen jugendlicher Elan zu Bräsigkeit mutierte. Sein Wohnungsprogramm „Großer Frankfurter Bogen“ verschwand still in der Versenkung, auch dank seiner Parteifreunde in den Rathäusern. E-Auto-Fabriken und Chip-Farmen sind längst Trophäen von Provinzfürsten in Sachsen und Brandenburg. Urgrüne Themen wie Solarenergie oder Verkehrswende können Söder, ein Grufti namens Kretschmann oder ein Outlaw Palmer besser. Zum Glück für die Hessen-Ökos weiß der Slogan-Generator Inhaltsleere zu übertünchen: „Hessen lieben – Zukunft leben. Kümmern (!) wir und ums Klima“ oder „Etwas verändern, damit es bleibt, wie es ist“. Eine Schloss-Bellevue-reife Kampagne à la „Gut, dass wir mal darüber reden, weil ich doch so betroffen bin“, statt energischer Schritte gegen die nahe Klimakatastrophe.
Nancy Faeser: Ein Hessen-Quickie auf der (Zu-) Rückbank. Ohne Vorspiel. Hopp-on-hopp off mit stetigen „Geistesblitzen“ zum Thema Sicherheit, wöchentlich gestreut wie der Goldstaub von der Fee bei Peter Pan. Nur rieseln die Nuggets aus der fernen Metropole ohne Magie und Glanz über das Hessenland. Schade, dass ihr Cem Özdemir die Landwirtschaft nicht gönnte. Delikatessen und Rezepte aus diesem Ministerium hätte das Wahlvolk goutiert, weil wenigstens von praktischem Nutzen. Statt mit programmatischer Schärfe quält die SPD ihre Anhänger mit Denksportaufgaben: „Geld für 25000 neue Pflegerinnen“, „Geld für 25.000 neue Pfleger“: Äh? 25.000 oder 50.000? Da ist viel Luft nach oben, queer über die Community für neue Genera.
Stefan Naas heißt er, sagt Google und verortet ihn an der FDP-Spitze: „Feuer und Flamme für Hessen“ sei er, sagt er. Den Scheiterhaufen wünscht man im Land der Dichter und Denker auch seinen Slogans: „Make Inflation small again“, „Freiheit fährt FPD“, „Für mehr Land-Life-Balance“ oder gar „Die Mitte macht das Land“. Die flapsig witzigen Sprüche der Freien Demokraten von einst sterben einen langen, einsamen Tod. Austauschbar, in Beliebigkeit verkommen. Ohne Programm und Diskurs. Mit ungewollter Ehrlichkeit bringt der Offenbacher FDP-Landtagsabgeordnete Oliver Stirböck das liberale Helter Skelter auf den Punkt, wenn öffentlich in seine Küche einlädt, in der jeder sein eigenes Süppchen rühren darf.
Janine Wissler rockte mit ihren Reden einst den Hessischen Landtag im spätklassizistischen Wiesbadener Stadtschloss. Heute reicht es zwischen Renaissance und Neobarock im Reichstag höchstens zum Stehblues. Elisabeth Kula und Jan Schalauske sollen die Linke in Hessen gleich mit einem Doppelpack aus dem Tal der Tränen ziehen, mit Parolen wie „Stimme für soziale Gerechtigkeit“, „Macht Hessen gerecht“, „Gute Gesundheit bis ins Dorf“. Sentenzen aus dem Linken Poesiealbum für die Ära im Promillebereich nach Sahra.
Der Bundestrend überlagert die Hessenwahl. Klarer denn je zuvor. Das mag ungerecht sein. Für Berlin. In Wiesbaden ignorieren die Parteien die Herausforderungen zwischen Kassel und Darmstadt. Dabei liegen die Landesthemen auf der Straße. Zahlreich wie die Schlaglöcher auf den Bundesstraßen 27 und 45, die Eschwege mit Erbach verbinden: Lehrermangel, Kitanot, das tägliche Desaster im Nahverkehr, Digitalwüste Hessen, miese Resultate im Bildungsmonitor „Naturwissenschaften“, mangelnde Lesekompetenz bei Kindern, Mittelmaß in der Forschung, Chaos um die Universitätskliniken, verdaddelte Krankenhausreform, zu wenige Exzellenz Cluster und Graduiertenzentren, Durchsetzung des Nachtflugverbots, Chaosjahre bei Hessen Mobil, Gebührendumping für Ryanair und Co, konzeptlose Flüchtlingsunterbringung, verfehlte Klimaziele, De-facto-Einstellung des geförderten Wohnungsbaus, lange Wege für Pendler. Massig Aufgaben um auf Landesebene Profil zu zeigen, um mit Inhalten zu polarisieren, um Alternativen anzubieten. Vielleicht auch, um zu begeistern.
Der Mut zur Wahrheit, dass Ukraine, Verkehrswende und Klimawandel Wohlstandsverluste bedeuten, fehlt in der Bestandsaufnahme der etablierten Parteien. Stattdessen: Inhaltsleere und ein personelles Ausbluten. In Hessen lassen sich die politischen Konzepte von links bis weit in die rechte Mitte in ihrer Beliebigkeit kaum noch unterscheiden. Da kollabiert selbst der Wahl-O-Mat mit all seiner künstlichen Intelligenz. Die Parteien scheinen in Wiesbaden das Ringen um Menschen und ihre Überzeugungen aufgegeben zu haben. Die neue Währung sind Herzchen und Likes auf belanglosen Pics in den Blasen der Milieus und Subkulturen auf Facebook & Co.
Schwarze Löcher im All, Milliarden von Kilometern entfernt, mögen unschädlich sein. In politischen Programmen hier auf der Erde sind sie brandgefährlich. Sie laden radikale Parteien von rechts ein, mit simplen Parolen und einfachen Rezepten die Lücken zu füllen. Auch und gerade deshalb müssen die Demokraten wieder Wahlkampf machen. Hart in der Debatte, wenn es sein muss, auch mit Widerspruch und Streit. Hauptsache: Kampagnen mit Profil und Alternativen.
Autor Matthias Müller war Pressesprecher der Stadt Offenbach. 1985 noch als Fraktionsgeschäftsführer verantwortete er einen Kommunalwahlkampf, den die SPD in Offenbach gegen den Landestrend gewann. Mit einfachen Botschaften. Information statt Marketing, Klarheit und unbequeme Wahrheiten bestimmten später auch bei Oberbürgermeister Gerhard Grandke seine Kommunikation über den Kurs für den Umbau der Stadt und ihre Neupositionierung. Seit dem Rentenalter unterstützt Müller gelegentlich das Team um OB Felix Schwenke, das diesen vor Wahlen unterstützt.
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